Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden. Deel 104
(1989)– [tijdschrift] Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap– Auteursrechtelijk beschermd
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Politik und Gesellschaft - die Renaissance des historischen Interesses am PolitischenGa naar voetnoot*
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Wenn sich seit einiger Zeit eine Renaissance des historischen Interesses an politischen Institutionen und am politischen Denken beobachten lässt, so ist das zunächst Ausdruck innerer, wissenschaftsimmanenter Logik. Hinzu kommt, dass unsere eigene Mentalität, unser Gegenwartsbewusstsein sich innerhalb weniger Jahre dramatisch verändert hat: Die eben noch antiquiert wirkende Frage nach der historischen und systematischen Qualität und der Leistungsfähigkeit der politischen Organisation ist wieder brennend geworden. Ernst Kossmann konstatiert für das historisch-politische Bewusstsein in den Niederlanden eine tiefe Fremdheit des 17. Jahrhunderts, das einst der ganzen Nation vertraut war, sowie ein allgemeines Desinteresse an der Kategorie des Politischen, die in jener Epoche im Zentrum der öffentlichen Debatten gestanden habe. Kossmann erklärt diesen epochalen Gegensatz in Ausrichtung und Perspektive des öffentlichen Interesses mit dem Hinweis auf fundamentale Unterschiede des historischen Umfeldes: In der Aufbausituation des frühmodernen Staates und im Angesicht der Bürger- und Religionskriege, die Holland im 16. und weiten Teilen des 17. Jahrhunderts nicht anders als die übrigen Länder Europas bedrohten, ‘kreeg de politiek een centrale betekenis en werd politieke macht tot een van de hoofdthema's van de eeuw’. Der Grundzug unserer eigenen Zeit sei genau umgekehrt: Trotz vielfältiger Bedrohung kennen wij toch ook een diep vertrouwen in de kracht van de staatkundige ordening die ons omgeeft en achten ons min of meer veilig, opgenomen als wij zijn in een sterk, niet al te kwetsbaar en vergankelijk sociaal en politiek verbandGa naar voetnoot2. Diese für die siebziger und frühen achtziger Jahre zutreffende Gegenwartsbeschreibung gilt bereits nicht mehr für die späten achtziger Jahre. Optimismus und ‘veiligheid’ sind verschwunden. Die eben noch unerschütterbar scheinende Gewissheit, das freie, von den systematischen Sozialwissenschaften gesteuerte Spiel der gesellschaftlichen Kräfte - liberal oder konflikttheoretisch interpretiert - werde von selbst die ‘richtige’ soziale und politische Ordnung hervorbringen, wofern nur der historische ‘Ballast’ abgeworfen werde, ist uns abhanden gekommen: In der Spätphase des neuzeitlichen Staates stellt sich die Frage nach der adäquaten, das heisst die brennenden Gegenwarts- und Zukunftsprobleme meisternden Leistungsfähigkeit der politischen und gesellschaftlichen Ordnung wieder mit derselben Dringlichkeit wie in seiner Frühphase im 16. und 17. JahrhundertGa naar voetnoot3. Die frühneuzeitlichen Debatten über die politische und soziale Organisation der Gesell- | |
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schaft erscheinen in einem neuen Licht. Dabei kann das politische Denken des niederländischen 17. Jahrhunderts ein hervorragendes Interesse beanspruchen, weil vieles dafür spricht, dass Hollands Goldenes Jahrhundert auch im Denken über Staat und Gesellschaft eine Brücken- und Vermittlungsfunktion einnahm zwischen der italienischen Renaissance sowie ihrem vor allem in Florenze und Venedig entwickelten Ideal des civic humanism und dem modernen bürgerlichen Liberalismus, der sich seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts in England entwickelteGa naar voetnoot4. Es ist diese vergleichende Perspektive, die die Beschäftigung mit der politischen Debatte in den Niederlanden so faszinierend macht, und zwar mit den akademischen Diskussionen der Studierstuben und Hörsäle ebenso wie mit dem breiten Strom der politischen Kultur, den wir in den Pamphleten greifen, oder mit den grossen Werken der bedeutenden Politik- und Gesellschaftstheoretiker wie vor allem Spinoza, aber sicher auch die Brüder de la Court. Vor diesem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund kommt dem ersten Band der neuen Reihe besonderes Gewicht zu: Die Bibliography of Dutch Seventeenth Century Political Thought erschliesst vorbildlich ein ganzes Corpus, beginnend mit der Debatte um die Absetzung Philipps II. im Jahr 1581 und endend mit dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Neben den erschöpfenden bibliographischen Angaben erhielt jeder Titel ein Kurzregest, das Auskunft erteilt über das Thema (etwa ‘Souveränität’, ‘Staatsform’ oder ‘Widerstand’), die Methode und das Belegmaterial (Bibel, antike Autoren, Naturrecht) sowie - wo nötig - über den Autor und den politischen oder religiösen Standort, was vor allem für die Veröffentlichungen aus den Zeiten des inneren Parteienstreites hilfreich ist. Erfasst wurden sowohl umfangreiche Abhandlungen als auch die bisweilen nur wenige Blätter starke Pamphletenliteratur - letztere in Auswahl, was angesichts der vorhandenen Hilfsmittel (vor allem Knuttel) plausibel ist. Besonders verdienstvoll ist die systematische Erschliessung von Disputationen an den juristischen und theologischen Fakultäten. Das ist eine literarische Gattung, die Aufschluss über die konkreten aktuellen Inhalte der akademischen Politiktheorie und deren Verbreitungsgrad erteilt. Hier wird Neuland betreten. Das Material wurde in 34 Universitäts- oder Staatsbibliotheken aufgespürt; davon 11 in den Niederlanden, 23 im Ausland gelegen. Die Liste der Bibliothekstädte gibt einen ersten Hinweis auf das Netz intellektueller Verflechtungen, in das die Niederlande im 17. Jahrhundert eingespannt waren: Neben den akademischen und politischen ‘Hauptstädten’ des damaligen Europa - London, Paris, Stockholm, Oxford, Cambridge - findet man vor allem die Zentren des Calvinismus - Genf, Edinburgh, Basel, Bremen, Herborn, Marburg -, dazu Budapest, Greifswald und Wolfenbüttel. Die Bearbeiter unterscheiden vier Typen der Annäherung an das Politische - den literarisch-historischen, den philosophischen, den juristischen und den theologischen Typus. Geht man die Titel und Kurzregesten durch, so wird rasch deutlich, dass sich diese Typen nicht nur in den bevorzugten Themen und in der Methode unterschieden, sondern auch in der zeitlichen Konzentration ihres Auftretens. Das gilt vor allem für den theologischen Typus der Politikdebatte, der von den ausgehenden 1580er bis in die frühen 1620er Jahre und dann wieder in den frühen vierziger und in den fünfziger Jahren stark vertreten ist. Das sind | |
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natürlich die Phasen der inneren kirchenpolitischen Kontroversen. Eine genaue inhaltliche Analyse dieses Corpus dürfte allerdings durchaus Veränderungen zwischen diesen Phasen zutage fördern - etwa die Abschwächung des eschatologischen Elementes, das auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert besonders stark war. Auf die Bedeutung dieses Typus für die Geschichte des politischen Denkens aufmerksam gemacht zu haben, ist das besondere Verdienst der drei Bearbeiter. Man wird allerdings beachten müssen, dass die politiktheoretischen Implikationen dieser theologischen Schriften doch erheblich weiter anzusetzen sind als das im Vorwort geschieht, wo es heisst: The theological-political debate was mainly concerned with the relation between church and state. Its central question ... was the degree of independence from the secular government which the orthodox Reformed Church ... was entitled toGa naar voetnoot5. Gerade unter diesem Aspekt ist zu bedauern, dass in die Bibliographie keine der theologischpolitischen Flugschriften Aufnahme fand, die auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert aus den heftigen Kontroversen um die Position der reformierten Kirche in Emden und Groningen hervorgingen. Die einzelnen Schriften des historisch-literarischen, des juristischen und philosophischen Corpus bieten thematisch nicht viel Überraschendes - es geht um die Souveränität, den Widerstand, das Tyrannissyndrom, die Staatsform und um die gerechte und gute Regierung. Zwei Beobachtungen erscheinen indes bemerkenswert: den Regesten zufolge ging es nur sehr selten um die Vertragstheorie - so bis 1650 nur in einer von P. Bertius in Leiden präsidierten Disputation (Nr. 31 der Bibliographie); andererseits beschäftigt man sich erstaunlich oft mit dem Absolutismusproblem (etwa Nr. 27, 30, 54, 68, 69, 73, 79, 85, 103 u.a.), was auf eine erhebliche Faszination hindeutet, auch wenn der absolute Charakter der Herrschaft in der Regel zurückgewiesen wird. Vor allem in Disputationen erscheinen als besondere Themen u.a. das Bettler- und Arbeitshausproblem (Nr. 49); Fragen der Ehe, der Erziehung und der Gesundheitspflege (Nr. 54); das Verhältnis zu den Juden (Nr. 77); die Folter (Nr. 80 und 123); die bürgerliche Stellung unehelicher Kinder (Nr. 105); die besondere Souveränität der einzelnen Teile des Heiligen Römischen Reiches (Nr. 122).
Der von Ivo Wildenberg vorgelegte zweite Band der Reihe trägt eine Fülle von bibliographischen, biographischen und historiographischen Fakten und Informationen zusammen, die jedem Benutzer ausserordentlich nützlich sind, der sich in die komplizierte Entstehungs-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Schriften von Johan und Pieter de la Court einarbeiten will. Damit liegt ein willkommenes Hilfsmittel vor, von dem wirkungsvolle Impulse für die Intensivierung und Verbreiterung der De-la-Court-Forschung ausgehen kann. Kernbestand ist die ‘primaire bibliografie’, die alle den de la Courts zuzuschreibenden Veröffentlichungen des 17. Jahrhunderts auflistet (in der Regel mit einem Faksimile der Titelseite), dazu die wichtigsten Übersetzungen und modernen Editionen, die unveröffentlichten Manuskripte sowie die edierten Briefe. Das von F. Driessen 1928 edierte ‘reisjournaal’ Pieter de la Courts findet sich allerdings nicht hier, sondern in der ‘Secundaire bibliografie’ (143-170), was nicht so ganz plausibel ist. Denn dieser Teil der ‘Bibliografie’ verzeichnet mit genauer Angabe der einschlägigen Seiten diejenige Literatur, in der die de la Courts erwähnt werden, von den Zeitgenossen bis in die Gegenwart (systematisch offenbar nur bis | |
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1983). Da ist eine ansehnliche Liste zusammengekommen, was ein weinig im Widerstreit steht zum Bild von den ‘unbekannten’ de la Courts. - In einem ausführlichen Kapitel zur Rezeptionsgeschichte (40-74) wird nachgezeichnet, in welchem Umfang und mit welchem Teil des Werkes die de la Courts über die Jahrhunderte hin in den Niederlanden und im Ausland präsent waren und welchen Einfluss sie auf das politische, ökonomische und gesellschaftliche Denken der Nachwelt (vor allem bei Spinoza, 51, 69) nahmen. Die Rezeptionsgeschichte mündet ein in Reflexionen über das Geflecht von sachlich begründeten und zufälligen Faktoren, die darüber entscheiden, ob eine historische Persönlichkeit oder ein literarisches Werk über die Jahrhunderte hin bekannt und im kollektiven Bewusstsein präsent bleibt oder nicht. Es ist vom Geheimnis der ‘maatschappelijke organisatie van informatieoverdracht’, von ‘ambities, angsten, vergissingen, verplichtingen’ die Rede und von ‘technische, politieke, geografische en persoonlijke mogelijkheden en beperkingen’, selbst von ‘de gunst van het volk’. Solange nicht versucht wird, die jeweilige Wirkung der Faktoren empirisch, und das heisst quellenmässig nachzuweisen, bleiben solche Überlegungen beliebig, und es wundert nicht, dass der Eindruck von einem ‘mysterieuze gevecht’ entstehtGa naar voetnoot6, das darüber entscheide, ob und wie eine historische Person im historisch-politischen Bewusstsein präsent bleibt. Eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Barriere gegen eine breite internationale Wirkungsgeschichte in der Frühneuzeit war doch die Tatsache, dass die de la Courts holländisch und nicht lateinisch geschrieben haben. Und heute wird die De-la-Court-Forschung entscheidend dadurch gehemmt, dass keine historisch-kritische Ausgabe ihres Werkes oder wenigstens ihrer Hauptschriften vorliegt. Sollte es nicht möglich sein, die Renaissance des historischen Interesses am Politischen zu nutzen, um hier Abhilfe zu schaffen?
Der von H.W. Blom und I.W. Wildenberg herausgegebene dritte Band enthält im wesentlichen die Vorträge eines aus Anlass des dreihundertsten Todestages von Pieter de la Court an der Erasmus Universität veranstalteten Symposions. Ein Vergleich mit ähnlichen Unternehmungen - etwa der Würdigung der Werke von Althusius, Bodin und HobbesGa naar voetnoot7 - zeigt, dass es den Veranstaltern nicht um eine umfassende Bilanz des Forschungsstandes oder um eine systematische Aufarbeitung der wichtigsten Problemzusammenhänge des Gesamtwerkes ging. Die ausgewiesenen Spezialisten erscheinen entweder in der Rolle von ‘Schirmherren’, die Geleitworte sprechen (so E.H. Kossmann und Th. van Tijn), oder sie haben gar nicht das Wort ergriffen (so E.O.G. Haitsma Mulier). Die Beiträge stehen in lockerer Beziehung zueinander und sind zu entsprechend allgemeinen Abteilungen zusammengestellt: Unter der Überschrift ‘Vorming’ analysiert W. Th. M. Frijhoff das ‘reisjournaal (1641-1643) als ego-document’ und legt eine Edition der nicht in den chronologischen Reisebericht integrierten losen Notizen vor, die in der älteren Edition des Journals von F. Driessen (Leiden, 1928) nicht berücksichtigt wurden. Der Abschnitt ‘Politieke context’ umfasst die Beiträge von M. van der Bijl zu ‘Pieter de la Court en de politieke werkelijkheid’ sowie von G.O. van de Klashorst über ‘De verdediging van het stadhouderschap in de partijliteratuur 1650-1686’. Und schliesslich finden sich unter der Überschrift ‘Intellectuele con- | |
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text’ drei Aufsätze über das Verhältnis ‘De la Court en Spinoza’ (J.M. Kerkhoven/H.W. Blom), über ‘De economische denkbeelden’ (ein Kapitel aus der de la Court-Monographie von O. van Rees aus dem Jahre 1851), sowie über ‘De Sinryke Fabulen’ (H. Wansink). Jeder einzelne dieser Beiträge bietet faszinierende Einblicke: Die gekonnte Analyse des Reisejournals ordnet Pieter de la Court souverän in die soziale, geistige und mentalitatsmässige Situation des Zeitalters ein und arbeitet zugleich das Spezifische und Eigentümliche seiner Persönlichkeit heraus, nämlich den ‘naturalistischen’ Blick, das praktische Interesse an den gesellschaftlichen, staatlichen und ökonomischen Zusammenhängen. Die Edition der Reisenotizen konkretisiert und untermauert die Analyse bereits aufs beste. Nicht anders der Beitrag Murk van der Bijis, der weit mehr bietet, als der Titel andeutet, nämlich nicht nur den Blick auf die Ereignisgeschichte und den politischen Tageskampf in der Republik, sondern vor allem die Einordnung des Werkes in den europäischen Strom des methodischen und inhaltlichen Aufbruches zu einer realistischen, am Interesse orientierten Bestimmung des Staates und der Gesellschaft. De la Court erscheint als deel ... van een internationaal vertakte stroming, die, veel vrijer staande ten opzichte van de traditionele dogmatische en filosofische denkbeelden, de problematiek van religie, staat en maatschappij op andere wijze benaderdenGa naar voetnoot8. Hinzu kommen interessante Beobachtungen zu de la Courts Vorstellungen über die besondere politische, gesellschaftliche und militärische Position Hollands (de vesting Holland) innerhalb der Republik, die belegen, dass der ‘lakenreeder’ im Gegensatz zu dem raadpensionaris De Witt einen realistischen Blick für das internationale Mächtespiel besass.
Kerkhoven/Blom unternehmen einen neuen Anlauf, dem alten Problem der de la Court-Spinoza-Verbindungen durch eine sozialwissenschaftliche Vernetzungsanalyse neue Perspektiven abzugewinnen, ohne - da es an konkreten Quellenbelegen nun einmal mangelt - zu überraschenden Ergebnissen zu gelangen. Besonderes Interesse verdient der in dieser ‘conjectural history’Ga naar voetnoot9 eingelagerte Versuch, das staatskirchenrechtliche Modell der beiden politischen Denker vergleichend zu analysieren. Dabei taucht erneut der Begriff ‘theologischpolitieke debat’Ga naar voetnoot10 auf, der im Vorwort zur Bibliography of Dutch Seventeenth Century Political Thought (BHP, Band I) als einer der vier Typen des politischen Denkens bezeichnet wird. Ohne Zweifel markieren Kerkhoven/Blom damit ein Kernproblem des politischen Denkens im 16. und 17. Jahrhundert, das auch für das Werk der de la Courts und Spinozas ganz zentral ist. Die vergleichende Gegenüberstellung der staatkirchenrechtlichen und religionssoziologischen Positionen führt zu wichtigen Erkenntnissen über die Gleichheit in den philosophisch-politiktheoretischen Grundprinzipien und die Unterschiede in deren Anwendung auf konkrete Fragen, etwa über die gesellschaftliche Position der Prädikanten, wo sich der unterschiedliche soziale Hintergrund der beiden Denker bemerkbar machte. Es lohnt sich, die ‘theologisch-politieke debat’ des 16. und 17. Jahrhunderts weiter aufzuarbeiten - in Holland ebenso wie in den anderen Gesellschaften des frühneuzeitlichen Europa. Dabei wird es nötig sein, das Problem historisch und systematisch umfassend anzugehen. Es ist zu berücksichtigen, dass sich Stellung und Funktion von Religion und | |
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Kirche innerhalb des alteuropäischen Gesellschaftssystems prinzipiell und grundsätzlich von derjenigen in der modernen, säkularen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts unterschieden. Religion und Kirche waren keine besonderen Subsysteme, sondern zentrale, unverzichtbare Achsen des gesellschaftlichen Gesamtsystems. Es galt die Maxime ‘religio vinculum societatis’ - ohne Religion bricht in Staat und Gesellschaft die Ordnung zusammenGa naar voetnoot11. Das politische Denken konnte sich auch in seiner libertären Form, wie wir es bei de la Court und Spinoza finden, von dieser systembedingten Verschränkung der Religion mit der Gesellschaft nicht prinzipiell lösen. Verliert man diesen Systemunterschied zwischen frühneuzeitlicher und moderner Welt aus dem Auge, ergeben sich leicht Missverständnisse: Opvallend is dat niet alleen De la Court, maar ook Spinoza vasthoudt aan absolutistische concepties op het gebied der kerkelijke politiek. Op grond van Spinoza's contacten binnen de sekten is dit een vaststelling, die alsnog een nadere uitwerking behoeftGa naar voetnoot12. Das Missverständnis besteht darin, dass von der frühneuzeitlichen Politikkultur oder von den politischen Denkern dieses Zeitalters erwartet wird, sie könnten das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, zwischen Gesellschaft und Religion so konzipieren als stünden sie bereits auf dem Boden der säkularen Welt, die beide Bereiche prinzipiell unterscheidet und voneinander trennt. Die Vernachlässigung des systemhistorischen Unterschieds zwischen dem modern-säkularen und dem vormodern-vorsäkularen Gesellschafts- und Denksystem lässt dann alle frühneuzeitlichen Katzen grau werden, das heisst dann werden (wie in diesem Aufsatz) die nach den Möglichkeiten des Zeitalters ‘liberalsten’ religionssoziologischen Modelle eines Spinozas und Pieter de la Court als ‘absolutistische concepties’ charakterisiertGa naar voetnoot13, oder man kommt gar, wie Emmanuel Le Roy Ladurie in einem Beitrag zum Internationalen Historikertag 1985, zu der schiefen These, wegen des Ausschlusses der Katholiken von Staatsämtern - wofür er den ganz und gar anachronistischen Begriff ‘Berufsverbot’ | |
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einführt - hätte in England und Holland ein ähnlicher Glaubenszwang geherrscht wie unter dem Dragonadenregime Ludwig XIV. in FrankreichGa naar voetnoot14. Aufgrund der strukturellen Verzahnung von Kirche und Staat und eines spezifischen Begriffes von Politik, der das Religiöse miteinschloss, wurde - so meine ich - die ‘Konfessionalisierung’ des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu einem gesellschaftsgeschichtlichen FundamentalvorgangGa naar voetnoot15, der das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte, und zwar in meist gleichlaufender, bisweilen auch gegenlaüfiger Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates und mit der Formierung einer neuzeitlich disziplinierten Untertanengesellschaft, die anders als die mittelalterliche Gesellschaft nicht personal und fragmentiert, sondern institutionell und flächenmässig organisiert war. Es ist richtig, dass die disziplinierenden, formierenden und kontrollierenden Zwänge der Konfessionalisierung im Absolutismus - etwa bei den Dragonaden Ludwig XIV. oder in bestimmten deutschen Territorien - besonders stark ausgeprägt waren, weil sie nämlich die politischen und gesellschaftlichen Ziele der Fürsten und Monarchen vorzüglich förderten. Aber auch die betont antiabsolutistischen Gesellschaften der Frühneuzeit und das diese programmatisch legitimierende politische Denken konnten sich von konfessionellen Zwängen nicht ganz freihalten. Das ist aber kein ‘absolutistisches Konzept’ und auch keine Instrumentalisierung der Religion für politische und gesellschaftliche Zwecke, sondern Ausdruck der spezifischen Vergesellschaftung der frühen Neuzeit, die Religion und Kirche als Zentralachsen von Staat und Gesellschaft nötig hatte - in den absolutistischen Fürstenstaaten nicht anders als in den alteuropäischen Republiken. Auch in ‘libertär-ständischen’ Ländern und Staaten galt die Religion noch als ‘Band der Gesellschaft’, wie sich leicht an der Position der ‘calvinistischen Öffentlichkeitskirche’ innerhalb der niederländischen Republik nachweisen lässtGa naar voetnoot16.
Wenden wir uns nach diesem Exkurs zu den Methoden- und Theoriefragen, die eine historisch sachgerechte Analyse der ‘theologisch-politieke debat’ zu beachten hat, den restlichen Aufsätzen des de la Court-Sammelbandes zu, die sich mit den ‘Sinryke Fabulen’ und den ‘politiek theoretische argumenten’ der Prinzenpartei, den Gegenspielern de la Courts und Spinozas also, befassen. | |
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H. Wansink, der das letzte, posthum erschienene Werk Pieter de la Courts untersucht, kann nachweisen, dass der Autor auch ‘dertien Jaren na het Rampjaar ... zijn vroegere politieke en economische opvattingen trouw gebleven’ istGa naar voetnoot17. Das verwundere nicht bei ‘een consequent man als hij was’. Die Ereignisse des Rampjaar haben das Trauma des Jahres 1650 nur verstärkt. Er sieht allenthalben in Europa - ‘tenzij God Almagtig sulks wonderlik verhoede’ - die Zwangsherrschaft des Absolutismus aufziehen: ‘dat bysonderlik in deese onse Eewe de Eenhoofdige Regeering, soo in Kerke als in Staat ter onderdrukking veeler Vrije Republiken soodaanig is doorgedrongen’Ga naar voetnoot18. Wansink weist zu Recht auf den parteilichen Charakter dieser Bewertung hin. De la Court wie alle Anhänger des ‘libertär-radikalen Republikanismus’Ga naar voetnoot19 waren von einem pessimistischen Welt- und Menschenbild geprägt, das ein abgrundtiefes Misstrauen gegen die Macht in der Hand einer Person nährte. ‘Het constitutionele aspect van een monarchie’ konnten und wollten sie nicht sehenGa naar voetnoot20; der holländischen Regentenlibertät blieb der Weg des englischen Liberalismus nach 1688 versperrt. Vor diesem Hintergrund ist es besonders zu begrüssen, dass in dem hervorragenden Beitrag von G.O. van de Klashorst auch die Gegenseite im Parteienstreit zu Wort kommt - die orangistischen Pamphlete (1650-1686) und deren ‘verdediging van het stadhouderschap’. Im einzelnen untersucht Van de Klashorst an 16 ausgewählten Schriften die Aussagen zur Staatsform, zur Souveränität, zur Funktion beziehungsweise zur Aufgabe des Statthalters, zur Rolle von Ehre/Reputation und der sozialen Hierarchie. In Korrektur der negativen Einschätzung, die Pieter Geyl den politischen Konzepten der Oranierpartei zuteil werden liess, besteht Van de Klashorst mit guten Argumenten darauf, dass auch die ‘prinsgezinden’ eine in sich stringente ‘politieke theorie’ besassen. Diese sei zwar im Angelpunkt der neuzeitlichen Staatstheorie, der Souveränitätsfrage, nicht dynamisch-modernistisch gewesen, sondern sei den traditionellen Bahnen gefolgt, weil diese die Realität in der Republik besser beschreiben konnten. Dieser Mangel an Modernität in der Souveränitätsfrage sei aber auch typisch für die Regentenpartei gewesen - mit Ausnahme de la Courts. Selbst bei der Frage, wo die Souveränität in der Republik liege, hätten keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten bestanden: ‘de meeste prinsgezinde auteurs hadden ... geen enkele moeite met de aanvaarding van de Staten als hoogste instantie, als ‘souverein’. Anderer Meinung war man ‘lediglich’ bei den ‘opvattingen over de verdeling van de macht over de verschillende politieke ambten’Ga naar voetnoot21. Der Kern des Parteienstreites lag - wie Van de Klashorst zurecht herausstellt - in ‘een verschil in visie op de mens en de samenleving’. Hierauf bauten sich zwei in sich plausibele politische und gesellschaftliche Konzepte auf, die der neuzeitlichen Republik im Innern und nach aussen, für ihre Position im Mächteeuropa, eine Alternative anboten - eine tegenstelling tussen algemeen belang gedefinieerd in termen van privé-belangen van de individuele burgers en algemeen belang gedefinieerd in termen van de raison d'état, politieke en militaire eenheid, militaire kracht en weerbaarheid van de RepubliekGa naar voetnoot22. Damit ist deutlich, dass erst die Analyse beider Seiten des mächtigen Meinungsstreits ein | |
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tiefenscharfes Bild von der politischen Kultur in der niederländischen Republik ergibt. Die in Hörsälen, Rathäusem und von den Kanzeln ebenso wie auf dem Markt und im Wirtshaus ausgetragene Grundsatzkontroverse zwischen zwei prinzipiell unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftskonzepten erzeugte Mitte des 17. Jahrhunderts in Holland einen Grad an frühmoderner Öffentlichkeit, der auf dem Kontinent einmalig war und auch in England kaum übertroffen worden sein dürfte. Das De-la-Court-Symposion hat somit gleichzeitig mit der Debatte über das politische Denken der Regentenrepublikaner die Diskussion über die ‘prinsgezinde politieke theorie’ neu eröffnet. Es sollte an der Zeit sein, sie ohne royalistische oder antiroyalistische Sentimente zu führen, die für das niederländische 17. Jahrhundert beide gleichermassen anachronistisch sind. Dasselbe gilt für die Real-und Institutionengeschichte der frühneuzeitlichen Republik: Neben den Regentenkreisen und den republikanischen Institutionen verdienen auch das Statthalteramt und der Oranierhof die Aufmerksamkeit einer europäisch vergleichend arbeitenden, sozialwissenschaftlich geleiteten und gesellschaftsgeschichtlich interessierten PolitikgeschichteGa naar voetnoot23. Es ist zu hoffen, dass die Renaissance des historischen Interesses am Politischen die von Ernst Kossmann zurecht beklagte Fremdheit des holländischen siebzehnten Jahrhunderts beseitigt - in den Niederlanden ebenso wie anderwärts in Europa. |
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