Germania. Jaargang 4
(1901-1902)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Die deutsche und niederländische Dichtung im 16. und 17. Jahrhundert
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des 16. bis 18. Jahrhunderts voranging, hatte mit den älteren litterarischen Formen, soweit sie ihm nicht entsprachenGa naar eindnoot7, schon gründlich aufgeräumt. Fand in dieser Hinsicht das 16. Jahrhundert, so sehr es nach anderen Seiten hin die litterarische Ueberlieferung fortsetzte, bereits ziemlich reinen TischGa naar eindnoot8 vor, so begann es andererseits mit einer ausserordentlichen Erweiterung der litterarisch-sprachlichen Grundlage. Man weiss, welchen grossen Momenten sie verdankt wurde: von dem zunehmenden Geschäftsverkehr des späteren Mittelalters, mochte er nun wirtschaftlichen Charakters sein und tausend wirreGa naar eindnoot9 Fäden dicht verflochten von Stammesgebiet zu Stammesgebiet ziehen, oder aber politischen Charakter haben und von der Kaiserlichen Kanzlei erst der Luxemburger, dann der Habsburger her einer Gemeinsprache zudrängenGa naar eindnoot10, war die langsame Entwicklung der Grundlagen der Neuhochdeutschen ausgegangen: und diese Grundlage war dann ausgebaut worden durch den gewaltigen Aufschwung der litterarischen ThätigkeitGa naar eindnoot11 der Reformationsjahre, vor Allem durch die Sprache Luthers. Von nun ab war kein Zweifel mehr, dass es eine allgemeine litterarische Sprache der Deutschen gab und dass diese Sprache die hochdeutsche war: nur wenig ist in der folgenden Jahrhunderten dialektisch, am meisten noch niederdeutsch, aber auch auf diesem Gebiete an sich fast nur GeringfügigesGa naar eindnoot12 gedichtet worden. Es war eine Einheitsbewegung, an der ganz Deutschlandtheilnahm, mochte es politisch zum Reiche gehören oder nicht: freilich mit einer schwerwiegenden AusnahmeGa naar eindnoot13, der der niederländischen Provinzen. Die AbtrennungGa naar eindnoot14 des Niederländischen schien schon durch die politischen SchicksaleGa naar eindnoot15 der Vlamen und Holländer während des 14. und 15. Jahrhunderts eingeleitet zu sein, besiegelt wurde sie aber erst im 16. und 17. Jahrhundert. Denn das ist das tragische Schicksal dieser Lande, dass sie in den Zeiten, da sie | |
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dem grossen Vaterlande noch einmal besonders viel warenGa naar eindnoot16, gerade durch diese überragendeGa naar eindnoot17 Stellung von ihm abgedrängt und zu kleinerer Entwickelung in engen Verhältnissen gezwungen worden sind. Im 16. Jahrhundert konnte das Niederländische noch immer als Dialekt gelten, - wie es denn noch während des 17. Jahrhunderts im Reiche als vom Deutschen nicht eigentlich geschieden empfunden wurde -: in Anna Bijns Refereinen oder Marnix' Bijekorf ist die Sprache zwar malerischGa naar eindnoot18, aber noch gemein. Die Staatenbibel dagegen (1626-1637) und vorher einleitend wie gleichzeitig belebend die grossen Gelehrten, Dichter und Philosophen, ein Stevin, Hooft, Cats, Vondel, Huygens haben das Niederländische des 17. Jahrhunderts völlig zu einer besonderen Schriftsprache entwickelt und damit vom Neuhochdeutschen endgiltigGa naar eindnoot19 gelöstGa naar eindnoot20. Dabei war StolzGa naar eindnoot21 auf die eigene Sprache in den Niederlanden theilweis schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts deutlich vorhanden; der Mediziner BecanusGa naar voetnoot(1) zum Beispiel war damals schon von der Schönheit und Eigenthümlichkeit des Vlamischen so durchdrungen, dass er in seinen Origines Antverpianae (1569) behauptete, Adam und Eva hätten im Paradies gewiss vlamisch miteinander geplaudert. Für die Entwickelung der gemeindeutschen Litteratur aber ergiebt sich aus dieser Abtrennung des Niederländischen, dass sie für das 16. und 17. Jahrhundert in zwei Strömen dahinfloss, dem binnendeutschen und demjenigen Hollands. Dem muss auch der Lauf unserer Erzählung folgen, um so mehr, als die niederländische Litteratur das, was ihr an Verbreitungsgebiet gegenüber der binnendeutschen vielleicht fehlte, vollauf durch die Folgerichtigkeit und die innere Bedeutung ihrer Entwickelung auch für die weitere Geschichte der binnendeutschen Litteratur ersetzt hatGa naar eindnoot22. | |
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Im inneren Deutschland verlief die litterarische Entwickelung von der Reformation bis zum dreissigjährigen Kriege im Grunde vor Allem im Ausbau derjenigen Richtungen der spätmittelalterlichen Litteratur, in denen schon früher der VersuchGa naar eindnoot23 energischerer Wiedergabe menschlicher Charktere gemacht worden war, im Ausbau mitihnGa naar eindnoot24 der alten Neigungen auf eine encyclopädische Satire und auf ein urwüchsigesGa naar eindnoot25 Drama. Dabei trat allmählig die noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorhandene Tendenz zu polemischer Haltung, wie sie die streitbaren Jahrzehnte der Reformation besonders befördert hatten, zurück, und an der Stelle der polemischen Satire auf alle oder einige Stände entfaltete sich der SchwankGa naar eindnoot26, wie an Stelle des ebenfalls gelegentlich gepflegten Tendenzdramas das tendenzlose Schauspiel. Ehe sich indess diese Richtungen zu vollerer Bildung entwickelten, gelangten noch einige litterarische GattungenGa naar eindnoot27 zur Blüthe, die theil dem Gesammtempfinden der Zeit nach sozialer wie religiöser Seite hin Ausdruck gaben, theils sich in weniger ausgesprochener Form, vielfach mit der Pflege fremder Anschauungen und Neigungen vermischt, der Personalcharakteristik zuwandten. Zunächst gingen aus dem alten Volkslied das Gesellschaftslied und das Kirchenlied hervor. Im Gesellschaftslied verschmolzen alte, theilweis noch auf das Denken und Empfinden des symbolischen ZeitaltersGa naar eindnoot28 zurückreichende Ueberlieferungen mit dem Denken und den AnforderungenGa naar eindnoot29 vornehmlich des Bürgerthums, und indem jetzt zum Lied die kunstgemässe, theils harmonisirte theils kontrapunktisch behandelte Melodie und mit ihr sehr bald fremder, vornehmlich italienischer Einfluss hinzutrat, entstanden seltsame Mischformen, in denen das alte Gold des Volksmässi- | |
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genGa naar eindnoot30 nur hier und da noch hervorschimmert. Demgegenüber fand dann die Entwickelung des Volksliedes eine andere StätteGa naar eindnoot31, auf der es sich ganz selbst verblieb und dennoch den grossen Tendenzen des 16. Jahrhunderts vermählteGa naar eindnoot32, sodass es zu nie erreichter Höhe und Reinheit erwachsen konnte: die Kirche. Das deutsche Kirchenlied ist keine Schöpfung der Reformation. Aber das reformatorische Kirchenlied, wie es mit den erhabenenGa naar eindnoot33 Schöpfungen Luthers aus dem Jahre 1523 und 1524 begann und bald darauf mit ‘Eine feste Burg ist unser Gott’ seine Höhe eireichte, ist von dem mittelalterlichen Kirchenlied selbst da, wo es sich ihm anschliesst, dennoch innerlich verschieden. Das mittelalterliche Kirchenlied war Kultuslied, Begleitgesang zumeist zu Handlungen des Klerus, Beiwerk einer hierarchischen Kirche; das reformatorische Kirchenlied wurde immer mehr zu einem Hauptstück des Gottesdienstes und stand unter dem Schutze des allgemeinen Priesterthums der Gemeinde. So gewann es an Ernst und Würde; ein heiliger SchauerGa naar eindnoot34 weht aus seinen Texten, und ein männlicher Ton ist ihm eigen, auch wo es frolocktGa naar eindnoot35. Und was die Gemeinde vor Gottes Angesicht bringen kann, das umfasst es auch: die ganze StufenleiterGa naar eindnoot36 religiöser und sittlicher Gemeingefühle. Erst mit dem Ende des 16. Jahrhunderts beginnt sich dieser Ton des Kirchenliedes zu ändern. Die Dichtungen unterliegenGa naar eindnoot37 nunmehr der UmgestaltungGa naar eindnoot38 der Empfindung ins Individuelle. Schon vorher hatte es namentlich Sterbelieder gegeben, deren Ton nicht mehr der objektive des aller persönlicher Empfindung entäussertenGa naar eindnoot39 Gemeindebekennens war. Jetzt wird der Ton ganz allgemein Individueller; die Zahl der Dichter mehrt sich und findet die Formen kindlich-persönlicher Sprache; weichere Tönen verdrängen das Rauhe, Knorrige, Herbe von ehedemGa naar eindnoot40: und schon erscheint statt des erhabenen Christus das | |
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süsse Jesulein. Es ist die Wendung zum Pietismus, zur Reaktion gegen die einseitige Verstandesseligkeit des Zeitalters. Inzwischen aber hatte der auftrennendeGa naar eindnoot41 Verstand die nationale Phantasie bereits in eine bestimmte Richtung, auf die intensivere Erfassung vor Allem der fremden menschlichen Charaktere verwiesen. Es war eine Richtung, die auch in epischen Formen in der Fortbildung der alten RitterepenGa naar eindnoot42 in's Romanhafte, ihre GenügeGa naar eindnoot42a finden konnte und in diesem Sinne lange Zeit hindurch durch den Import fremder litterarischer ErzeugnisseGa naar eindnoot43 befriedigt ward. Bis zu einem gewissen Grade hatten in dieser Richtung schon die Volksbücher des 15. Jahrhunderts leiseGa naar eindnoot44 gewirkt; noch mehr aber thaten das jetzt, im 16. Jahrhundert, die ersten Romane, die zunächst von Frankreich her eingeführt wurden. Da wanderten Anfangs, in den Jahren 1533-1539, Der Riese Fierabras, Die vier Haimonskinder, Der Kaiser Octavianus, Die schöne Magelone und Ritter Galmy über den Rhein und fanden mit ihren rührenden Erzählungen von Krieg und Kampf, von VerleumdungGa naar eindnoot45 und gerechtfertigter Unschuld, von Trennung und von Wiedersehen die Herzen vor Allem der adligen Kreise. Die Wirkung aber dieser und ähnlicher Romane wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch eine neue Einfuhr übertroffen, von der dem deutschen Adel schon das französische Gesellschaftsideal des homme du monde näher gelegt ward; neben Anderem brachte sie die höchst fesselndeGa naar eindnoot46, durch Belehrung und Moralisation nützlich durchbrochene Geschichte des berühmten Helden Amadis, die immer und immer wieder aufgelegt46a und vermehrt bis weit über-das 16. Jahrhundert hinaus Lieblingslektüre der höheren Kreise geblieben ist. Und diesen Einflüssen folgte dann nochmals um das Jahr 1600 ein letzter, grösster und entscheidender Einfall französischer Romane über Mömpelgard und Strassburg und nun auch schon spanischer Romane über München: er hat geradezu ein Anschwellen des | |
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deutschen Buchhandels bewirkt. Mit ihm traten neben die alten Heldenstoffe nun auch schon Schelmenstücke und Schäferromane: die einfache, wenn auch noch heroisch gedachte BetrachtungGa naar eindnoot47 der Welt gabelteGa naar eindnoot48 sich jetzt in eine viel intensivere, naturalistisch-sarkastische und eine konventionell gehaltene idealistische Auffassung zu. Aber die fremde Einfuhr hatte unterdess in Deutschland auch schon eine zweite Wirkung ins Schöpferische gehabt: man hatte nachzuahmenGa naar eindnoot49 begonnen. Freilich zeichte sich dabei, dass das deutsche Seelenleben wohl für eine Aufnahme der fremden, übrigens auch noch ausserordentlich rohen Lebenscharakteristik, wie sie die Romane gaben, empfänglich, dagegen für die freie ErzeugungGa naar eindnoot50 der erforderlichen, lang hingezogenen, liebevoll in's ZuständlicheGa naar eindnoot51 eintretenden Charakteristik noch nicht reif war. Die deutschen Nachahmungen sind roh und ungeschlachtGa naar eindnoot52; erst der Verlauf des 17. Jahrhunderts brachte uns wahrhaft bedeutende Romane; und die Versuche zur intimeren Widerspiegelung des Menschendaseins, die in diesen gemacht werden, fanden während des 16. Jahrhunderts ihre Vorläufer nicht so sehr im Roman als im Schwank und im Drama. Drama und Schwank müssen hier zusammen genannt werden, denn sie sind als besondere Lichtungsarten kaum erschöpfendGa naar eindnoot53 zu trennenGa naar eindnoot54. Bei beiden nimmt der Inhalt die Richtung vorwiegend auf's Satirische und bei freierer Auffassung auf's Komische und Burleske; bei beiden findet sich derselbe verstandesmässig lehrhafte ZugGa naar eindnoot55; in beiden nähert sich die gegenseitige Formgebung bis fast zum Verwischen der Grenzen: denn der Schwank kann eine Neigung zum Dramatischen haben, die unmittelbar in die Dialogisirung hineinführt; und das Drama lässt fast noch niemals die älteren epischen Elemente vermissen. Sind so die gemeinsamen Wurzeln beider Kunstformen ebenso wenig zu verkennen, wie ihr übereinstimmendes ZielGa naar eindnoot56, das Streben nach | |
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schärferer Charakteristik, so liegt es gleichwohlGa naar eindnoot57 in der Natur der Sache dass sie, äusserlich doch immerhin getrennt, verschiedene Schicksale gehabt haben: der Schwank, eine Kunstform, die sich schliesslich mit geringerer Tiefe der Charakteristik begnügt, fand im 16. Jahrhundert seine Vollendung, das Drama erreichte kaum eine erste StufeGa naar eindnoot58 künftiger Blüthe. Ausgegangen ist die Schwanklitteratur, so wie sie uns in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in kurzen pointirten Erzählungen verschiedenartigsten Inhalts entgegentritt, vornehmlich vom Klerus; die Wundergespräche des frommen Kölner Patriziersohnes der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und Novizenmeisters des Klosters Heisterbach im Siebengebirge, Caesarius können als die erste grosse lateinische Schwanksammlung von freilich ganz bestimmter geistlicher Tendenz gelten. Aus dem Munde des Klerus drangen die Geschichten dann in die Predigt, theils als Parabel, theils ganz einfach als Unterhaltungsmittel; auf diesem Gebiete erhielten sie sich durch alle Leistungen der grossen mittelalterlichen Volksprediger hindurch bis auf Geiler von Kaisersberg († 1510), den gewaltigen Strassburger Kanzelredner, ja darüber hinaus bis auf den schwäbisch derben Wiener Prediger Abraham a Sancta Clara († 1709), diesen wunderlichen, im Grunde doch recht ernsten Geist des 16. Jahrhunderts im siebzehnten. Aber inzwischen hatte das 16. Jahrhundert die Schätze der Ueberlieferung zu sichten und zu säubern begonnen. An der Spitze einer dahin gewendeten Thätigkeit steht ein später Nachfolger des Caesarius, der elsässische Franziskanerbruder Johannes Pauli mit einer Sammlung, die er im Jahre 1510 unter dem Titel ‘Schimpf und Ernst’ abschloss. Paulis Büchlein trägt noch halbwegs klerikalenGa naar eindnoot59 Charakter, hat noch die grösste Vorliebe für Zauberstücklein und Wunder, diese schlimmsten Feinde aller eingehenderen Charakteristik, erzählt weiter noch gern | |
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ohne Pointe und strebtGa naar eindnoot60 noch Erziehung guter und Besserung sündiger Seelen an. Demgegenüber sind die Sammlungen, die seit dem Rollwagenbüchlein Jörg Wickrams, auch eines Elsässers, vom Jahre 1555 erschienen, fast ohne Ausnahme der reinen Unterhaltung gewidmet. Wickrams Werkchen selbst, ein Buch von Geschichten, die sich Reisende zum Zeitvertreib auf dem Rollwagen erzählen können, kann als Typus der GattungGa naar eindnoot61 gelten. Es ist vor Allem ganz laienhaftGa naar eindnoot62, wenn es auch das haec fabula docet am Schlusse weniger Geschichten vermissen lässt; und es ist pointirt. Das Wunderbare findet sich wohl auch noch; aber es wird herzhaft angegriffen, wie man sich denn zu dieser Zeit in zunehmenden Fluchen dem Teufel mehr kordial und gemüthlich näherte; und auch die Heiligen werden nicht mit schlechten WitzenGa naar eindnoot63 verschont, ja, nicht wenige Geschichten sind nach unseren Begriffen geradezu blasphemisch. Doch ist das nicht so schlimm gemeint: denn auf weltlichem Gebiete ist der GrundzugGa naar eindnoot64 des Büchleins zweifelsohneGa naar eindnoot65 eine biedereGa naar eindnoot66, dem Frivolen ferne, dem DerbenGa naar eindnoot67, mehr als nahe Rohheit; die berühmten Heiligen des 16. Jahrhunderts Sanct Grobian und Sanct Schweinhardus haben bei seiner Entstehung GevatterGa naar eindnoot68 gestanden. Eben das aber war's, was das Publikum zunächst erfreute; eine verwandte Litteratur schwoll gewaltig empor; auf die acht elsässer, Leipziger, hessischen Sammlungen, die in acht Jahren von 1555 bis 1563 erschienen, folgte eine FülleGa naar eindnoot69 weiterer, namentlich solcher, die sich um eine Person als Mittelpunkt gruppirten, etwa den Hofnarren Kurfürst Johann Friedrichs von Sachsen Claus oder den Doctor Faustus: bis die ganze Gruppe mit der 1597 gedruckten Sammlung der Schildbürgerstücklein der Hauptsache nach ihren Abschluss fandGa naar eindnoot70. Inzwischen aber hatte der Schwank seinen klassischen Vollender in Hans Sachs gefunden. Hans Sachs, der 1576 im einundachtzigsten Lebensjahre starb, hatte bis zum Neujahrs- | |
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tage 1567 nach eigner Rechnung, die er um diese Zeit hübsch poetisch aufmachte, 6170 Gedichte gemacht, ‘ohne die, so waren kurz und klein, die ich nicht hätt' geschrieben ein’. Es sind unter Brüdern ein halbe Million Verse. Natürlich kann bei solcher Fruchtbarkeit nicht Alles gleich vollendet sein. Der Dichter, wohl ohne Zweifel das grösste rein poetische Talent seiner Zeit, hat das Recht, nur nach dem Besseren beurtheilt zu werden, das er geschaffen hat. Und da ergiebt sich, dass sich in dieser Frohnatür das Weltbild des 16. Jahrhunderts in vergnüglichster Anschaulichkeit widerspiegelte: nicht ohne Grund hat Goethe in dem poetischen SchusterGa naar eindnoot71 wesentliche Züge seines Wesens wiedergefunden und für sein Andenken gesorgt. Es ist dieselbe unmittelbare GegenständlichkeitGa naar eindnoot72 der Anschauung, nur ohne das tiefe psychologische Eindringen des Dichterfürsten. Denn so sehr Sachs die gegebenen Stoffe, die er zumeist ihrem Thatsacheninhalt nach blos reproducirte, über die Ueberlieferung hinaus zu freierer, bilderreicher Abrundung emporzuhebenGa naar eindnoot73 pflegte, so bleibt er doch in der Charkteristik noch die ZügeGa naar eindnoot74 schuldig, die nur mittelbar, nicht blos zur direkten Motivirung der einzelnen Handlung beizutragen im Stande sein würden. Hans Sachs zählt unter seinen Werken auch 208 fröhliche Komödien, traurige Tragödien und lustige Spiele auf: unendlich reich war er also auch als Dramatiker; es wird davon noch weiter die Rede sein. Daneben hat er als ChorführerGa naar eindnoot75 der bürgerlichen EmpfindungenGa naar eindnoot76 auch zahlreiche Sprüche und geistliche Lieder, Liebeslieder und GassenhauerGa naar eindnoot77 und anderes gedichtet; und vor Allem ist er, wie einstens Herr Walther von der Vogelweide in ritterlicher Zeit, so nun unter Bürgern ein ernster, politischer Dichter gewesen: sein Gedicht wider den blutdürstigen Türken vom Jahre 1532, seine Klagerede ob der Leiche Doctor Luthers sind gewaltige LeistungenGa naar eindnoot78 dieser Art, vor Allem aber | |
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sein Lied über die wittenbergische Nachtigall vom Jahre 1523, das wie ein letztes Sagelied der Vorzeit, wenn auch mit lehrhaftem ZugGa naar eindnoot79, allem Volk Entstehung und Art der Reformation kündet. Aber recht eigentlich war er doch SchwankdichterGa naar eindnoot80. Hier wird er nicht müde zu schaffen; seiner reichen Belesenheit entgeht kein geeigneter Stoff, mochte er der antiken Litteratur, oder der Bibel, oder den italienischen Novellisten, oder heimischen und fremden Chroniken, Volksbüchern und älteren Schwank-sammlungen angehören; er bewältigt Alles und erreicht in seinen besten Stücken die Vollendung. Dabei ist er gerade auf diesem Gebiete recht aus dem Vollen national. Dem Humanismus vor Allem steht er innerlich fern. Er bequemt sich zwar hier und da aus Reimnoth oder besonderer Wirkungen halberGa naar eindnoot81 zu einigen lateinischen Lehnwörtern so merkwürdigen Schlags wie narriren und finiren; er bringt auch antike Götternamen bei; aber das ist so ernst nicht gemeint; die Fremdwörter bleiben seltenGa naar eindnoot82, und die Götter sind nichts als schnöde Allegorien im bekannten Sinne etwa der Erfindungen Kaiser Maxens in seinen Lebensbeschreibungen oder der niederländischen Sinnekens, von denen bald zu reden sein wird: sie entsprechenGa naar eindnoot83 dem allgemeinen allegorisirenden Zuge der Zeit: neben Jupiter und Mercurius tritt auch Respublica und Minerva auf, und alle werden sie Majestäten genannt. National sind auch die Einkleidungsformen der Schwänke, so weit sie Sachs verwendet, und gerade hier zeigt sich der feinsinnige Dichter, mag er sich nun zur Einleitung vor den Wällen seines heissgeliebten Nürnbergs im Grünen spazierendGa naar eindnoot84 oder gleich Hern Walther in gedankenvollem GrübelnGa naar eindnoot85 auf einem Steine sitzend einführen. Dafür ist denn der Vortrag der Schwänke um so persönlicher: frisch und naturwüchsig trotz aller Welterfahrenheit, naiv und harmlosGa naar eindnoot86 in der Kunstform trotz aller Belesenheit, dem Faden gegnerischGa naar eindnoot87, dem DerbenGa naar eindnoot88 feind, von herzlichem Leben und | |
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schalkhaftem Humor und vor Allem ganz Anschauung und Bild: so tritt der Dichter vor uns hin und spricht in nie versagenden Fluss des Reims und der Rede. Aus diesem Geiste hat er vor Allem die prächtigen Schwänke der fünfziger und sechziger Jahre seines Lebens, in Zeiten eines heiterenGa naar eindnoot89, lebensklugenGa naar eindnoot90 Optimismus geschaffen, und in diesem Zusammenhang hat er dem feineren Schwanke selbst eine Anzahl von Geschichten zu gewinnen gewusst, deren VerfänglichkeitGa naar eindnoot91 das auszuschliessen schien, und vor Allem die höchste ErrungenschaftGa naar eindnoot92 der Schwanklitteratur, den humoristischen biblischen Schwank geschaffen. Wer kennt nicht die gemühtvolle Art, die in den Geschichten von St. Peter waltetGa naar eindnoot93 oder in dem Abenteuer von den ungleichen Kindern Evä? In solchen Stücken nähert sich der Dichter der Vollendung, wie er so behaglich lehrsam und in der Kunst einer naiven Steigerung des Eindrucks munterGa naar eindnoot94 daherschreitet. Wer wird sie und einige andere Stücke, etwa die Mär von dem ‘trotzgebarigen’ Mönche zu Regensburg im Baierland und seinem Wasserkrug lesen ohne die Empfindung, dass er hier auf den Höhen einer litterarischen Gattung wandle? Inzwischen aber kündigte sich eine merkwürdige und verheissungsvolleGa naar eindnoot95 Veränderung und Erweiterung des Schwankes an; es schien, als sollte der Weg zum satirischen, komischen, grotesken Epos genommen werden. Es wäre eine Wendung durchaus im Sinne einer Zeit gewesen, deren in's scheinbar Ungeheure erweiterter Horizont die Geister frei machte und die Seelen gross, der den Massstab der Dinge ausserhalb und innerhalb des Menschen so verschob, dass dem satirischen Lachen ebenso Raum blieb, wie der humoristischen Thräne und der grotesken Uebertreibung: Ausserordentliches hätte erwartet werden dürfen, hätte die Nation mit gesundem Optimismus in die Zukunft geblickt. (Fortsetzung folgt.) |
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