Verzameld werk. Deel 4
(1955)–August Vermeylen– Auteursrechtelijk beschermdaant.Edgar PoeAm 7. Oktober werden es fünfzig Jahre, seit der amerikanische Dichter und Novellist Edgar Allan Poe, zwei Tage, nachdem er in bewusstlosem Zustande auf der Strasse aufgelesen worden war, im Hospital zu Baltimore seinen Geist aufgab, allein, ohne einen Freund, der ihm die Augen zugedrückt hätte. Es war, als hätte das seltsame Verhängnis, das seinem ganzen Leben einen so tragischen Anstrich gab, ihn bis in diesen Tod verfolgt. | |
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Geboren zu Boston im Jahre 1809, verlor er im Alter von zwei Jahren seine Eltern und wurde von einem reichen schottischen Kaufmann in Richmond an Kindesstatt angenommen. Der mütterlichen Zärtlichkeit beraubt, scheint er in der Familie seines Adoptivvaters keine Befriedigung für sein Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung gefunden zu haben; selbst über seiner Kindheit liegt schon eine gewisse melancholische, verängstigte Stimmung. Der Knabe, der durch grosse körperliche Schönheit und eine ungewöhnliche geistige Frühreife die Aufmerksamkeit auf sich zog, erhielt eine sehr sorgfältige Ausbildung. Aber schon von jener fortwährenden Sehnsucht nach ‘anderm’ beherrscht, die ihm das Leben in der Gegenwart fast unmöglich machte, verliess er, kaum zum Jüngling herangewachsen, seine Adoptivfamilie und führte mehrere Jahre hindurch ein bewegtes, abenteuerliches, zum grossen Teil noch in Dunkel gehülltes Leben. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, als er sich entschloss, sich ganz der litterarischen Laufbahn zu widmen, und arm und ohne Stütze wie er war, mutig seinen unsicheren und leidensvollen Weg antrat. Wie um die Gegensätze dieses Lebens noch auffallender zu machen, verband sich jetzt mit dem Schicksal des von düsteren Phantasien gequälten Dichters das eines ihn schlicht und rein liebenden jungen Mädchens, eines Kindes fast noch: im Alter van 27 Jahren heiratete er seine Cousine Virginia Clemm, die damals noch nicht ganz vierzehn Jahre alt war. Ihre Mutter war für Edgar Poe mehr als eine Mutter und wachte mit unerschöopflicher Güte über das junge Paar. Das Leben Poes, | |
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nicht sehr reich an hervorstechenden äusseren Erlebnissen, war damals das eines Litteraten, der in Richmond, Philadelphia oder New York mit Mühe sein und der Seinigen Brot erwarb, indem er in Revuen - ausser scharfen Kritiken, die ihm so viele Feinde verschaffen sollten - jene mysteriösen, düsteren Erzählungen veröffentlichte, die ihn schnell zu einer der berühmtesten Persönlichkeiten der amerikanischen Litteratur machten: A Manuscript found in a Bottle (1833), Ligeia (1838), The Fall of the House of Usher (1839), The gold Bug (1843) und viele andre. Zugleich liess er Gedichte von seltsamem Charakter erscheinen, so das berühmte The Raven (1845), das gewaltiges Aufsehen erregte und den grossen Ruf seines Verfassers endgültig befestigte. Aber unter diesen Kämpfen und Erfolgen der litterarischen Laufbahn begann jetzt eine Tragödie; die das Leben des Dichters bis auf den Grund zerrüttete: das junge Geschöpf, das er liebte, siechte an der Schwindsucht dahin. Poe, dem es nicht immer gelang, das Elend vom Lager der Kranken fernzuhalten, und dessen eigentümliches Temperament gewissermassen dem Schmerz eine übergrosse Angriffsjfläche darbot, litt unter diesem Unglück bis ins Innerste der Seele: die entsetzliche Furcht, sein Weib sterben zu sehen, jagte ihn selbst jahrelang durch alle Schrecken des Todes. Der unaufhörliche Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung marterte seine nervöse, erregbare Natur aufs äusserste. Seit dieser Zeit war es, dass er im Trinken und in narkotischen Mitteln eine verhängnisvolle Zuflucht vor seinen Leiden suchte. Er war bereits ein gebrochener | |
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aant.Mann, als seine Frau starb (1847). Von da an senkt sich jener Schatten des Todes, den er von jeher über sich gefühlt hatte, immer dichter auf ihn nieder: seine Nervosität steigert sich bis zu einem Zustande völliger Haltlosigkeit, zugleich mit seinem Bedürfnis, der Gegenwart zu entfliehen, und seiner Sehnsucht nach dem Vergessen, dem Nirwana. Von einem fieberhaften Verlangen nach Liebe getrieben, klammert er sich, wie an Rettungsanker, an einige Frauen an, deren Mitleid ihn aufrecht zu erhalten suchte. Auf einer Reise, die er unternommen hatte, um ein altes Projekt, die Gründung einer rein litterarischen und völlig unabhängigen Revue, zu betreiben, scheint Poe, krank wie er war, und entkräftet durch den Mangel und die beständigen Kämpfe gegen den inneren Feind, der ihn in seiner Gewalt hatte, wieder einmal zu den bedenklichen Präparaten gegriffen zu haben, die ihm schon manchmal Erleichterung verschafft hatten. Man kennt die tragischen Umstände nicht genau, die sein Ende herbeiführten; sicher ist nur, dass er eines Morgens in Baltimore bewusstlos auf einer Bank gefunden wurde, ein menschliches Wrack, dem zwei Tage darauf der Tod den letzten Stoss versetzte. Lange Zeit hat man die Einzelheiten seines Lebens nur in der Entstellung gekannt, in der sie von verleumderischen Biographien geschildert wurden. Trotzdem gewannen seine Werke Verbreitung, fanden auch ausserhalb Amerikas Anerkennung, wurden in Frankreich sogar populär. Denn wie gross auch die pathologische Erregbarkeit und die Schwächen dieses leidensvollen Daseins gewesen sein mögen, so sind ihm doch gewaltige, mit sicherer Kraft gestaltete Werke entsprungen, | |
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bestrickend durch eine Sprache, in der nichts dem Zufall überlassen ist, und durch eine vollendete, klassische Form, der eine reine Schönheit entströmt. Abgesehen von seinen kritischen Artikeln, unter denen der über ‘Das poetische Prinzip’ (1848) erwähnt werden mag, und einer Rhapsodie in Prosa über das Prinzip des Weltalls, ‘Eureka’ (1848), haben den bleibendsten Wert unter seinen Schöpfungen seine Gedichte und Erzählungen. Das Geheimnis ihrer starken Wirkung auf den Leser liegt in ihrem ‘under-current’, jener undefinierbaren tragischen Strömung, die man unter den Sätzen spürt, jenem Beben tiefinnerlichen Lebens, das ihnen eine ausserordentliche Intensität verleiht, verbunden mit jener seltenen, von der metaphysischen Betrachtung durchdrungenen geistigen Kraft, jener Schärfe der Analyse, die dem Seltsamen eine Art von logischer Bestimmtheit und den furchtbarsten Mysterien eine mathematische Realität verleiht. Man kann von Edgar Poe mit noch mehr Recht sagen, was man von Baudelaire gesagt hat: dass er einen neuen Schauder geschaffen hat. Durch den blossen Ton dessen, was er geschrieben hat, versetzt er uns unerbittlich in die unerforschten Tiefen unseres Wesens, in die dunkle Welt, die sich unter dem menschlichen Bewusstsein regt und aus der unsre instinktivsten Handlungen hervorgehen. Er hat gewissermassen unsre Psychologie, den Inhalt unsres Geistes bereichert und mit seinem hellen Blick die Abgründe erleuchtet, die der Mensch in seinem Innern trägt. Mit seinem klaren Verstand und mit seiner ganzen verlangenden Seele wollte er die | |
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tragischen Geheimnisse des Lebens ergreifen und vom Schauder der Abgründe wie von den meist ätherischen Träumen geniessen. Daher die besondere spirituelle Schönheit seiner besten Werke - seiner besten, sagen wir, denn wir müssen hinzufügen, dass einige seiner Erzählungen, entweder ziemlich groteske Phantasien sind oder zu ausschliesslich auf die Nerven wirken -; aber in seinen besten Werken ist zugleich etwas von den flammenden Schrecken der Hölle und von der unbeschreiblichen Schönheit der Engel. Die reinste und musikalischste Essenz dieses Lebens ist in seinen Gedichten enthalten. Dichtungen wie The Raven (1845), Ulalume (1847), Annabel Lee (1849) und so viele andre, sind ein einzigartiges Phänomen sorgsamer, künstlerischer Komposition, unter der jedoch in all seiner ursprünglichen, natürlichen Frische der tiefe Strom der Inspiration, der schöpferischen Kraft rauscht. Unser Jahrhundert weist viele Dicker auf, die ihren dunkelsten Instinkten und Ahnungen Ausdruck zu verleihen gesucht, die sich über die furchtbarsten Abgründe gebeugt haben, um deren erhabene Schrecken zu schildern - so, um nur einen dieser Dichter zu nennen, Victor Hugo. Aber Edgar Poe hat die beängstigendsten Phantome, die sich in ihm erhoben, bemeistert, indem er sie unter die Herrschaft der Schönheit zwang. Indem sie durch seinen lichtvollen Geist zogen, wurden sie mit Schönheit bekleidet, wandelten sie sich in Bilder der Schönheit um. Er hat das Chaos in seinem Innern durch die reinste Musik offenbart. In dieser Harmonie, dieser hohen, spirituellen | |
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aant.Anmut seiner seltsamen Schöpfungen beruht vielleicht die grösste Bedeutung Edgar Poes und liegt die Gewissheit, dass er nicht umsonst gelitten hat. Die beste Ausgabe von Poes Werken ist die von John H. Ingram (Edinburgh, 4 Bde.), dem wir auch die beste Biographie des Dichters verdankten: Edgar Allan Poe, His Life, Letters and Opinions (London).
1899 |
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