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Die Ausstellung vlämischer Künstler im Kunstverein zu Leipzig.
Es dürfte wohl das erste Mal sein, dass die moderne vlämische Kunst bei uns in Deutschland sich in einer solchen Reichhaltigkeit und in einer solchen gruppenbildenden nationalen Abgeschlossenheit dem Kunstfreunde zeigt und ihn in die Lage setzt, sich über den Stand des gegenwärtigen künstlerischen Lebens des Nachbarlandes eine sachliche Meinung zu verschaffen; denn es handelt sich hier nicht um eine partielle Ausstellung, um das Kennenlernen von Einzelleistungen moderner Künstler, wie sie uns die grossen internationalen Ausstellungen gebracht haben - es sei an die grossartige Meunierkollektion der letzten Dresdener Ausstellung erinnert - weder um einzelne, besonders eigenartige Künstler, noch um irgend eine Sezession, sondern um die vlämische Kunst als Gesamtheit, aus der die vlämische Volksindividualität in ihrer Kraft und Beweglichkeit zu uns redet. Die Alten und die Jungen sind hier beisammen, nicht in Feindschaft gegen einander, sondern als Zweige desselben Stammes. Wir sehen, wie einzelne Künstler an alte heimische Kunsttraditionen angeknüpft haben, andere noch im Banne von Gallait's Colorismus sind, hier haben die englischen Praeraphaeliten ihren
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entscheidenden Einfluss ausgeübt, da die Freilichtmalerei und der moderne Impressionismus, daneben hängen Erzeugnisse der Galeriemalerei, die in ihrer Tendenz 40-50 Jahre zurückreicht; an Werke von strengstem Realismus reihen sich symbolistische und neuidealistische und Bilder archaisierender Künstler, die alte Stile durch Vermischung mit neuzeitlichen Anschauungen wieder zu beleben suchen. So lässt sich, obgleich nur lebende Künstler ausgestellt haben, ein halbes Jahrhundert Kunstgeschichte verfolgen. Auf dem Grunde aller dieser mannigfachen, beim ersten Betrachten fast verwirrenden Kunstleistungen, erkennt man eine Kunst von fester, unverlierbarer Eigenart, die aus der Natur einer bestimmten Landschaft und deren Bewohnern hervorgegangen ist, die sich aber den grossen Strömungen des künstlerischen Schaffens nicht verschliesst, die aus der glänzendsten Tradition immer von Neuem Kraft schöpfen kann, die auch späterhin wieder, wenn auch nur auf kurze Zeit, einen herrschenden Einfluss besonders auf Deutschland ausgeübt hat, die bestrebt ist, mit anderen Kunstkreisen in Berührung zu kommen, von ihnen innere und äusserliche Eigenschaften annimmt, alle technischen Errungenschaften begierig erfasst, im Grunde ihres Wesens aber sich selbst treu bleibt, indem sie es versteht, alle von aussen herbeigetragenen, teilweise ganz heterogenen Elemente mit ihrem ungeschwächten heimatlichen Wesen zu verschmelzen. In den oft heftig aufeinander stossenden Kontrasten der modernen Kulturentwickelung verlieren die Vlamen nie den Zusammenhang mit ihrem heimatlichen Volksempfinden und ihrer heimatlichen Kunsttradition. Gerade darin scheint mir für uns die Bedeutung dieser Kunstausstellung unseres Nachbarvolkes zu liegen, dass es uns zeigt, welche geistige Regsamkeit es entfaltet, wie energisch die Künstler dort vorwärts streben und mit welchem gesunden
Instinkt sie an den alten Traditionen weiter arbeiten; mit anderen Worten, die Ausstellung zeigt, dass die Vlamen ein altes Kunstvolk sind.
Ein so unbewusstes, empfundenes Nachleben altmeisterlicher Kunst, wie es in Belgien zu beobachten ist, besitzen wir nicht. In den religiösen Bildern z. B., die auf die grossen Vlamen im 15. Jahrhundert zurückgehen und die eine vornehme Art von Kirchenkunst repräsentieren, lebt wirklich etwas von der naiven Frömmigkeit und Innigkeit der alten Zeit. Der fleischrohe, breite, überschäumende und jubelnde Realismus von früher hat eine lehrreiche Wendung durchgemacht, ganz besonders in Belgien. Es wurde aus ihm das monumental gestaltete soziale Tendenzbild, das den Ruhm der vlämischen Kunst durch ihren Grössten, Constantin Meunier, in alle Welt getragen hat. Meunier ist leider weder als Maler noch als Plastiker in dieser Ausstellung vertreten. Eine höchst interessante, noch sehr entwicklungsfähige Abart dieses Monumental-realismus dürfen wir aber wohl in den beiden Gemälden von Eug. Laermans ‘Erntearbeiter vor dem Sturm’ und ‘Kirchweih’ und in Jan Delvin's ‘Tagesende’ sehen. Trotz vieler Zeichenfehler in den gewaltsamen Verkürzungen weiss Laermans seinem ungestümen vlämischen Bauernrealismus, der in der ‘Kirchweih’ in einem Knäuel von Menschen derbsinnlich wird, einen grossen dekorativen Zug zu geben durch grosszügige Silhouettierung der Gestalten und kräftige breite Lokalfarbe. Von besonderer Energie und Tiefe der Stimmung ist auf dem ersteren Bild die Gewitterlandschaft gemalt. Im Vergleich zu diesem herben, allem gefälligen, kleinen abholden, harten und eckigen Realismus Laermans, der neben Meunier und Van der Stappen wohl der vlämischste der vlämischen Künstler ist, besitzt Delvin's ‘Tagesende’ eine coloristische Weichheit, in der die rotleuchtende Abendluft den auf einem mächtigen schwarzen Arbeitspferd
heimreitenden Arbeiter umwebt. In's Uebernatürliche erhobene Formen, in Gemeinschaft mit Farbe und Beleuchtung ergeben einen mystischen Effekt. Die Tendenz nach umfänglichen Formen, aussergewöhnlichen Formaten, die hier zu erkennen ist, ist überhaupt eine eigentümliche Erscheinung in der vlämischen Kunst, die künst- | |
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lerisch nicht befriedigt, wenn ihr der Genius eines Rubens mangelt. Joost Impens' ‘Würfelspieler’ kann als Beispiel gelten, wie die ältere Genrekunst, bei der im Laufe der Zeit die anekdotenhafte Scene, die Erzählung die Hauptsache und die künstlerische Darstellung die Nebensache geworden war, ihre spezifisch vlämische Sonderart erhalten hat. Im grossen Ganzen ist sie auch in Belgien durch den Impressionismus, durch Liebermann'sche Freilichtmalerei und die aparten Interieurbilder des Holländers Israels zurückgedrängt worden. Im Vergleich zu den ins Monumentale erhobenen Bildern und Skulpturen sind Werke dieser Art ohne besonderen typischen Wert für die vlämische Kunst, aber auch ohne besondere malerische Qualitäten. Das schummrige Licht in den beiden Interieurs von Jozef Horenbrant ‘Bei der Grossmutter’ und ‘De kleine Zieke’ würden noch viel direkter wirken, wenn die blauen Töne sich nicht so vordrängten. Hierher gehören noch ‘Verlassen’ von Jules de Wette und ‘Das Frühstück’ von Edg. Farasyn. G. Vanaise bringt ein weich und flüssig gemaltes Frauenporträt in geschmackvoller Anordnung, während seine ‘Salome’ ein abschreckendes Beispiel eines leeren Colorismus ist. Ein Sondergebiet der allermodernsten Technik ist durch den Pointillisten Theo van Rijsselberge vertreten
durch ein weibliches Porträt in ganzer Figur im Zimmer neben einem Tisch stehend, und ein paar felsige Küstenlandschaften. Ueber die Technik, die Farben unvermischt in Punkten oder Strichen nebeneinander zu setzen, ist schon so viel geschrieben worden, dass hier füglich nicht darauf eingegangen zu werden braucht Rijsselberge ist einer der Führer. Die Künstler bezwecken mit ihr eine feinere Licht- und Farbenwirkung, eine grössere Durchsichtigkeit, sie suchen damit das leise Flimmern der durchsonnten Luft, den weichen Duft, der über den Dingen liegt und die täuschende Illusion des Raumes auf die Leinwand zu bannen. Die ausgestellten Arbeiten Rijsselberge's lassen den Zweck dieser Manier allerdings nicht erkennen; die Punkte sind viel zu gross, so dass die Farben nicht ineinander gehen und die Bilder den Eindruck von kolorierten Zeichnungen in grellen, giftigen Farben machen. Mit den herrlichen Gemälden Segantini's, den duftigen Landschaften des Dresdener Baum, den reizvollen Arbeiten des Weimaraner Stremel dürfen sie nicht verglichen werden. Ich nehme an, dass sie nicht zu den besten Bildern Rijsselberge's gehören, so dass es voreilig wäre, sein Können nach diesen Leistungen zu beurteilen.
Wenn die Anknüpfung an die altheimische Tradition zu künstlerischen Neuschöpfungen von lebensvoller Grösse und stark persönlicher Eigenart geführt hat, in denen vlämische Volkskraft seinen alten Kunstsinn bethätigt, so kommen diejenigen Künstler, die sich bei den englischen Praeraphaeliten ihre Vorbilder und Inspirationen holen, nicht über eine oberflächliche Nachahmung hinaus. Sie haben den alten Süjets nichts Neues abgewonnen und ihre umfangreichen Arbeiten sind mehr Aeusserungen einer herrschend gewordenen Geschmacksrichtung als solche eigenwilliger Künstlerpersönlichkeiten. Der Hauptvertreter dieser anglisierenden Kunstübung ist Constant Montald in seinem figurenreichen Riesengemälde ‘Der tote See’ und dem Bilde ‘Die letzte Nacht Christi’; hier dürfte man auch in Bezug auf die Erfindung an einen direkten Einfluss des frommen Fra Angelico denken, ohne dass freilich dessen selige Innigkeit erreicht wäre; vielmehr hat der von Engeln getröstete Christus etwas Dumpfes, Aengstliches, Weinerliches, wozu die schwere blaugrüne Farbengebung doppelt schwer wirkt. ‘Das schweigende Meer’ desselben Künstlers, ein vages, unklares Liniengebilde, das denselben blaugrünen Farbengrund durchzieht, führt uns hinüber in die freiideaslitische, symbolistische Kunst. In Maeterlinck hat Belgien den bedeutendsten Vertreter des Symbolismus in der Literatur hervorgebracht. Sicherlich stehen die Symbolisten unter den belgischen Malern unter ihrem Einflusse, der ja auch in Paris und in Deutsch- | |
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land zu bemerken ist. In der bildenden Kunst hat Belgien einen Félicien Rops und einen Fernand Khnopff aufzuweisen. Dass die Ausstellung von ersterem nichts enthält, ist nicht verwunderlich, aber bedauerlich. Dagegen ist Khnopff durch
wundervolle Arbeiten vertreten, die, von der Plastik abgesehen, unbedingt das Beste sind, was die Ausstellung enthält; es sind Zeichnungen allegorischer Gestalten, Porträts und Landschaften, nicht Bilder eigentlich symbolischen Inhalts. Diese sind durch die dunklen, rätselhaften, mystisch unklaren Arbeiten von Karel Doudelet vertreten; das Beste davon, ‘Pfauen’ betitelt, ist zeichnerisch sehr fein und von einer aparten dekorativen Wirkung; Anklänge an Jan Toorop sind ersichtlich. Zwar können die ausgestellten Arbeiten Khnopffs kein vollständiges Bild seiner Persönlichkeit geben, wenigstens nicht nach der Seite seiner eigenartigen Phantasieanschauungen, und doch genügen die wenigen Landschaften, das höchst bezeichnende Kinderporträt und vor allem die Lawntennis-Spielerinnen, eines seiner graziösesten Bilder, um dem Beschauer einen Begriff seiner vornehmen künstlerischen Denkweise zu geben. Kein Zweiter versteht sich wohl so wie er auf die kühle Reserve heller, mattweiser Töne und auf die weiche Melancholie von Mattgrün und Mattgrau. Mit diesen wenigen Tönen, die er wunderbar zart abdämpft und durch klare, in ihrem Rythmus fein abgewogene Linienführung, sowie durch eine capriciöse Anordnung in der Bildfläche weiss er Wirkungen zu erzielen, die denen Whistlers und der Japaner, die seine grossen Lehrmeister gewesen sind, gleichkommen. In jeder Linie, in jedem Pinselstrich zeigt sich ein sicheres Können, das sich in den Dienst seines hochentwickelten Schönheitsgefühles stellt. Seine Figuren zeigen bis in die Fingerspitzen Charakter und Haltung, Festigkeit, Klarheit, Eleganz, die zu der duftigen Zartheit, der abgedämpften Stille der Landschaft reizvoll kontrastieren. Khnopff ist von den Pariser Symbolisten ausgegangen, er hat etwas von der melancholischen Weichheit
Carrière's, am meisten aber ist er selbst einer der raffiniertesten, feingeartetsten Künstler Europa's, der mit den denkbar einfachsten Mitteln etwas in seiner Art vollkommenes ausdrücken kann. Was er am vollendetsten malen und zeichnen kann, ist die bewegungslose Stille. Seine Bilder sind Verzauberungen; darin liegt ihre Schönheit. Die Landschaften verlieren fast ihre Gegenständlichkeit unter diesem Schweigen. Die Gestalten stchen wie Statuen; er malt die Lawntennis-Spielerinnen nach dem Spiel, nicht während des Spieles; das Bild nennt er recht bezeichnend ‘Mémoires’; über dem weiten Plan liegt ein unendliches Schweigen. Seine allegorischen Frauengestalten sind rätselhafte, schweigsame Wesen, in denen sich tiefe Trauer mit kühler Gleichgiltigkeit und spöttelnder Ueberlegenheit paart. Seine ganz aparte Wirkung erreicht Khnopff durch absonderlich schlanke Formate und eine eigensinnige Raumverteilung. Die Seltsamkeit dieser Wesen wird noch erhöht durch sonderbare Attribute, die ihnen der Künstler gibt, und in deren monumentalen Ausschmückung er eine reiche Phantasie entfaltet. Durch nichts kann man sich den Reichtum an Gegensätzen in der modernen vlämischen Kunst klarer veranschaulichen, als wenn man neben diese durchgeistigte, für den raffiniertesten Geschmack geschaffene, hypnotisierende Kunst Khnopffs die handfeste, derbe und grossartige Massigkeit der Bauern Laermans und die ins Übermenschliche gestalteten Arbeitertypen Meunier's und Van der Stappens stellt.
Eine Raumkunst, die an Puvis de Chavannes anklingt, viel mehr aber nach Art von Bougerau's Schönmalerei ist, vertritt das grosse Wandbild ‘Die elyseischen Felder’ von Herm. Richir. Es zeigt die grossen Mängel der Schönmalerei, es ist seelisch leer, die Gestalten sind zu wenig empfunden, zu wenig von individuellem Leben erfüllt als dass uns ihre gut gezeichneten Körper, die in den Bewegungen viel Grazie und Schönheit entfalten, und das heitere, festliche Colorit zu längerer Betrachtung festhielten.
Ihr zähes, sesshaftes Heimatsgefühl, ihre Liebe zur heimatlichen Mutter Erde bekunden
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die Belgier vor allem in der Landschaftsmalerei. Ihre Künstler haben ein offenes Auge für die Schönheit ihres Landes, seine behagliche, niederdeutsche Poesie, seine malerischen Motive, den farbigen Glanz seiner alten, vielgiebelichen Städte, die von Baumalleen durchsetzt sind und über denen dicke weisse und graue Wolken ziehen, für die stillen, verschwiegenen Winkel, für das weite Feld, den fruchtbaren Acker und das weite Meer. Die vlämischen Landschaften haben alle diesen gemeinsamen Zug gesunder Bodenständigkeit, etwas Frisches, Breit-Behagliches, Unreflectiertes, Echt-Empfundenes. Die technischen Probleme der Licht- uad Luftmalerei, die sie alle beschäftigen und denen sie ihre schönsten Resultate verdanken, treten hinter diesem ersten Eindruck einer heimatlichen Landschaftskunst ganz zurück. In erster Linie interessieren uns die malerischen Stadtmotive aus Utrecht, Dortrecht, Gent, Brügge u.s.w., es sind eigentlich immer dieselben: altertümliche Häuser, vor ihnen Baumalleen, Gruppen von Menschen, eine alte Brücke, die über einen Kanal führt, dieser von Kähnen und Booten belebt. In der feuchten Luft von der alles umgeben ist, bricht sich das Sonnenlicht in prismatischen Farben, und das ganze Gewirr fester und schwebender Farben verdoppelt sich in dem zitternden Reflex des Wassers. Franz Courtens steht als Maler solcher Motive obenan. Neben ihn stellt sich Ferd. Willaert, der durch ein paar ausgezeichnete Arbeiten vertreten ist. Motive von der Schelde geben Henri van Melle und Arm. Heins, der sich als feiner Aquarellmaler bekannt macht. Noch mehr gilt dies von Hendrik Staquet, dessen köstliche Aquarelle sich wohl neben den Leistungen der Schotten sehen lassen können. Sehr kräftig und von
wohlthuender Frische ist Hendrik Huklenbrok's ‘In 't waterland, Zaandam.’ Franz Binge's Seestrand mit Fischerboot wirkt durch die besonders feine Wiedergabe der Luft. Eine der erquickendsten Landschaften ist Victor Gilsoul's ‘Im April’; das ist ein heller und echter Frühling mit Primeln auf der Wiese, die jeden Moment durch einen Schneesturm bedroht sind; das ist so selbstverständlich hingemalt, als könnte es gar nicht anders sein. Eine düstere, fast gespenstige Stimmung liegt über dem ‘Dortrecht’ desselben Künstlers. Vlämisches Land überall.
Die moderne vlämische Kunst hat wohl in allererster Linie, vom Kunstgewerbe abgesehen, das bei unserer Betrachtung nicht berücksichtigt werden kann, durch die Plastik Meunier's einen Weltruf erworben. Auch die vlämische Ausstellung zeigt eine Ueberlegenheit der Plastik über die Ma!erei hinsichtlich der Selbständigkeit, technischen Vollendung und der Stilreife. Diese Thatsache muss um so mehr Wunder nehmen, als die Bewohner der Niederlande eine ausgesprochene Naturanlage für das Malerische besitzen, wie ein Ueberblick ihrer 300jährigen Geschichte der Malerei ergibt. Die moderne belgische Plastik ist mit dem Leben der Wirklichkeit gesättigt, der ihr freier und grosser Stil bald einen Zug des Monumentalen, des sozialen Ethos verleiht, bald den Ausdruck tiefer Innigkeit oder schwermütiger Träumerei. Dieses Wirkliche und Lebendige, das in allen diesen plastischen Gebilden, unter feinster Beobachtung der Stilgesetze, zur Darstellung gebracht ist, erinnert uns an die Jugendblüte der italienischen Renaissancekunst. Allen voran ist Van der Stappen zu stellen, der durch vier sehr bezeichnende Arbeiten, Ruhende Arbeiter, Aehrenleserin, Tafelaufsatz, Frauenrelief, vertreten ist. Die Typenbildung der mächtigen Arbeitergestalten ähnelt denen Meunier's; sie wirken durch das Halbkolossale und durch die partielle Herausarbeifung gewisser muskulöser Körperformen. In diesen herkulischen Umbildungen, in dieser Erhebung des Realismus ins Uebermenschliche kann man, wie schon oben gesagt, eine moderne Umbildung Rubensschen Geistes erkennen. Ueberraschend ist es, wie bei diesem Streben nach monumentaler Wucht, die sich auch in der ‘Aehrenleserin’ ergreifend äussert, Van der Stappen eine ebenso grosse Begabung für das Feingliedrige bekundet, wie in dem wundervollen
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Tafelaufsatz. In einem Barock von ganz köstlicher Frische, ich möchte sagen von moderner Umbildung gehalten, zeigt es in seinem Aufbau die feinste Linienführung. An den 4 Seiten des geschwungenen Ovals sind die 4 Tageszeiten, Morgen, Mittag, Abend, Nacht in weiblichen Figuren mit spielenden Genien dargestellt, das ganz von einer Mannigfaltigkeit und Originalität der Charakteristik, von einer Schönheit der Modellation, mit einer Fülle oft gewagter, aber immer schöner und graziöser Bewegungsmotive, schlangenartigen Verrenkungen, Biegungen und Contraposten der kleinen Körperchen und so bezeichnend und echt im Ausdruck des inneren Lebens, dass diese plastische Composition geradezu einen musikalischen Stimmungsreiz ausübt. Das Relief der jungen Frau verbindet mit feinster Herausarbeitung der naturalistischen Formen einen grossen und freien Rythmus der Silhouette. Van der Stappen ist ein grosser und freier Geist, der zwar nicht die überwältigende Grösse Meunier's, aber dafür ein beweglicheres, ein weiteres Darstellungsgebiet, umfassendes Temperament besitzt. Ganz spezifisch vlämisch sind die Fayencen von Isidor de Rudder, die in Belgien in wirksamster Weise architektonisch-dekorativ verwendet werden. Ein Vestibül z. B. mit den Reliefs in glasiertem Ton, die allegorischen Gestalten von Form, Farbe, Harmonie und Baukunst darstellend, in denen sich ein feiner Sinn für den wundervollen Rythmus von Bewegungsmotiven glänzend bethätigt, muss ein Muster von künstlerischer Vornehmheit sein. In der grossen Zahl origineller und dekorativ wirkender Masken, in denen das Burleske und Karrikaturenhafte ebenso gut beobachtet ist wie das Feinpoetische, zeigt eine leichte, fantasievolle Erfindungsgabe. Ein grosses Können zeigen die Belgier auch in der Porträtplastik; besonders wo es sich um
porträtartige Darstellung historischer oder frei erfundener Charakterköpfe handelt, können sie sich zu der Höhe Donatello'scher Charakteristik erheben, die in herbster Schärfe und grossartiger Kraft dem inneren Drängen der Empfindung rücksichtslos zum Leben verhilft. Beispiele dieser Kunst sind die beiden Bronzebüsten von Vinçotte, ‘Catilina’ und ‘Medusa.’ Ganz vom Geiste Millet'scher Bauernmalerei und Meunier'scher Bergarbeiterplastik beseelt ist Paul Dubois in seiner ‘Frau mit dem Sack’, während sein lachender Frauenkopf mit dem breiten Mund und den verschmitzten Schlitzaugen lebhaft an das urkräftige Behagen Frans Hals'scher Gestalten erinnert. Godfried Devreese gibt in seinem Porträt von David Maes eine Probe gesunder und herber Charakterisierungskunst, die in grossen zusammengehaltenen Formen Thatkraft und Tüchtigkeit ungesucht wiedergibt. Julian Dillens hält sich, wie es scheint, ausschliesslich auf dem Gebiete dekorativer Plastik; seine allegorischen Figuren der Flandria und Germania muten an, wie plastische Gestalten Makart'scher Frauen, der ‘Kopf der Minerva’ erstrebt die neutrale Ruhe frühantiker Köpfe. Ein liebenswürdiger, feiner, poetischer Realismus macht das Köpfchen einer ‘Neapolitischen Frau’ von L. Mast und die Marmorbüste eines jungen Mädchens von Willem Charlier zu Werken lebensvoller Innigkeit. Die Marmorgrabfigur des Graten Lalaing, ein Fantasiekopf, hat in ihrer Trauer etwas Hoheitsvolles, in den gesenkten Wimpern und dem feingeformten Mund den Ausdruck einer erhöhten Empfindung. Mit einander ringende Gestalten gibt Hipp. 1e
Roy in der Bronzegruppe ‘Entführung’, ganz gleichmässig durchgeführte Körper, zwei männliche und einen weiblichen, mit den Motiven der Spannung und Erschlaffung, gewiss mit Reminiscenzen an Rubens Raub der Töchter des Leukippos, aber ohne erkennbare Eigenart. Wer mit aufmerksamem Auge diese Ausstellung betrachtet, in jedem Bild den beeinflussenden Faktoren seiner Entstehung nachzuspüren sucht, wird bald durch die grosse äussere Mannigfaltigkeit, in der die Ausstellung dem Beschauer erscheint, einen einenden Charakterzug erkennen; was diese Künstler schaffen, ist vlämisch, das wurde schon eingangs als Gesamteindruck der Ausstellung hervorgehoben; was mir aber im Besonderen
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deutlich erkennbar zu sein scheint, ist, dass der grösste Genius der vlämischen Kunst, dass Rubens gerade in den bedeutendsten Schöpfungen der modernen vlämischen Kunst weiterschafft.
Dr. Paul Kühn.
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