Germania. Jaargang 4
(1901-1902)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermdVolksthum und Staatsthum
| |
[pagina 80]
| |
mus und Landesverrathes entgegensetzt. Das macht sich in einer Volksversammlung sehr gut, in einer ernsthaften Discussion ist es kein Argument. Denn ganz abgesehenGa naar eindnoot4 davon, dass die Geschichte tausendfach lehrt, dass Staaten nichts Ewiges und Unabänderliches sind, dass Handhingen, die gestern als Hochverrath todeswürdig waren, heute im Rahmen eines neuen Staatgebildes lobens- und preisenswerth sind, zeigt doch auch die österreichische Geschichte der letzten Jahrzehnte eine Reihe von weittragenden Veränderungen der StaatsverfassungGa naar eindnoot5, die auf legalem Wege erreicht, jederzeit noch weiter verändert werden können. Die Ausführung des Linzer Programmes würde noch lange nicht einen so tiefen Eingriff in die Staatsverfassung Oesterreichs bedeuten, wie seinerzeit die Durchführung der dualistischen Verfassung, und selbst die Einverleibung Deutschösterreichs als Bundesstaat ins Deutsche Reich würde doch nur einen Zustand wieder herstellen, der, wenn auch in anderer Form, bis vor 35 Jahren noch bestanden hat. Es war sehr erfreulich, dass anlässlich der bekannten programmatischen Erklärung Schönerers ein österreichisches Gericht sich zu der allein vernünftigenGa naar eindnoot6 Auffassung dieser Frage bekannt und dadurch eine offene Erörterung derselben ermöglicht hat; wenn eine solche gerade in deutschnationalen Kreisen möglichst nachdrücklich und gründlich geschieht, so könnte gerade der österreichische Staat in erster Linie davon Vortheil haben. Bevor ich das Thema selbst erörtere, zwei Vorbemerkungen: schon aus dem oben Gesagten geht hervor, dass mein Standpunt der einer reinen Volkspolitik ist, dass mir Votksthum weit über Staatsthum steht, dass ich im Staat nur das Mittel sehe, um die Macht des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Dieser Standpunkt ist ja auch von den nationalen Parteien in Oesterreich stets betont worden, umso nachdrücklicher, als ein gut Theil der misslichen Lage, in die das Deutschthum in Oesterreich gerathen war, darauf zurückzuführen ist, dass die Deutschen sich der Staatspolitik geopfert und die Volkspolitik dabei vernachlässigt haben. Diese reine Volkspolitik hat mit Recht dazu geführt, den Staat nur insoweit zu schätzen, als er im Dienste der Volkswohlfahrt steht, was ja bekanntlich mit dem österreichischen Staat gegenüber dem deutschen Volke in den letzten zwanzig Jahren nicht der Fall war. Diese Erfahrung hat aber auch - und diese Seite ist vielleicht weniger beachtet worden - die Bedeutung des Staates für eine nationale Politik als minder gross erscheinen lassen, weil eben die Verteidigung der Volksinteressen gegen den Staat erst gezeigtGa naar eindnoot7 hat, welche mächtige Kraft in der breiten Volksmasse, die sich freiwillig zum nationalen Kampfe organisiert, freizumachen ist. | |
[pagina 81]
| |
Eine zweite Bemerkung möchte ich über den Begriff der Realpolitik machen; die Bedeutung dieses Wortes ist von kleinen Geistern unter missbräuchlicher Anrufung der Autorität Bismarcks arg entstellt worden; aus der Politik des Möglichen möchten sie die Politik des ihnen Möglichen, die Politik des leicht Erreichbaren, die Politik von der Hand in den Mund, von heute auf morgen machen. Es fehlt auch in Oesterreich nicht an Propheten dieser Art von ‘Realpolitik’, die die Erreichbarkeit der Dinge nur im Rahmen eines gerade am Ruder befindlichen Ministeriums oder einer bestimmten parlamentarischen Constellation zu beurtheilen pflegen. Ist eine Forderung im Interesse des Volkes und glaubt die Partei, die sie aufstellt, sie durchführen zu können, sei es selbst nur mit den radicalsten Mitteln, wenn ihr die Staatsmacht zur Verfügung gestellt wird, so ist diese Forderung auch realpolitisch; das ist z. B. das Verlangen nach der deutschen Staatssprache und nach der SonderstellungGa naar eindnoot8 Galiziens, mag nun die Verwirklichung nahe oder ferne liegen. Hingegen halte ich jede Politik für utopistisch (was ich als Gegensatz zu realpolitisch, dem Worte idealpolitisch vorziehenGa naar eindnoot9 möchte), die für die Verwirklichung ihrer ZieleGa naar eindnoot10 mit VoraussetzungenGa naar eindnoot11 rechnet, die gegenwärtig nicht gegeben sind, deren, Verwirklichung nicht vorauszusehen ist und - was das wichtigste ist - für deren Verwirklichung der betreffenden Partei irgendwie zu wirken gar nicht möglich ist. In diesem Sinne würde ich jede Politik einer deutschnationalen Partei in Oesterreich für utopistisch halten, die als Voraussetzung ihrer Politik eine bestimmte europäische Lage, deren EintrittGa naar eindnoot12 ganz ungewiss ist, oder bestimmte politische Verhältnisse im Deutschen Reiche annimmt, die gegenwärtig nicht vorhanden sind, in absehbarer Zeit nicht eintreten werden und zu deren Herbeiführung die betreffende Partei irgend etwas zu thun nicht in der Lage ist. Eine solche Politik würde der Betrachtung eines schönen Bildes gleichen, das uns zwar recht angenehme Gefühle erweckt, zu irgend einer Handlung aber durchaus nicht veranlasst. Politik und That gehört aber untrennbarGa naar eindnoot13 zusammen. Im alten deutschen Bunde seligen Andenkens verbrauchten sich die Kräfte, die der Theorie nach zusammen zu wirken berufen waren, im Kampfe gegenseitiger Rivalität, so dass eine Macht nach aussen dabei nicht herauskam, beziehungsweise nur in dem bestand, was die einzelnen Staaten, in erster Linie Preussen und Oesterreich, selbständig aufzubringen vermochten. Erst nachdem im Jahre 1866 der Krieg den Streit zwischen Preussen und Oesterreich entschieden hatte, bedeuteten im Norddeutschen Bund und später im Deutschen Reich die Kleinstaaten wirklich einen Machtzuwachs für die preussisch-deutsche Politik. Aber schon im Augenblicke der Trennung hatte Bismarck das Ziel, das Deutschthum Oesterreichs gleichfalls in den Dienst | |
[pagina 82]
| |
einer Politik des gesammten deutschen Volkes zu stellen, und er setzte, wie bekannt, unter Ueberwindung grosser Schwierigkeiten im Jahre 1866 Friedensbedingungen durch, die eine baldige vollständige Aussöhnung ermöglichen sollten. Dieses Ziel Bismarcks fand im deutsch-österreichischen Bündnis seinen Ausdruck; Bismarck begnügte sich dabei mit dem Erreichbaren, er hat aber selbst bekannt, dass er eigentlich mehr erstrebt und ihm ein in den VerfassungenGa naar eindnoot14 festgelegtes, also gewissermassen ‘ewiges’ Bündnis vorgeschwebt habe. Dass in diesem Bündnis Bismarck die Deutschen Oesterreichs zur thätigen Mitarbeit an einer Politik des ganzen deutschen Volkes heranziehen wollte, steht ausser Zweifel, denn er sah in der Erhaltung der Vormachtstellung der Deutschen in Oesterreich die unerlässliche Voraussetzung für den dauernden Bestand desselben. Gerade diese Grundbedingung ist durch die politische Entwicklung Oesterreichs in den letzten 20 Jaren in Frage gestellt worden, indem die Deutschen aus der führenden Stellung im Staate, die ihnen ihrer Cultur und Geschichte nach zukommt, verdrängt worden sind. Bildet nun aber zum mindesten die Erhaltung des deutschen Volksthums die erste und nöthigste Voraussetzung seiner Wirksamkeit in dem ihm von Bismarck zugedachten Sinne und mussten die Deutschen Oesterreichs nun sehen, wie geradeGa naar eindnoot15 die durch das Bündnis gewährte Deckung von der österreichischen Regierung ausgenützt wurde, um das Deutschthum zu unterdrücken, so liegt naturgemässGa naar eindnoot16 der Schluss nahe, dass die jetzige Form der Verbindung zwischen dem Deutschen Reiche und Oesterreich in keiner Weise den Belangen des gesammten deutschen Volkes dient. Unter diesen Umständen hat die bereits im Linzer Programm aufgestellte Forderung nach einer verfassungsmässigenGa naar eindnoot17 Festlegung des deutsch-österreichischen Bündnisses an Bedeutung für die Deutschen Oesterreichs immer mehr gewonnen. Rein theoretisch betrachtetGa naar eindnoot18, würde nun zwar allerdings die Erfüllung dieser Forderung nicht notwendig eine Aenderung der Stellung der Deutschen in Oesterreich einbegreifen; es liesse sich ausdenken, dass unbeschadetGa naar eindnoot19 einer solchen verfassungsmässigen Festlegung doch eine Regierung ganz dieselben deutschfeindlichen Massregeln ergreiftGa naar eindnoot20, oder dass ein österreichisches Parlament ebenso in die Rechte der Deutschen eingreifende Gesetze beschliesst, wie in den letzten zwanzig Jahren. Wenn nun aber auch die genaueste Analyse einer derartigen Festlegung des Bündnisses nichts ergeben würde, woraus sich eine bestimmte Stellung der Deutschen im Staate ableiten liesse, so würde doch bei dem Umstande, dass die deutschfeindlichen, slavischen Parteien Oesterreichs ihren Deutschenhass auch auf das Deutsche Reich ausdehnenGa naar eindnoot21 und das Oesterreich ihrer SehnsuchtGa naar eindnoot22 natürlich in den | |
[pagina 83]
| |
Dienst einer panslavischen Politik stellen wollen, die Thatsache allein, dass dieser Schritt durchgeführt werden konnte, beweisen, dass die Deutschen wieder das SteuerGa naar eindnoot23 des Staates in ihre Hände bekommen haben, und dass kaum eine Hoffnung besteht, ihnen dasselbe zu entwindenGa naar eindnoot24. In der That lässt sich nicht denken, dass eine verfassungsmässige Festlegung des Bündnisses durchführbar wäre, ohne dass die anderen wichtigsten Forderungen des Linzer Programms, wie die deutsche Staatssprache, Sonderstellung Galiziens, Zollunion mit dem Deutschen Reiche bereits erfüllt wären. Es lässt sich annehmen, dass eine solche Wendung auch von den officiellen Kreisen des Deutschen Reiches freudig begrüsst werde und von dieser Seite dem Verlangen, das Bündnis verfassungsgemäss festzulegen, gerne entsprochenGa naar eindnoot25 werden würde. Anders liegt aber die Sache einer Weitergehenden Forderung, wie die, dass Deutsch-österreich als Bundesstaat in das Deutsche Reich aufgenommen werden sollte, gegenüber, und es geht nicht an, dieselbe zu erhebenGa naar eindnoot26, ohne sich aufs genaueste von den politischen Verhältnissen des Deutschen Reiches und den für dasselbe sich hieraus ergebenden Consequenzen Rechenschaft zu geben. Diese Forderung ist verschiedentlich von Schönerer und den ihm nächststehenden Politikern in der Presse erhobenGa naar eindnoot27 worden, und da die programmatische Erklärung Schönerers, die die Grundlage für die Alldeutsche Vereinigung im Reichstag gab, doch nur als eine Erweiterung des Linzer Programmes aufgefasst werden kann, muss man annehmen, dass der etwas unklare Satz von dem ‘bundesrechtlichen Verhältnisse zum Deutschen Reich’ im Sinne derselben gedeutet werden muss. Dieses Postulat entspringt einerseits dem Wunsche nach dem nationalen Einheitsstaate und ist im gewissen Sinne die Fortsetzung jener Bestrebungen, die zur Schaffung des Deutschen Reiches geführt haben. Die Frage, ob und bei welcher politischen Lage sich dieser Gedanke verwirklichen liesse, lasse ich ganz bei Seite; bei dem Umstande, dass die Ersetzung der dualistischen Verfassung zwischen Oesterreich und Ungarn durch die Personalunion kaum mehr ist als eine Frage der Zeit, und da ferner durch den Eintritt der ehemaligen deutschen Bundesländer in das Deutsche Reich nur ein Verhältnis eine Erneuerung erführeGa naar eindnoot28, das bis vor 35 Jahren, wenn auch in anderer Form, zu RechtGa naar eindnoot29 bestand, ist die Erreichung dieses Zieles auf friedlichem Wege wohl möglich, ja, man könnte sich sogar LagenGa naar eindnoot30 denken, in denen die Dynastie eine derartige Lösung anstrebenGa naar eindnoot31 könnte, die ihrem Besitzstande eine Garantie durch das mächtigste und stärkste Heer der Welt geben würde. Aber nicht darauf kommt es in erster Linie an, sondernGa naar eindnoot32 darauf, ob bei den politischen und wirtschaftlichen Zuständen Deutschösterreichs einer-, des Deutschen Reichs anderseits die Durchführung dieses Programmes im Inte- | |
[pagina 8[4]]
| |
resse des deutschen Volkes lägeGa naar eindnoot32a. Wenn wir dies untersuchen, so können wir hierbei nicht von Zuständen ausgehen, wie sie vielleicht wünschenswert wären, wie sie einmal sein könnten oder sollten, sondern davon wie sie gegenwärtig sind, und nach aller Voraussicht in den nächsten 20 bis 30 Jahren sein werden. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass bei aller Anerkennung der ZweckmässigkeitGa naar eindnoot33 der bundesstaatlichen Verfassung des Deutschen Reiches und der Selbständigkeit der einzelnen Bundesstaaten eine Erweiterung dieser Selbständigkeit vom Uebel wäre und einer Schwächung des Reiches gleich käme; sollte der Eintritt Deutschösterreichs also nicht eine solche bedeuten, so dürfte dem neuen Bundesstaate eine grössere Selbständigkeit als sie etwa Bayern hat, nicht zugestanden werden. Selbst, wenn man sich eine sehr lange Uebergangszeit für die bestehenden Reichsgesetze gegeben denkt, so wäre doch eine Einrichtung, wie das allgemeine Wahlrecht, fast für alle Zukunft geeignetGa naar eindnoot34 die Stellung des Deutschthums in Oesterreich schwer zu gefährdenGa naar eindnoot35; man stelle sich einmal vor, welches Resultat WahlenGa naar eindnoot36 für den gemeinsamen Reichstag bei allgemeinem Wahlrecht haben würden! Auch Optimisten werden kaum glauben, dass die Majorität der AbgeornetenGa naar eindnoot37 Deutschnationale sein würden. Das ist nur ein Beispiel; der Kernpunkt des GegensatzesGa naar eindnoot38 zwischen dem Deutschen Reich und Deutschösterreich und die daraus erwachsende Verschiedenheit der AufgabenGa naar eindnoot39, die dem deutschen Volke in beiden Ländern zufallen, liegt im Folgenden: das Deutsche Reich hatte und hat zum Theile noch eine Reihe von Schwierigkeiten zu überwinden, die die Folgen eines Jahrhunderte langen, staatlichen Sonderlebens, zum Theile aber auch der natürlichen Besonderheiten der einzelnen, deutschen Stämme sind. Das durch den Zollverein schon vor der Gründung des Reiches gemeinsame Wirtschaftsleben hat diese AufgabeGa naar eindnoot40 wesentlich erleichtert. Eine nationale Politik des Reiches in Bezug auf die Einzelstaaten muss sich das Ziel setzen, dieselben immer mehr zu lebendiger, freiwilliger Mitarbeit heranzuziehenGa naar eindnoot41 an den grossen, gemeinsamen Aufgaben, als da sind: Erhaltung und Stärkung der gemeinsamen Wehrkraft, Förderung des wirtschaftlichen Lebens, Fortschritte in Weltpolitik und Weltwirtschaft, Lösung der socialen Frage in nationalem Sinne. Die brennende Frage einer deutschnationalen Politik in Deutschösterreich: die Nationalitätenfrage spielt aber hier gar keine Rolle. Soweit sie im Deutschen Reich in BezugGa naar eindnoot42 auf Polen und Dänen vorhanden ist, ist sie eine specifisch preussische und die der Franzosen in Lothringen bei der directen Unterstellung des Reichslandes unter den Kaiser eigentlich auch. Nun wird aber niemand leugnen wollen, dass | |
[pagina 85]
| |
zwar auch ein Bundesstaat Deutschösterreich berufen und befähigtGa naar eindnoot42a ware, an den oben genannten Aufgaben einer gesammtdeutschenGa naar eindnoot43 Reichspolitik mitzuwirken, dass aber seine wesentlichste Aufgabe, die Aufgabe, die gewissermassen seiner ganzen Politik ZuschnittGa naar eindnoot44 und Richtung geben müsste, die Auseinandersetzung mit den nichtdeutschen Bewohnern des Staates bilden müsste. Ich will hier gar nicht auf das wieGa naar eindnoot45 eingehen, ob es nothwendig eine gewaltsame Germanisierungspolitik sein müsste oder ob man sich mit der Anerkennung der deutschen Führung im Staate begnügen und das übrige der Zeit überlassen könnte; das eine ist zweifellos, dass hier ein Ziel einer nationalen Politik vorliegt, das mit den Zielen der nationalen Politik im Reiche keine AenlichkeitGa naar eindnoot46 hat; soweit eine solche mit der Polenfrage vorhanden ist, komme ich gleich darauf zu sprechen. Das würde ja nun an und für sichGa naar eindnoot47 nichts ausmachen, man könnte sagen, das vergrösserte Deutsche Reich gewinnt damit eine Aufgabe mehr, und die grosse numerische UeberlegenheitGa naar eindnoot48, die die deutsche Bevölkerung des ganzen Deutschen Reiches gegenüber den österreichischen Slaven hätte, könnte mit diesen natürlich viel leichter fertigGa naar eindnoot49 werden, als die schwache Mehrheit, die die Deutschen in Deutschösterreich allein hätten. Gewiss - unter VoraussetzungenGa naar eindnoot50 aber, die gegenwärtig und in absehbarer Zeit nicht zutreffenGa naar eindnoot51; unter der Voraussetzung, dass das deutsche Volk durchaus national und sich seiner Verantwortung für das Wohl und Wehe des Volksganzen bewusst wäre, und dass es über einen Beamtenstand verfügte, der zur Ausführung einer nationalen Politik befähigtGa naar eindnoot52 ist. Aber weder das eine, noch das andere ist der Fall; ein Spiegelbild des ersteren gibt zweifellos der auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes gewählte Reichstag. Er besitzt eine antinationale Majorität, deren Kern Centrum und Socialdemokratie bildet. Die letztere mag ihren revolutionären Charakter verloren und im Inneren morschGa naar eindnoot53 sein, das eine ist sicher, dass sie immer noch ein weites Feld zur Eroberung vor sich hat, dass sie an Mandaten noch gewinnen wird, und vor allem: dass der nationale ErbeGa naar eindnoot54, der sie ablösen könnte, noch nicht da ist. Der geistvolle Feuilletonist Naumann wird es jedenfalls nicht sein. Das Centrum wird zwar neue Mandate gewiss nicht mehr erobern, wenn man aber gelegentlich seinen baldigen Untergang oder seine SpaltungGa naar eindnoot55 prophezeien hört, so sind das Faseleien. Es wird voraussichtlich in den nächsten Jahren ein Dutzend Mandate verlieren, - aber an die Polen in Schlesien; es wird vielleicht noch mehr Regierungspartei werden, eine nationale Partei in unserem Sinne jedenfalls nie. Dass in Deutschland eine Los von Rom-Bewegung Erfolg haben könnte, wird kein nüchterner BeobachterGa naar eindnoot56 glauben, auch wenn man den geringen numerischen Erfolg in Oesterreich, wo es an nationaler | |
[pagina 86]
| |
Gesinnung doch gewiss nicht fehlt, nicht vor Augen hätte; dazu kommt, dass das protestantische Staatskirchenthum nicht viel EinladendesGa naar eindnoot57 hat. Als den Kern der nationalen Minderheit im Reichstag möchte ich, um mich nicht bei der Aufzählung von Parteien aufzuhalten, kurz die Agrarier bezeichnen, die auch über die grossartigste politische Organisation im Deutschen Reiche verfügen: den Bund der LandwirteGa naar eindnoot58. Damit ist aber auch schon gesagt, dass dieses gutnationale Element vollauf mit der Lösung wirtschaftlicher Lebensfragen beschäftigt ist und erst im Zutsande materieller SättigungGa naar eindnoot59 seine ganze Kraft einer grosszügigenGa naar eindnoot60 nationalen Politik zur VerfügungGa naar eindnoot61 stellen könnte. Wie sehr gegenwärtig der Kampf um materielle Interessen die conservative Partei in Abhängigkeit vom Centrum gebracht hat, sieht man aus dem Beifall, den kürzlich das officielle Parteiorgan, die ‘Conserv. Corresp.’ dem Katholikentage in Osnabrück gespendetGa naar eindnoot62 hat, und aus der bezeichnenden Thatsache, dass auch im vergangenen Winter die Conservativen auf GeheissGa naar eindnoot63 des Centrums im preussischen Budget lumpigeGa naar eindnoot64 6000 Mark gestrichen haben, die für die Erhaltung des altkatholischen Seminars in Bonn eine Lebensfrage sind. Woher soll nun aber eine ErlösungGa naar eindnoot65 aus diesen trostlosen Zuständen kommen? Ich kann sie mir nur dadurch denken, dass der nationale GedankeGa naar eindnoot66 mit weiter gesteckten, alldeutschen Zielen im Mittelstande eine solche Werbekraft bekäme, dass dieser Mittelstand nun seinerseits daran gienge, die breiten Massen für denselben zu gewinnen. So ist es ja in Oesterreich gegangen, aber doch erst, nachdem das Deutschthum direct in seiner Existenz bedrohtGa naar eindnoot67 war, und so wenig ich verkennen will, dass Fortschritte in diesem Sinne im Deutschen Reich zu verzeichnen sind, so sind dieselben doch so gering, dass ich fürchte, dass es auch im Reich einer Katastrophe oder einer schweren BedrängnisGa naar eindnoot68 bedürfenGa naar eindnoot69 wird, um das gleiche Ziel zu erreichen. Der Burenkrieg hat gewiss viel zu einer AufrüttelungGa naar eindnoot70 des nationalen Gefühles in Deutschland beigetragen; seine Ausbeute im Sinne einer thatkräftigen Antheilnahme an unabhängiger nationaler Politik schätze ich sehr gering ein. Wenn ich natürlich auch die Ueberzeugung habe, dass auch im Reiche schliesslich der nationalpolitische Sinn und das Mitverantwortlichkeitsgefühl für die SchicksaleGa naar eindnoot71 der Nation in den breiten VolkschichtenGa naar eindnoot72 erwachen wird, so möchte ich doch nicht wagen, einen Zeitpunkt dafür anzugeben, noch weniger diesen Wechsel auf die Zukunft einem politischen Programme zugrunde zu legen, dessen Verwirklichung heute oder morgen gefordert werden kann. Die Unfähigkeit der deutschen Bureaukratie für die Lösung nationalpolitischer Aufgaben lässt sich kaum besser beleuchtenGa naar eindnoot73, als an dem BeispielGa naar eindnoot74, wo die preussische Bureaukratie vor eine solche Aufgabe gestellt ist: im Kampfe mit den Polen. Ich denke keineswegs gering von der preussischen | |
[pagina 87]
| |
Bureaukratie: sie ist unbestechlichGa naar eindnoot75, pflichteifrig, fleissig; das sind, wenn man zu den Nachbarn im Osten und Westen sieht, hervorragende VorzügeGa naar eindnoot76. Vielleicht sind auch ihre Schattenseiten: der Formalismus, die mangelnde Anpassungsfähigkeit an die Verhältnisse gewissermassen nur die Uebertreibungen ihrer Tugenden. Ein Beamter, der keinen Pfennig auszugeben wagt, ohne die Ausgabe genauestens zu begründen, wird sich auch in seinen sonstigenGa naar eindnoot77 Amtshandlungen von dem vorgeschriebenen Schema nicht leicht entfernen. Für den nationalen Kampf ist das entscheidende die Organisation der Nationalitäten. Ein Beamtenthum, dass allein gegen ein wohlorganisiertes Volksthum kämpft, muss den KürzerenGa naar eindnoot78 ziehen. Die Beamten wären im preussischen Osten die naturgemässen Führer des Deutschen Volksthums; sie hätten dasselbe schon längst organisieren müssen, und sie müssten mitten im Volke stehen, dasselbe berathend, ermunterndGa naar eindnoot79, anfeuernd. Aber davon ist gar keine Rede; der Beamte steht in einer höheren Kaste dem Volke fremd gegenüber, er empfindet eine selbständige Bethätigung desselben in einem Wirkungskreise, den er für sich allein in Anspruch nimmt, als eine Anmassung und UeberhebungGa naar eindnoot80. So konnte es kommen, dass in der Zeit von 1860 - 1890 in Posen das Deutschtum von 46 auf 39 Procent zurückgegangen ist. In den letzten 10 Jahren werden wohl noch ein paar weitere Procente dazugekommen sein. Man nenne mir doch eine Provinz in Oesterreich, wo etwas Aenhliches der Fall gewesen wäre! Man macht vielfach die wechselnde Politik von oben fur diesen Rückgang des Deutschthums verantwortlich, aber man bedenke, dass die ganze Regierung Bismarcks in diese Zeit fällt; und wenn auch Bismarck unter der Last der vielen Aufgaben, die er zu lösen hatte, erst in den letzten 10 Jahren seiner Ministerschaft die Zeit fand, sich eingehenderGa naar eindnoot81 mit der Polenfrage zu befassenGa naar eindnoot82, so hat es gewiss an gesunden AnregungenGa naar eindnoot83 seinerseits nicht gefehlt, aber in der Geheimrathmaschienerie blieb eben alles stecken. Wie oft hat nicht Bismarck selbst darüber geklagt! Er hatte einen ehrlichen Hass gegen den preussischen Bureaukratismus; er übersah und durchschaute ihn. Aber auch er war ohnmächtig gegen ihn; die Gesundung muss eben von unten kommen. Der Bureaukratismus altösterreichischen, centralistischen GeprägesGa naar eindnoot84, der schliesslich heute noch Oesterreich zusammenhält, hat auch recht unerfreulicheGa naar eindnoot85 ZügeGa naar eindnoot86 und mag in seinen Vorzügen an den preussischen nicht herankommen; aber dem Volke steht er doch näher, weil er auch infolge des kleineren Volkswohlstandes und der geringeren socialen GliederungGa naar eindnoot87 mehr aus demselben herausgewachsen ist. Von den beiden Uebeln: der mangelnden nationalpolitischen Reife des deutschen Volkes und der ungenügenden Befähigung der deutschen Bureau- | |
[pagina 88]
| |
kratie für nationalpolitische Aufgaben ist das letztere viel kleiner als das erstere; denn die Bureaukratie würde jederzeit dem Drucke von unten gehorchen müssen, - und wenn erst das deutsche Volk weiss, was es will und was ihm frommtGa naar eindnoot88, so wird es sich schon auch den Beamtenkörper schaffen, den es braucht. Aber gegenwärtig ist er eben nicht da, und jeder, der etwa damit rechnet, dass in einem Deutschösterreich als deutschem Bundesstaate die Deutschen eine mächtige Unterstützung in ihrem nationalen Kampfe erfahren würden, rechnet mit utopischen ZukunftgrössenGa naar eindnoot89. Sie müssten schon froh sein, wenn das Reich sie darin nicht behinderte. Aus diesem Grunde halte ich den Gedanken an ein Deutschösterreich als deutscher Bundesstaat für ein erfreuliches Bild eines politischen Zukunftstraumes, als Inhalt eines politischen Parteiprogrammes aber für einen schweren FehlerGa naar eindnoot90; ich betone nochmals, nicht deshalb, weil ich etwa den österreichischen Staatsgedanken über den deutschen Volksgedanken stelle, sondern gerade weil ich den Volksgedanken: die Sorge für das Wohl des gesammten deutschen Volkes höher stelle als jeden Staatsgedanken, auch den des Einheitsstaates. Die Strategie Napoleons bestand in der Zusammenfassung seiner gesammten Heeresmassen an einen Ort und in einer Hand; aber die Strategie Moltkes, die Heere, wenn nöthig, getrennt operieren zu lassen, steht höher. In einer Zeit, wo die Mitarbeit des Volkes am Staatswohl nur eine passive war, konnte nur ein straff centralisierter Staat Macht nach aussen entfalten: das Preussen Friedrichs des Grossen. Wie sehr jedoch dieser Staat auf die Beherrschung durch einen genialen Fürsten angewiesen war, bewies sein Zusammenbruch bei Jena. Culturell höher steht ein Staat, der sich auf dem Zusammenwirken autonomerGa naar eindnoot91 Glieder aufbaut, wie das Deutsche Reich. Aber das Zusammenwirken der einzelnen Volkstheile lässt sich noch in weiteren Grenzen denken, und es erscheint mir nur eine Zweckmässsigkeitsfrage, wie weit man sie zieht. Aus den oben auseinandergesetzten Gründen: aus der Verschiedenheit der nationalen Aufgaben und den gegebenen Zuständen der politischen Bildung im Deutschen Reich ergibt sich die Nothwendigkeit, die Grenzen soweit zu ziehen, wie dies im Linzer Programm der Fall ist, und über die Forderung eines Schutz- und Trutzbündnisses und einer Zollunion nicht hinauszugehen. Wie die Dinge in 50 Jahren stehen werden, können wir heute nicht wissen, das mag die Sorge unserer EnkelGa naar eindnoot92 sein. Ich habe den Eindruck, dass das Verständnis für diese Sachlage in den deutschnationalen Kreisen Oesterreichs sehr zugenommen hat. Der Gedanke eines möglichst baldigenGa naar eindnoot93 und vollständigen Anschlusses an das Deutsche Reich war zweifellos in den Achtziger-Jahren populärer als heute. Und zwar aus sehr naheliegenden Gründen: Erstens hatten die Deutschen viel weni- | |
[pagina 89]
| |
ger Selbstvertrauen, die Früchte der erst Anfang der Achtziger-Jahre einsetzendenGa naar eindnoot94 nationalen Arbeit waren noch nicht gereift, man war so pessimistisch, dass man an eine Rettung aus eigener Kraft nicht glaubte. Zweitens stand damals das Deutsche Reich in seiner politischen Glanzepoche, die Schatten waren durch das Licht der Persönlichkeit Bismarcks gedeckt; inzwischen hat der ‘neue Curs’ den reichlich kritisch angelegten Deutschösterreichern auch genügend AnlassGa naar eindnoot95 zur Kritik gegeben. Drittens hat die Kenntnis reichsdeutscher Verhältnisse bei den Deutschen Oesterreichs überhaupt zugenommen. Auch abgeordnete der Alldeutschen Vereinigung haben sich in dem Sinne geäussertGa naar eindnoot96, dass sie ein Hinausgehen über die Forderungen des Linzer Programmes bezüglich des VerhältnissesGa naar eindnoot97 zum Deutschen Reich im Interesse des deutschen Volkes nicht für thunlich halten. Von anderen ist wieder den Eintritt Deutschösterreichs als Bundesstaat auf die Fahnen geschrieben worden, und es liegt naheGa naar eindnoot98, anzunehmen, dass Schönerer das ‘bundesrechtliche Verhältnis’ in diesem Sinne gemeint hat. Durch diese Unklarheit kann zwar nicht heute oder mergen, wohl aber in dem Augenblicke, der in absehbarer Zeit kommen wird und kommen muss, wo das Schicksal Oesterreichs in die Hand der Deutsehen gelegt ist, Zersplitterung und Verwirrung entstehen. Darum sollten es die Deutschnationalen nicht blos den Tschechen und Franzosen überlassen, diesen Punkt zum GegenstandGa naar eindnoot99 der ErörterungGa naar eindnoot100 zu machen.. Sie sollten sich auch selbst darüber klar sein, was sie erstrebenGa naar eindnoot101; in erster Linie eine Zollunion, das ist weitaus das Wesentlichste und Wichtigste, in zweiter Linie die verfassungsmässigeGa naar eindnoot102 Festlegung des Bündnisses, die gewissermassen das Siegel auf die wiedergewonnene Vorherrschaft drücken würde. Den Bundesstaatsgedanken verweisen man aber in die Broschürenliteratur, in ein politisches Programm gehört er nicht. Die Deutschen Oesterreichs werden ihren nationalen Kampf allein zu Ende fechten müssen; sie haben bereits zur Genüge gezeigt, dass sie Fähigkeit und Stärke dazu besitzen. Haben sie gesiegt, so sind sie auch in erster Linie berufen, den Frieden zu dictieren und nach den im Kampfe gemachten Erfahrungen in ihrem Hause Ordnung zu machen. Sie brauchen dabei die Rückendeckung durch das Deutsche Reich nur in wirtschaftlicher BeziehungGa naar eindnoot103 und in Bezug auf auswärtige Verwicklungen. Damit ist die Arbeitsteilung gegeben, die mir im Interesse des deutschen Volkes geboren erscheint, und die die Einheit desselben in seinem Kampfe um Geltung im Völkerleben der Erde gar nicht berührtGa naar eindnoot104. P. Samassa. |
|