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Vaters Frau
von Reimond Stijns, aus dem Vlämischen übersetzt durch Cl. v. Z.
Und dann! Konnte, durfte ich meinem Bruder davon sprechen? Er vernahm kein Wort von Cilias Tod.
Am darauffolgenden Morgen sagte er zu mir:
‘Sieh, welch schöner Tag das heute sein wird’. Die Frühlingssonne schien lachend und lieblich durch das Dachfenster. Er fuhr fort: ‘Ich will aufstehen... Ich fühle es: ich muss zu Cilia... Die ganze Nacht sah ich sie im Traum.’
Er wollte sich erheben, wäre aber sicher zu Boden gefallen, hätte ich ihn nicht in meinen Armen aufgefangen.
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‘Ich will, ich muss!’ murmelte er. ‘Morgen... Gieb mir deinen Arm; ich möchte einmal in der Kammer umhergehen.’ Ich half ihm, stützte ihn, brachte ihn an das Dachfenster, und unsre Blicke schweiften nah und fern über die Felder. Alles war so frisch und grün... Der Kohl blühte, das Korn stieg schwellend empor, leise wiegte sich der junge Flachs hin und her und in dem Garten blühten und dufteten die Obstbäume... Plötzlich begann die Todtenglocke zu läuten; die Magd im Garten des Nachbars hielt mit der Arbeit inne, sie schaute umher. Der Fuhrmann, der des Wegs kam, blieb stehen und entblösste das Haupt. Beide sahen auf unser Haus, und als die Magd meinen kranken Bruder am Dachfenster erblickte, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und sank nieder in's Gras auf die Knie.
Die Glocke läutete fort und fort. Ich wandte das Gesicht ab. Ivo schien nach Luft zu ringen, wollte etwas stammeln, konnte aber nicht...
Er fasste mich, zog mich zu sich, und schaute mich mit weit geöffenten Augen an... Die ausgespreizte Hand nach mir ausstreckend, hob er sie höher und höher - Wie sah er so sonderbar aus mit den farblosen Augen - er stöhnte:
‘Sage nicht nein... Cilia ist todt!’ Mein Zittern und Beben, verriet ihm nur zu gut die bittere Wahrheit... An dem Tage des Begräbnisses stellte Vater einen Knecht vor die Speichertreppe um Ivo am Ausgehen zu verhindern... Der Junge war noch gar schwach; vergebens rüttelte er an der Thür.
Durch das Glockengeläut hat Ivo nicht viel gelitten: Es war ein Armendienst... Cilia machte in den letzten Wochen Kleider für die Leute, und die letzte Monatsmiethe für ihre zwei Kämmerchen bei Manuel Deirings war selbst nicht bezahlt... Der Bürgermeister kam zum Vater um Geld zu heischen, ich brauche wohl nicht zu sagen, dass er es weigerte; Vaters Frau aber war zwei, drei Mal zum Pastor gegangen. Warum? Das weiss der liebe Herrgott. Es war selbst Rede davon Cilia im Hundeloch zu begraben... Am Sonnabend nach der Beerdigung frug mein Bruder:
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‘Bist du nicht bei Cilia gewesen bevor sie starb?... Willy wie ist's nur möglich: Für dich würde ich ja mein Leben geopfert haben.’ Darauf erzählte ich ihm, wie Cilia gesagt: ‘Die Rechnung wird Ivo mit mir zusammen ausgleichen vor Gott.’ Ivo blickte sonderlich umher, als suche er etwas, was er nicht finden könne; er setzte sich auf den Rand des Bettes, zog die Schuhe an, obschon sie nicht geputzt waren, - dann hob er einen Fuss in die Höhe und starrte lange auf die Sohle. So sehe ich ihn noch im Geiste vor mir.
Der folgende Tag war der erste Sonntag nach Cilias Tod.
Ich war zur Hochmesse gegangen und sass hinter dem dicken Pfeiler, da, wo Christus so bleich am Kreuze hängt und ein Soldat mit nackten Beinen auf einer Lanzenspitze einen Schwamm emporhebt. Als Kind, hab ich oft gedacht, dass der Kriegsmann - wenn er nur wollte - seine Lanze leicht durch die Wolken stecken könnte, und noch immer blickte ich nach der Lanze und den Wolken...
Während der Predigt, der ich nicht gefolgt war, vernahm ich plötzlich die Worte: ‘Verdammt sind die, welche ausserhalb der Kirche sterben’. Meine Aufmerksamkeit ward abermals abgelenkt. Schritte hatten sich genähert. Jemand stellte sich neben mich. Ich blickte auf... Es war Ivo!... Bleich, und abgezehrt... Wie hatte er nur bis hierher gelangen können? Stille, und geräuschlos, so dass ihn fast Niemand bemerkt hatte... Als ich aufschaute, sah ich seinen Blick fest auf den Pastor gerichtet...
‘Höre was der Prediger sagt! Diejenigen welche ausserhalb der einen wahrhaftigen Kirche sterben, haben an Gebeten keinen Teil mehr; kein Flehen und Bitten, selbst Messea können nicht helfen. Ohne die Römische Kirche ist die Seligkeit unmöglich... Vergess es nicht, geliebte Gemeinde. Die, welche Anstoss geben, müsste man mit einem Mühlstein um den Hals in das tiefste...’
In diesem Augenblick entdeckte er meinen Bruder; er stockte, sah auf Ivo. Es ging ein Laut durch der Kirche, wie das Rauschen des Korns, wenn ein starker Wind darüber hinweht...
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Ivo blickte nicht in die Menge, er sah Niemand als den Pastor, dann ging er gebeugten Hauptes hinaus. Ich folgte ihm nicht; war es doch so schon schlimm genug, dass er die Kirche verliess...
Nach Beendigung der Hochmesse fanden die Bauern meinen Bruder an Cilias Grab. Einige hatten Mitleid, Andere lachten. Ich liess Ivo allein, lauschte indessen nach dem, was man um mich her sagte... Einer behauptete, der Unglückliche sei nun ganz und gar von Sinnen; ein Zweiter erklärte, dass es schade sei und dass die Stiefmutter Prügel verdiene; ein Dritter fügte hinzu, dass, was man auch sage, Cilia doch stets ehrlich und arbeitsam, und zudem, noch das schönste Mädchen des Dorfes gewesen sei.
In der Allee hinter dem Pastorhaus traf ich den Vater.
‘Komm mit nach dem Schwan, Willy,’ sagte er, ‘wir wollen dort ein Glas trinken.’
Als wir das Wirtshaus betraten, verstummten Alle. Vater und ich setzten uns in eine Ecke und wechselten kein Wort. Der Vater leerte vier, fünf Gläser.
Beim Heimkehren, murmelte er: 's ist schade, dass Ivo die Cilia gekannt hat.’
Ich antwortete: ‘'s ist schade, dass sie todt ist.’
Und weiter sprachen wir kein Wort mehr.
Vater war durch das Genossene etwas erregt. Nachmittags holte er den Lehnstuhl aus der Putzstube und setzte ihn an den Tisch für Ivo, aber Ivo kam nicht. Die Frau spottete über den Sessel, Heinrich und Johann aber lachten hell auf. Der Vater behielt unaufhörlich die Thür im Auge; der Erwartete erschien nicht... Nach dem Essen schlenderte ich umher, überall da, wo ich denken konnte meinen Bruder zu treffen, nirgends war eine Spur von ihm zu entdecken; es war mir gar traurig zu Muthe. Ich kehrte nach dem Hof zurück, da ich glaubte, dass sich Ivo, der noch nicht gesund war, vielleicht auf dem Heuboden etwas ausruhe.
Als ich von der Rückseite in den Pferdestall trat, fühlte ich eine Hand leise meine Schulter berühren .., ich blieb stehen..., es war Ivo...
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Er frug gedämpften Tons:
‘Hat Cilia noch etwas hinzugefügt?’ Ich dachte an die Worte: Bring ihm diesen Kuss.’
Aber wie konnte ich jetzt meinen Bruder küssen? Das wäre doch gar zu seltsam gewesen. Ich antwortete:
‘Sie sagte noch, dass sie das tote Kindchen geküsst hätte und dich auch küssen wollte.’
Das hab' ich wohl vermutet,’ rief er jubelnd aus. ‘Höre Willy... du mein liebster, einzigster Bruder, ich will dir einen guten Rat geben. Du bist gesund und kräftig und kannst überall dein Brod verdienen... Ich gehe fort... Versprich auch du mir dies Dorf zu verlassen... Gelobst du mir's?
Da Ivo fort wollte, warum sollte ich bleiben!
Er bat dringender: ‘Schwöre mir's, dass du, so bald ich weg bin, nicht länger mehr hier bleibst. Ich erfüllte seine Bitte und fügte hinzu: ‘Werden wir denn nicht beisammen sein?
‘Ja, wir werden beisammen sein, aber nicht sogleich... Versprich mir nur, hier fortzugehen ohne mich aufzusuchen... Schwöre es...’
Nachdem ich eingewilligt, ging er plötzlich davon, so eilig als ob er fürchtete; ich könnte ihn zurückhalten.
Fast glaube ich er weinte; fort war er, ich wusste kaum wie... Es war schon spät als ich zu Bett ging. Ich hatte Ivo wiederum überall gesucht, aber nirgends gefunden... Bevor ich mich in die Kammer begab, ging ich in die Küche; weder sie noch Vater sprachen mich an, erwiderten selbst meinen Gruss nicht.
Dennoch kam es mir vor, als ob der Vater beunruhigt wäre: mehr als einmal sah er nach der Thüre, als er den Wachthund mit den Ketten rasseln hörte, richtete er sich auf... Niemand zeigte sich... Mit einem Seufzer setzte er sich wieder und blieb über den kalten Herd gebeugt. Wie traurig war es hier. Als die Uhr halb elf schlug, stopfte er seine Peife, stand auf, nahm ein Zündhölzchen vom Kamin, steckte es an, liess es doch wieder ausgehen und legte die Pfeife weg.
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Auf einmal schielte er nach mir herüber und dann auf seine Frau, diese that als ob sie eingeschlummert sei.
‘Wollen wir schlafen gehen?’ frug er sie zögernd.
Sie öffnete die Augen und brummte: ‘Da sitz' ich nun und warte ob du endlich daran denkst... Martha, Heinrich und Johann sind schon lange im Bett; meine Kinder treiben sich nie herum... Du, lieber Himmel, was soll daraus werden, und wann werd' ich einmal von all diesem Elend befreit sein?
Der Vater ging voraus in die Schlafkammer. Ich wünschte gute Nacht! Sie sah sich zornig um, nahm die Lampe und liess mich im Dunkeln. Noch eine Weile blieb ich sitzen mit unsrer alten schwarzen Katze, die sich an meine Beine schmiegte.
Wer hätte denken können, dass Ivo so schnell forteilen würde. Wo mag er sein, wo werde ich ihn finden?
Ich begab mich hinauf, müde und abgespannt schlief ich ein... Auf einmal fuhr ich auf... die Hausuhr verkündete Mitternacht. Ich hatte deutlich gefühlt, wie Ivos Hand sich auf die meine legte, er flüsterte:
‘Ich gehe.’
Ich riss die Augen auf und horchte, ich hörte nichts mehr. Eine schreckliche Beklommenheit überkam mich, ich zitterte am ganzen Leibe.
Endlich schlief ich wieder ein. Als der Morgen graute, wurde ich aufgeschreckt durch Stimmen, die von unten kamen; ich vernahm dann ein wunderliches Flüstern und Geräusch von schiebenden Füssen, das ich kannte... Fremde Leute waren im Hause!... Sicher war etwas geschehen! Bald hörte ich Vaters Frau ganz deutlich sagen:
‘Nein, nein, der Pastor wird das auch nicht wollen... Warum soll man ihn nicht nach dem Gemeindehaus tragen?’
Das schreckliche Gefühl von der Nacht überkam mich noch einmal. Ich schüttelte mich wie im Fieberfrost.
Die, welche verunglücken, die Selbstmörder, werden nach dem Gemeindehaus gebracht. Es war also ein Todter!
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Halb nackt stürmte ich die Treppe hinunter. In der grossen, matt erleuchteten Küche sah ich den Vater mit der Frau, dann den Todtengräber und den Glöckner.
‘Ivo ist tot!’ schrie ich auf; ‘wo habt ihr ihn gefunden?’
‘Auf dem Kirchhof, Junge’, antwortete der Todtengräber.
‘An dem einen der Lebensbäume! Wer hätte das je gedacht?’
Ich wiederholte: ‘An einem der Lebensbäume! Ja, an dem Lebensbaume rechts in der Ecke.’
‘Wie wisst Ihr das?’ frug der Glöckner.
Und die Frau rief spottend:
‘Als ob da nicht die Andre läge, die Schuld an allem ist!’
Jetzt begriff ein jeder, wie ich es wusste. Ich fragte wieder.
‘Aber wo ist denn Ivo? Warum bringt ihr ihn nicht gleich hierher? Wir werden ihn oben in's Bett legen.
Der Todtengräber erwiderte:
‘Wir sind gekommen um zu hören, was da zu thun sei. So auf einmal wollten wir ihn nicht anbringen, um Niemand den Tod auf den Leib zu jagen... Nun frage ich aber.’
Ich unterbrach den Mann indem ich sagte:
‘Vater, würde man dir wohl den Tod auf den Leib gejagt haben? Ich sehe hier Niemand, der daran gestorben wäre. Kommt lasst uns Ivo holen und hierher bringen.’
Der Todtengräber sah Jeden an, hob selbst das Licht auf, um das Gesicht des Vaters und der Frau zu beleuchten und zu sehen, was darin zu lesen war.
Der Vater weinte; sie blickte griesgrämig vor sich hin.
Der Mann setzte das Licht weg und murmelte:
‘Nun, Bauer Bruno, wollt Ihr ihn hierhergebracht haben, ich glaube die Bäuerin ist andrer Meinung... S'ist 'ne Schande, 'ne Schande, wie man es auch drehe und wende; 'ne Schande für's Haus. Er muss, wo wir ihn auch hinlegen ohne Sang und Klang in die Grube. Ich werde die Verantwortung, ihn hierher zu bringen, nicht auf mich nehmen.
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Das ist Sache des Gesetzes; dafür giebt es ein Gemeindehaus, in den Stall will ich ihn wohl tragen.. Was mich betrifft, so hätte ich die Schnur nicht abgeschnitten, doch geschehene Dinge sind nicht mehr zu ändern... Wie der Pastor über solchen Vorfall denkt, weiss ich nur zu gut. Ich bringe den Todten da hinten hin, schliess' den Stall zu, grab' die Grube und um Mitternacht hinein mit ihm. Somit giebts keine Unkosten für die Gemeinde... S'ist ein gar geiährliches Beispiel... Kommt, also abgemacht; die Sonne wird gleich aufgehn. Hat Jemand etwas einzuwenden, der spreche...’
Es herrschte tiefe Stille. Der Vater hatte seine Mütze über sein Gesicht fallen lassen und ein hohler Ton entrang sich seiner Brust.
Sie brummte:
‘Es thut mir leid, doch ich wiederhole, was ich gesagt habe: kommt er hierher, so gehe ich fort.’
‘Dann wissen wir, was zu thun übrig ist’, sagte der Todtengräber. ‘Wir werden mit ihm fort sein, bevor es Tag wird... Je weniger Leute, desto besser... Willy, seid so gut und holt eine Leiter und auch ein Bettuch, um es über ihn zu hängen. Und dann gebt uns, während Willy alles herbeiholt, einen Schnaps, wir nehmen ihn dankbar an. Ein Mensch ist halt ein Mensch und so was passiert nicht alle Tage.’
Ich verliess die Küche. Doch bevor ich hinaufging, öffnete ich Martha's Kammerthür und fragte leise:
‘Martha - Martha - bist du wach?’
Sie hatte fest geschlafen und stammelte:
‘Was gibt's?’
‘Ach, steh' doch auf... Ivo ist todt... Er hat sich an Cilias Grab erhängt, und man wird ihn noch vor Sonnenaufgang ins Gemeindehaus tragen.’
Anfangs schien sie mich nicht zu begreifen; dann aber fuhr sie schreiend empor und klagte:
‘Ach Gott, ach Gott, ich will sterben, wenn ich je etwas gegen diese Heirat gethan hab'... s'ist war, wir vertrugen
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uns nicht und jetzt thut es mir so leid - o Ivo, Ivo! -’
Wohl zwanzig Mal wiederholte sie den Namen Ivo's, der früher nie über ihre Lippen kam.
Ich bat Martha, auch Heinrich und Johann davon in Kenntnis zu setzen.
Die Leiter stellte ich vor die Thür und als ich mit dem Bettuch in die Küche zurückkehrte, fand ich Martha, die klagte und jammerte, wie sehr die anderen ihr auch zusprachen. Vater sass gebeugten Hauptes in einer Ecke, während Heinrich und Johann, ein Glas Branntwein in der Hand, vor sich hinstarrten.
Der Todtengräber trank noch einen zweiten Schnaps und sagte nachdem er mir das Bettuch abgenommen:
‘Nun fort! Die Familie bleibt am besten zu Hause.
Gelassen erwiderte Martha:
‘Ich gehe mit... Und du, Willy?
‘Freilich, Martha.’
Wüthend trat Vaters Frau hinzu und rief:
‘Ich verbiete es dir. Hörst du, Martha, ich verbiete es dir.’
Das Mädchen erwiederte nichts, verliess die Küche und ging wahrscheinlich in ihre Kammer.
Als ich mit den beiden Männern hinaustrat und diese die Leiter aufnahmen, erschien auch Martha, mir war es, als verberge sie etwas in der Tasche... Drohend rief ihr die Mutter nach:
‘Willst du zurück, kommst du sofort hierher!...’
Doch das Mädchen kehrte sich nicht daran, nahm den Männern das Laken ab und trug es selbst. So machten wir uns auf den Weg.
Die Sonne war noch nicht zu sehen, aber im Osten, hinter dem Erlenwäldchen, begannen sich die Wolken schon rosig zu färben. Trotzdem es nicht kalt war, ging Martha fröstelnd und zähneklappernd neben mir her. Was ich empfand, ver- | |
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mag ich nicht auszudrücken; es war etwas Schreckliches. Ich vermochte mir keine rechte Vorstellung von dem Geschehenen zu machen. Kaum war ich im Stande, mich aufrecht zu halten; ein eisernes Band lag mir um die Brust und mein Herz durchfuhr bitter schneidende Kälte. Ich weinte nicht - Der Glöckner stiess das eiserne Thor auf; wir betraten den Kirchhof. Jeder schwieg; leise schritten wir dahin. Da plötzlich krähte des Müllers Hahn. Wir waren beinahe zur Stelle... Allmählich war es heller geworden... Da standen die Lebensbäume... und als wir an ihnen vorübergingen, sah ich eine abgeschnittene Schnur an einem der dicksten Aeste herabhängen. Alle blickten hin... ich nahm die Mütze ab; die beiden Männer thaten desgleichen. Als wir hinter die Bäume traten, fanden wir Ivo im thauigen Grase liegen.
Ganz deutlich sah ich sein Gesicht. Ich glaubte es entstellt zu finden, aber er lag da, als ob er schliefe. Noch immer fand ich keine Thränen. Ich hätte mir am liebsten mit dem Messer den Leib durchbohrt um den Schmerz zu tödten.
Martha weinte leise vor sich hin; sie war neben Ivo auf die Knie gesunken und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Der Glöckner meinte, es sei ein guter Junge gewesen... wie schade, dass ihm weder hier noch jenseits Gebete helfen könnten.
Martha erhob sich und sprach:
‘Das weiss Gott allein!... Willy hier ist Weihwasser.’
Darauf holte sie eine kleine Vase aus der Tasche, in welche sie im Sommer Blumen stellte und fuhr fort:
‘Willy, er ist dein leiblicher Bruder, sie werden ihn fortbringen... Mach' du das erste Kreuz über ihn...’
Meine Brust wallte auf und nieder, heftig pochte mir das Herz. Ich nahm das Weihwasser aus der Vase, näherte mich Ivo, legte ihm meine linke Hand unters Haupt, wandte das Gesicht zu mir und machte ein Kreuz auf seine Stirn.
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Sein todtes Antlitz anstarrend, stammelte ich:
‘Ach Ivo, du wirst mir nie mehr von Cilia sprechen; mich nie mehr leiden lassen, mir nie mehr Kummer bereiten...’
Immer heftiger zitternd, sprangen mir die Thränen gewaltsam aus den Augen, ich fing an zu jammern und mich zu gebahren, dass der Todtengräber Martha bat mich hinwegzuführen, was sie auch that... Ich liess es ohne Widerstreben geschehen, da sie so viel Herz für Ivo gezeigt hatte...
Nicht weit davon liegt ein kleiner Hügel, wo früher eine Mühle gestanden, die schon lange abgebrannt war. An dem Fusse jener Anhöhe steht eine kleine, runde Strohhütte... Dies ärmliche Bauwerk benutzte man wahrscheinlich früher, um bei Windstille mit Hülfe eines Pferdes das Korn zu malen.
Es steht an einem kleinen Weg, der sich durch das Feld hinschlängelt. Die Kinder fliehen die armselige Wohnung, weil eine Hexe darin haust. Diese Hexe ist Niemand anders als unsre alte Magd Wanna, die vor vielen Jahren schon von Vaters Frau aus dem Dienst geschickt worden.
Wanna kann nicht mehr arbeiten und muss sich durch Betteln ernähren.
An jenem Morgen, an welchem man Ivo nach dem Gemeindehaus gebracht hatte, kam unser Stalljunge mit der Botschaft zu mir, dass das alte Weib aus dem Müllerhäuschen mich bäte so schnell als möglich zu ihr zu kommen. Weigert Euch nicht, sagte er, die alte Zauberin vermag mehr als Ihr denkt.
Ich erinnerte mich, dass Ivo öfters zu der Alten ging und mir mehrmals von ihr gesprochen hatte. Einmal bat er mich selbst ihn zu begleiten; sie trug einen hässlichen Mantel und besah die Leute mit ihren grossen Katzenaugen.
Um elf Uhr Vormittags begab ich mich nach dem Müllerhäuschen. Ich stiess die Thür auf, die nicht verschlossen war und trat hinein. Es war ein sonderbares Loch. Man muss so was selbst sehen. Rechts über dem Eingang liegen vertrocknete Blätter, mit abgenutzten Kleidern bedeckt.
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Das ist das Bett. Ein auf mehrere Steine gelegtes Brett dient als Bank und Tisch, an der Wand hängt zwischen Töpfen und Pfannen ein Bettelsack, auf einer geflickten ausgebreiteten Schürze liegen ein paar Kartoffeln und Brodkrusten, in einer Ecke brennt das Feuer, dessen Rauch durch eine Dachritze steigt. Die Alte kauerte vor dem armseligen Herd. Als sie die Thür knarren hörte, erhob sie sich, indem sie sich mir näherte. Da bemerkte ich an der Thür einen grossen blühenden Dornzweig.
Mit heiserer Stimme hiess sie mich willkommen. Setze dich, Willy, wenn's auch keine frohe Botschaft ist, die ich dir zu sagen habe.
Sie hatte mich am Arm ergriffen und zog mich auf die Bank nieder.
Eine Weile besah sie mich sprachlos, dann stammelte sie:
‘Ja, es ist Willy, es ist Willy, das sind seiner seligen Mutter Augen.’
Die Alte schien gerührt, sie ergriff meine Hand, drückte sie an ihre magere Brust und küsste sie. Dies gefiel mir nicht, ich fragte:
Liesst Ihr mich darum rufen?
‘Nein, nein’, erwiderte sie, und murmelte einige Worte; dann fuhr sie verständlicher fort; ‘Du bist sein Bruder... Ich habe deine selige Mutter gekannt, dich auf die Welt kommen sehn... ja du bist brav und gut wie er!’....
‘Er hat es mir gesagt.’
‘Er?... Wer?...’
‘Ivo!’
‘Setzt Euch’, bat ich! Ich zog sie auf die Bank nieder und blieb vor ihr stehen. Ihre mageren Hände unaufhörlich reibend sagte sie:
‘Du bist auf dem Kirchhof gewesen: ich weiss es. - Ich hab ihn im Stall gesehen. - Als Alle fort waren habe ich das Schloss aufgebrochen und bin hinein geschlüpft. Er lag auf den blosen Steinen; da hab' ich ihm Stroh unter den
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Kopf geschoben... Sieh diesen blühenden Dornenzweig, den hat Ivo mir gebracht. Gestern Abend war der Junge hier...
Zwei nur liebten mich, seit man mich eine Hexe schimpft. Ivo und Cilia... Ivo ist um Cilias willen gestorben. Ich werde dir erzählen, was der arme Junge mir für dich aufgetragen hat. Zweimal hat er mir alles wiederholt, hat mich selbst geprüft, ob ich auch alles behalten...
Dies waren seine Worte: Christus hing am Kreuz für uns, doch wisse, dass er nach all' seinen Leiden gradenwegs zum Himmel fuhr... Er hat Millionen gerettet. Er ist Gott... Cilia ist verflucht: Gebete können ihr nicht mehr helfen. Was der Erlöser für uns alle sammt und sonders gethan, würde ich für sie allein thun. Nicht nur mein Leben gebe ich dafür, auch meine Seligkeit. Dort wird Cilia wissen, dass ich gutgemacht, was ich hier verbrach.
So sagte dein Bruder... Er ist hier bei mir geblieben bis 11 Uhr... Dann bat er mich zu beten... Einige Minuten vor zwölf zog er ein Kirchenbuch aus der Tasche... Du weisst, wie schön Ivo in der Hochmesse sang; so schön, dass ich Cilia oftmals weinen sah...
Er nahm also sein Gebetbuch, sagend dass er singen wolle, damit sie da droben Mitleid für Cilia haben möchten... Hier ist das Buch... Ich sollt' es Dir geben. Da liegt auch ein Papierchen zwischen den Blättern... Was sang er doch?’ Ich sah nach und las:
‘Stabat mater dolorosa...’
‘Ja, Ivo kannte dieses Lied; mehr als einmal hat er mir die Worte gedeutet.’
Die Alte berührte mich mit einem Finger und fuhr fort:
‘Ja, das war's, was er gesungen, darum wird mein armes Haus heilig sein, so lang ich lebe... So mitten in der Nacht... Meine Beine zitterten und ich weinte mir fast die Augen aus... Dann nahm er den blühenden Dornenzweig, welchen er mitgebracht hatte, hob ihn auf und blickte so ganz seltsam gen Himmel, Dann nahm er mich, drückte mich an seine
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breite Brust, dass meine Füsse den Boden nicht mehr berührten, küsste mich und rief:
Der Mond scheint hell, die Sterne leuchten.... Ich gehe...’
Die Alte schwieg. Ich fiel vernichtet auf die Bank nieder Bitter frug ich sie: ‘Warum liesset Ihr ihn gehn?’
Sie erwiderte:
‘Ja ich Hess ihn gehn... Ach Willy was ist das Leben....? Er, der am Kreuz gehangen, ist für alle gestorben.... Nicht auch für sie und ihn... Wird er mit den Beiden kein Erbarmen haben?’
So dacht auch ich und sagte: ‘Besässe ich Schätze, Wanna ich gäbe sie Euch, aber ich bin arm... doch stark und kräftig: Ich will anderswo mein Brod verdienen und was ich spare, geb' ich Euch... Das geb' ich Euch Wanna.... Gebt mir nun Blumen vom Dornenzweig.’
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Dann verliess ich die Alte.... Jetzt eben sah ich, wie Ivo begraben wurde. Ja, der Mond hängt über dem Dorfe und von hier aus sehe ich den Kirchthurm.
Ich verbrachte diese Nacht hinter den Lebensbäumen auf den Knieen... Sie wussten nichts davon... Sie brachten die Kiset aus weissem Holz auf einer Karre an... Das Loch war gegraben.
Der Glöckner sprach:
‘Wir haben die Schnüre vergessen um ihn in die Grube zu senken.’ Der Andre schob die Kiste näher mit dem Fuss und warf sie in's Loch.
Dann sagte er spöttisch:
‘So... Sei ruhig, der wird nicht mehr herauskriechen!’
Ich sprang hervor, ergriff den Frevler und hob ihn in die Höhe ohne zu wissen was ich that...
Der Glöckner schrie:
‘Willy, Willy, werdet Ihr, kaum ein paar Schritte vom Grabe Eurer Mutter, einen Menschen ermorden?’ Ich Hess den Elenden fallen, flog wie sinnlos zu Mutter's Grab, warf mich darauf nieder und jammerte:
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‘Mutter, Mutter, sieh was man mit deinem Kinde, deinem Ivo thut!’
Der Glöckner eilte herbei indem ausrufend:
‘Willy, Willy, seid doch ein Mann.... Ihr schreit ja das ganze Dorf aus dem Schlafe...Muss denn Jeder wissen wie und wo Ivo begraben liegt? Kommt, wollt Ihr den Sarg noch einmal sehen?’..
Ich musste mir Gewalt anthun um mich zu beherrschen; alle Glieder schmerzten mich, als ich mich zur Grube wagte, wo der Todtengräber die schiefgefallene Kiste mit dem Spaten zurecht stiess.
Auf die Knie fallend rief ich aus: ‘Ivo, Ivo, auch ich liebte Cilia so innig... Sage ihr, dass wir alle drei einstmals vereint sein werden.’
Ich warf die erste Hand voll Erde auf den Sarg, anfangs wenig, dann mit vollen Händen.... Ich habe auch die Blumen darüber gestreut, die ich von dem Dornenzweig gepflückt. Bis zuletzt blieb ich an der Gruft. Die beiden Männer warfen die übrige Erde in einen Winkel und legten das abgestochene Gras wieder auf den alten Platz. Dann richtete sich der Todtengräber an mich:
‘Willy, ich trage keinen Hass... Das haben wir so für Euch gethan... Kein Bauer kann nun sagen wo Ivo liegt.’
Ich glaube der Mann that dies für Vaters Frau. Nein, nun konnte Niemand angeben wo mein Bruder ruhte.
.... Nach der Beerdigung kehrte ich still zurück in die Küche. Ich sah Martha am Nachmittag wieder weinen und hätte gerne von ihr Abschied nehmen mögen. Es kann nicht sein.... Horch... Im Stall rasseln die Ketten der Pferde. Bald wird der Knecht aufstehn, ich muss fort....
Ivo, Cilia, auch zwischen mir und Gott darf kein Vermittler sein.... Hienieden wird alles besser werden.... Er, der für uns starb ist liebreich und allmächtig.... Leb' wohl Mutter! leb' wohl Cilia! leb' wohl Ivo!
Ueber dem Erlenbusch wird es heller... Der Tag bricht an.... Noch einige Male wird die Sonne kommen und schwinden, dann bin auch ich bei euch.... Lebtwohl, lebtwohl!
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