Over Werther geschreven...
(1985)–J.J. Kloek– Auteursrechtelijk beschermd
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ZusammenfassungDieser Untersuchung liegt ein zweifaches Thema zugrunde. Zunächst wird der Widerhall erforscht und analysiert, den Goethes Leiden des jungen Werthers in den Jahren zwischen 1775 und etwa 1800 in den Niederlanden gefunden hat. Es handelt sich damit um einen Forschungszweig, der seit gut fünfzehn Jahren ein lebhaftes Interesse erregt: Rezeptionsgeschichte. Mit der Popularität der Rezeptionsforschung ist es aber merkwürdig bestellt. Die Zahl der theoretischen Abhandlungen ist ungleich grösser als die der praktischen Untersuchungen, vor allem, wenn man von den letzteren diejenigen Beiträge abzieht, in denen das Wort ‘Rezeption’ nicht mehr ist als ein modisches Aushängeschild, hinter dem sich eine überwiegend herkömmliche Forschung verbirgt. Diese Diskrepanz von Theorie und Praxis gibt zu denken. Fehlt es an den Praktikern, oder sind die Erwartungen der Theoretiker zu hoch gespannt? Meine Abhandlung hat darum zugleich die Absicht, ein exemplarischer Kasus zu sein: es geht mir nicht nur um die Einsicht in das Wie und Warum der Reaktionen auf Goethes Werther in den Niederlanden, sondern ich möchte auch versuchen, anhand dieses praktischen Falles die Möglichkeiten und die Grenzen der historischen Rezeptionsforschung zu erkunden. Diese doppelte Zielsetzung erfordert eine doppelte Einführung. Zunächst soll die Frage geklärt werden, inwiefern eine neue Untersuchung zu der niederländischen Werther-Rezeption sinnvoll ist. Im ersten Abschnitt lege ich dar, wie sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts ein Bild von den Reaktionen auf Goethes Roman geformt hat. Im allgemeinen stellt man die Sachlage so dar, als habe Werther in den Niederlanden dank der weit verbreiteten, bornierten Empfindsamkeit einen exaltierten Beifall gefunden, wobei jedoch niemand die wirkliche Bedeutung des Werkes verstanden habe. Bei kritischer Überprüfung zeigt sich aber, dass dieses Bild auf nur sehr spärlichem und überdies zum Teil falsch interpretiertem Material beruht. Auch wird dieses Urteil geprägt von einer gewissen Abneigung gegen die Empfindsamkeit einerseits, und andererseits von der Neigung, die zeitenthobene Grösse Goethes hervortreten zu lassen im Kontrast zu dem ihn nicht verstehenden Publikum. Eine neue, breit angelegte Forschung | |
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schien also nicht unberechtigt zu sein. Im Hinblick auf die zweite Zielsetzung sollte der eigentlichen Ermittlung auch eine Geländeaufklärung im Felde der Theorie vorausgehen: was erwartet die Theorie an Ergebnissen, und was bietet sie dem Praktiker, der einen historischen Rezeptionsprozess untersuchen will? Im ii. Abschnitt werden vier bekannte Modelle besprochen, die vor allem auf ihre Verwendbarkeit für eine konkrete Untersuchung geprüft werden: die Modelle von Hans Robert Jauss, Hannelore Link, Gunter Grimm und Felix Vodička. Der Wert des Jauss'schen Programms, so stellt sich heraus, liegt für den an der Praxis interessierten Forscher eher in seiner Funktion als stimulierender Aufruf als in der eines Untersuchungsmodells. Im Grunde handelt es sich um ein ganzes Bündel von Zielsetzungen und somit auch von Forschungstypen, wobei das Interesse an den Reaktionen eines faktischen historischen Publikums nicht im Vordergrund steht. Es ist also nicht zu verwundern, dass Jauss sich nicht vertieft in die Frage, auf welche Weise man einen historischen Rezeptionsprozess und den ihm zugrunde liegenden Erwartungshorizont rekonstruieren soll. Seinen eigenen Versuchen dazu in seinen mehr praktisch ausgerichteten Beiträgen kann schwerlich paradigmatischer Wert zugesprochen werden. Auch Hannelore Link bietet dem Praktiker wenig Hilfeleistungen bei seiner Arbeit. Ausserdem verknüpft sie die rezeptionshistorische Frage ‘Wie sind Texte gelesen worden?’ mit der rezeptionsästhetischen Frage ‘Wie sollen sie gelesen worden?’ Abgesehen davon, dass es ihr meines Erachtens nicht gelungen ist, eine befriedigende Methode zu entwerfen zur Beantwortung der zweiten Frage, droht bei ihrer Arbeitsweise die Gefahr, dass das Studium historischer Rezeptionsprozesse unter den Druck eines normativen Textbegriffes gerät. Die Unbekümmertheit, mit der Link in dervon ihr als Beispiel angeführten deutschen Werther-Rezeption von ‘Unangemessenheit’ und ‘Fehlinterpretation’ spricht, ist in diesem Zusammenhang vielsagend: sie gibt damit im Grunde zu verstehen, Goethes Publikum sollte besser gelesen haben, und diese Haltung kommt einem ernsthaften Interesse am Warum von uns fremd gewordenen Interpretationen nicht zugute. Ich stelle mich darum auf die Seite Gunter Grimms, wenn er den Standpunkt vertritt, dass es für den Rezeptionsforscher wichtiger ist zu untersuchen, zu welchen Interpretationen ein Text geführt hat und wie diese zu erklären sind, als der Frage nachzugehen, inwieweit sie in den Augen des heutigen Forschers adäquat sind. Allerdings legt er den Schwerpunkt der Forschung meines Erachtens zu einseitig auf die | |
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sozialen Determinanten des Rezeptionsprozesses. Der Text als bestimmender Faktor wird nicht gebührend gewürdigt, und auch die - von Jauss freilich überschätzte - literarische Komponente des Erwartungshorizontes erhält bei Grimm zu wenig Konturen. Überdies führt die Einbeziehung der Gesamtheit der soziokulturellen Faktoren zu derart ambitiösen und vielumfassenden Fragestellungen, dass jeder Forschungsentwurf von vornherein unzureichend ist. Dies ist um so mehr der Fall, als Grimm in seinen weiteren Ausführungen mehr Interesse zeigt an weitgehenden terminologischen Verfeinerungen und erschöpfenden Bestandsaufnahmen der theoretischen Modalitäten als an der praktischen Anwendbarkeit seines Modells. Symptomatisch ist übrigens, dass Grimms eigene Untersuchungen von vier konkreten Fällen kaum zu verbinden sind mit seiner Theorie. Der letzte der besprochenen theoretischen Beiträge ist das schon etwas ältere Programm von Felix Vodička. Vodička, der desgleichen der Meinung zugetan ist, der Rezeptionsforscher solle Konkretisationen von literarischen Texten erläutern und nicht prüfen, inwiefern sie ‘adäquat’ sind, weckt durch seinen Sinn für Relativität bei dem Praktiker weniger Unbehagen als namentlich Jauss und Grimm mit ihren viel anspruchsvolleren Programmen. Weniger leuchtet mir Vodičkas Auffassung ein, dass in der Untersuchung die Konkretisationen der Kritiker im Mittelpunkt stehen sollen, weil sie das Sprachrohr des Publikums seien. Das literarische Leben, auch das der Oberschichten, ist, so scheint mir, fast immer viel differenzierter gewesen, als in der Kritik zum Ausdruck kommt, und deshalb muss eine repräsentative Rezeptionsuntersuchung wesentlich breiter angelegt werden, als Vodička es sich vorstellt. Dies bringt nicht nur einen sehr grossen Zuwachs an zu untersuchenden Quellen mit sich; daraus ergeben sich auch interpretative Schwierigkeiten. Sobald man sich nicht mehr auf die Konkretisationen, in denen Meinungen begründet werden, beschränkt, sondern auch beiläufige Aussagen über das betreffende Werk in die Untersuchung einbezieht, wird man sich oft die Frage nach dem Aussagewert dieser Quellen stellen müssen. Und schliesslich kann man bei Vodičkas Programm vielleicht noch die Randbemerkung machen, dass er die ästhetischen Aspekte der Konkretisation zu sehr hervorhebt, während man bei der Rezeption eines Romans im 18. Jahrhundert z.B., und ganz sicher bei Werther, davon ausgehen kann, dass die moralischen und nicht die ästhetischen Qualitäten im Vordergrund stehen. Das soeben erwähnte Zurückbleiben der Praxis der Rezeptionsforschung gegenüber der Theorie ist also wenigstens zum Teil der Tat | |
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sache zuzuschreiben, dass es den Theoretikern noch nicht gelungen ist, ein Modell zu entwerfen, das dem Praktiker ausreichende Anwendungsmöglichkeiten bietet. Vielleicht kann die vorliegende Untersuchung einen Beitrag liefern zu einer mehr praxisbezogenen Modellbildung. Im iii. Abschnitt wird der Forschungsverlauf beschrieben und begründet. Zunächst habe ich versucht, alles zu ermitteln, was in den Niederlanden über Werther geschrieben worden ist, von der Abhandlung bis zur beiläufigen Anspielung. Um dem Leser die Möglichkeit zu geben, meine Schlussfolgerungen zu überprüfen und sich einen Eindruck von der Art des Materials zu verschaffen, werden diese Aussagen im zweiten Teil dieses Buches veröffentlicht.Ga naar voetnoot* Es bedarf wohl keiner Erklärung, dass Vollständigkeit nie zu erreichen ist. Selbstverständlich wurden die Übersetzungen von Werther, die Anzeigen und die Rezensionen des Werkes untersucht, zudem habe ich alle literarischen Zeitschriften, Abhandlungen u.s.w. durchgenommen. Sodann erreicht man jedoch den Punkt, an dem die Forschung nicht mehr systematisch durchgeführt werden kann und man sich, im Vertrauen auf Fachkenntnis und Intuition und in der Hoffnung auf einiges Glück, mit Stichproben begnügen muss. Noch unbefriedigender ist es, dass eine mehr oder weniger systematische Ermittlung der handschriftlichen Quellen ganz ausgeschlossen ist. Vorläufig ist der Forscher hier grossenteils von Zufallstreffern abhängig. Eine Analyse des Materials findet man im iv. Abschnitt. Zunächst zeichnen sich in der Werther-Rezeption drei Phasen ab: 1775 bis 1785, die Periode, in der der Roman zwar in den Niederlanden bekannt geworden ist - die erste Übersetzung erscheint 1776 - aber noch kaum wahrnehmbar die Aufmerksamkeit auf sich zieht; 1786 bis 1795, das Jahrzehnt, in dem das Interesse für Werther deutlich einen Gipfel erreicht; schliesslich das Ausklingen nach 1795, wenn das Werk allmählich Geschichte wird. Für jeden dieser drei Zeitabschnitte wird das Material unter zwei Gesichtspunkten untersucht: (a) Was sagt es aus, sei es direkt, sei es indirekt (z.B. durch den Zusammenhang, in dem die Aussagen stehen), über Bekanntheit und Popularität von Werther? Und (b) Welche Ansichten über diesen Roman lassen sich daraus entnehmen? | |
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In bezug auf die erste Frage ist zu sagen, dass sich in dem Material deutlich die zunehmende Bekanntheit des Werkes abzeichnet. Zunächst gibt die relativ grosse Zahl von neuen Auflagen der Werther-Übersetzungen und von Wertheriaden einen quantitativen Anhaltspunkt (wobei man nicht vergessen darf, dass eine nicht geringe Anzahl Leser das Buch auf französisch oder wohl auch auf deutsch gelesen haben wird). Zudem nimmt, vor allem nach 1785, die Zahl der Verweise auf den Roman stark zu, und das Quellenmaterial wird reichhaltiger. Aus der Art, wie dann über Werther gesprochen wird, geht hervor, dass das Werk als bekannt vorausgesetzt wird. Aufgrund von allerlei Hinweisen lässt sich vermuten, dass Werther auch zu Lesergruppen, die nicht zu dem üblichen Kreis von Romanlesern gehörten, vorgedrungen war. Nach 1795 nimmt das Interesse jedoch schnell ab, man kennt das Werk, aber als ein merkwürdiges Phänomen aus der Vergangenheit. Aus all dem kann mit Fug und Recht geschlossen werden, dass Werther in den Niederlanden eine Zeitlang aussergewöhnlich populär gewesen ist - aber wenn wir die in den Quellen geäusserten Ansichten über den Roman betrachten, zeigt sich, dass die Bewunderung auffallend wenig Spuren hinterlassen hat. In dem gesamten Quellenmaterial steht die Kritik an Werther stark im Vordergrund, eine Kritik, die, wie zu erwarten war, auf moralischer Ebene liegt. Namentlich Werthers Liebesauffassungen erregten Widerspruch, weil sie, so warnte man immer wieder, jungen Mädchen überspannte Erwartungen einflössen würden und jungen Männern einen Freibrief für unrechtmässige Ansprüche ausstellten. Gerade die Heftigkeit dieses Protestes ist ein Hinweis darauf, dass es eine lebendige Anteilnahme an Werthers Geschichte gegeben haben muss, die sich jedoch kaum direkt beobachten lässt. Offenbar gehörten die Bewunderer zu einer Gruppe, die - wohl aufgrund ihres Alters - kaum Vertreter hatte in der ‘literarischen Öffentlichkeit’. Nahezu die einzigen Äusserungen ihres Beifalls, die uns überliefert sind, sind einige einfache Werther-Gedichte. Aus diesen geht eindeutig hervor, dass es in der Tat Werthers Liebe war, die seine Bewunderer so sehr ansprach. Der Nachdruck, mit dem diese Liebe, häufig in idealisierter Form, den trivialen Umständen gegenübergestellt wird, die derartige erhabene Gefühle nicht gestatteten, weckt die Vermutung, dass die Begeisterung für Werther mehr war als eine Modelaune, dass sie genährt wurde von einem wachsenden Unfrieden der Jugend mit den herrschenden pragmatischen, materialistischen Ansichten von Liebe und Ehe. In diesem Falle wäre die empfind | |
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same Aneignung des Romans in erheblichem Masse von soziokulturellen Faktoren bestimmt. Diese Hypothese, deren Bedeutung eine viel grössere Reichweite hat als die der Werther-Rezeption, erfordert eine eingehendere Untersuchung. Für die Bewunderer war Werther also die Verkörperung des erhabenen Gefühls, für die Kritiker die überspannte, auf Abwege führende Empfindsamkeit selbst. In den Jahren, in denen die Diskussion über Werther zur Entfaltung kommt, entbrennt in den Niederlanden der Streit um die Empfindsamkeit, und diese beiden Phänomene sind selbstverständlich eng miteinander verwandt (ohne dass diese Verwandtschaft sich leicht auf eine Formel bringen liesse). Häufig finden sich die Hinweise auf Werther in Auseinandersetzungen über die Empfindsamkeit. Dies hat zur Folge, dass die jeweiligen Meinungen sich einerseits stark profilieren, aber andererseits wenig nuanciert sind und überdies nur selten eingehender erläutert werden. Augenscheinlich ist in bezug auf die Empfindsamkeit ein Polarisationsprozess eingetreten, in welchem Goethes Roman und dessen Hauptperson als Prüfstein dienten: man bewunderte Werther als feinfühligen Protagonisten der Empfindsamkeit oder lehnte ihn als solchen ab; eine Rechtfertigung dieser Position war unnötig und ein nuancierter Blick kaum möglich. Bewunderer und Kritiker des Werther kamen zu gegensätzlichen Ergebnissen bei der Bewertung, aber nicht bei der Interpretation des Romans. Beide Gruppen hielten Werther für eine Romanfigur, die als Vorbild oder Ideal beabsichtigt war. Es gab indes einzelne Kritiker, die die Möglichkeit offenliessen, Goethe habe Werther nicht als nachahmenswert hingestellt. Das veranlasste sie jedoch nicht, ihr Urteil zu mildern. Die Tatsache, dass die beanstandete Interpretation möglich war, verurteilte das Werk ihrer Ansicht nach auf jeden Fall. Die Werther-Kritik zeigt exemplarisch, wie in den landläufigen romanpoetischen Auffassungen dem Autor vorbehaltslos die moralische Verantwortlichkeit für seine Leser aufgebürdet wurde. Vereinzelt aber stösst man auf Aussagen, die nicht in die Schablone von moralischer Kritik gegenüber empfindsamer Bewunderung passen. Werther, so urteilen diese Leser, stellt nicht ein Vorbild zur Nachahmung dar, sondern lässt überzeugend sehen, wie es einem bestimmten Charakter unter bestimmten Umständen ergeht. Diese durchaus positive Wertung (die bei einem ihrer Vertreter angeregt zu sein scheint von Blanckenburgs Rezension von Werther) unterscheidet sich also genauso grundsätzlich von der empfindsamen Bewunderung wie von der moralischen Kritik. Der Keim einer in den Niederlanden noch ganz | |
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neuen Romanauffassung wird hier sichtbar. Vom Autor wird im Prinzip kein moralischer Idealismus mehr gefordert, sondern psychologischer Realismus; der Leser trägt selbst die Verantwortlichkeit, über die Qualitäten der Personen zu entscheiden. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wird dieses Werther-Bild, und überhaupt diese Auffassung von der Gattung Roman, allgemeinere Anerkennung finden. In einem Anhang zu diesem Abschnitt wird versucht, aufgrund von Angaben in Auktionskatalogen die Verbreitung des Werther in privaten Büchersammlungen festzustellen. Dieser Teil der Forschung war sehr unergiebig: nur einzelne Hinweise sind mir begegnet, und selbst im Nachlass der Autoren, die über das Werk geschrieben haben, war oft nichts zu finden. Offenbar hatte Werther nur geringe Überlebenschancen, jedenfalls viel weniger als die zum Vergleich mitinventarisierten Romane Richardsons, deren erbaulicher Charakter nicht in Frage stand. Der v. und letzte Abschnitt enthält die Bilanz der Untersuchung. Auf der Habenseite können einige unzweideutige Ergebnisse verzeichnet werden. Das Bild der Werther-Rezeption, das sich jetzt herausgebildet hat, stützt sich auf sehr viel mehr Material als die herkömmliche Vorstellung und ist folglich ungleich vielseitiger und nuancierter. Die gangbaren Darstellungen wurden in wesentlichen Punkten korrigiert, sowohl was den Rezeptionsverlauf als was die Differenzierung der Standpunkte betrifft. Unsere Einsicht, nicht nur in die Werther-Rezeption, sondern in den jeweiligen literarischen Kommunikationsprozess überhaupt, hat sich unleugbar vertieft. Dazuhin fordert diese Untersuchung zu weiteren Forschungen heraus, namentlich auf dem Gebiet der sozial-kulturellen Determinanten der empfindsamen Liebesauffassung sowie auf dem der Entwicklung der romanpoetischen Ansichten. Historische Rezeptionsforschung hat sich also unter gewissen Voraussetzungen als durchaus wertvoll erwiesen. Andererseits stehen beträchtliche Debetposten offen. Ein massgeblicher Befund war, dass wesentliche Fragen unbeantwortet geblieben sind. Trotz aller intensiven Nachforschungen stellte es sich zum Beispiel als unmöglich heraus, die Kreise der empfindsamen Leser und die Intensität ihrer Bewunderung zu bestimmen. Was die Kritik an Werther betrifft,so gibt es gelegentlich Hinweise, die vermuten lassen, dass sich hinter den vielen stereotypen Ablehnungen nuanciertere Meinungen verbergen, denen jedoch nicht beizukommen ist. Eine getreue historische Rekonstruktion lässt sich also nur teilweise verwirklichen. Drei komplizierende Faktoren sind hier insbesondere zu nennen: | |
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1. Die Erforschung der Werther-Rezeption hat zwar ein reiches Informationsmaterial ergeben; auffallend ist aber, dass die meisten Aussagen so wenig Auskunft bieten. Wohl lässt sich in der Regel ein Pauschalurteil daraus ableiten; selten wird jedoch dargelegt, was gewürdigt oder abgelehnt wird, und eine Begründung findet sich so gut wie nie. Kennzeichend ist, dass gerade die Eigenschaft des Werther, durch die er so viel mehr Teilnahme erregt haben muss als andere empfindsame Romane, nämlich die literarische Gestalt, fast nie erwähnt wird. Aus der niederländischen Rezeption lässt sich nicht einmal erkennen, dass es sich um einen Briefroman handelt. 2. Aus dem Umstand, dass die Untersuchung sich notwendigerweise hauptsächlich auf öffentliche Aussagen beschränkte, folgt zweifellos eine drastische Entstellung des Bildes. Jede veröffentlichte Meinung steht in einem bestimmten Zusammenhang, und besonders von den literarischen ‘opinion-leaders’ des 18. Jahrhunderts darf man annehmen, dass sie nicht sosehr ihre eigene, private Ansicht äusserten, als vielmehr eine Ansicht, von der sie fanden, das Publikum sollte sie vertreten. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eines der wenigen persönlichen Stücke in dem Quellenmaterial, nämlich ein Brief von Hemsterhuis an die Gallitzin. Es zeigt sich, dass der damals 68-jährige Philosoph von Werther hingerissen ist. Undenkbar wäre es, dass er diese Reaktion in einer öffentlichen Stellungnahme auch nur hätte durchschimmmern lassen. 3. Der Rezeptionsforscher wird sich in erster Linie auf dasjenige richten, was über ein Werk ausgesagt wird. Aber auch die Tatsache, dass gewisse Aussagen nicht gemacht werden, kann aufschlussreich sein, und gerade die Feststellung, dass das betreffende Werk in einem bestimmten Kontext nicht genannt wird, ist möglicherweise vielsagend. Aber wie man solche negativen Ergebnisse deuten soll, ist äusserst problematisch. Dies kann anhand von zwei Beispielen verdeutlicht werden: erstens die Abwesenheit von Erwähnungen des Werther in allen niederländischen Abhandlungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts über den Selbstmord, und zweitens das Fehlen von Anspielungen auf den Roman in einigen der bekanntesten Angriffe auf die Empfindsamkeit. Die endgültige Schlussfolgerung kann also wohl sein, dass Rezeptions-forschung ohne jeden Zweifel einen wertvollen Beitrag zur Vertiefung der Einsicht in historische Kommunikationsprozesse liefert, aber auch, dass man die Möglichkeiten dieses Forschungszweigs nicht überschätzen soll. Sie bringt uns dazu, wenigstens teilweise Verständnis | |
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aufzubringen für uns fremdgewordene Reaktionen auf ein literarisches Werk und, sozusagen, deren eigene Adäquatheit zu verstehen. Andererseits bleibt nur zuviel übrig, das sich der Beobachtung der späteren Forscher entzieht. Dies scheint mir ein Befund zu sein, der nicht nur spezifisch ist für den hier ermittelten Kasus, sondern der damit zusammenhängt, dass der heutige Literarhistoriker zum Teil andere Auskunft erwartet, als was die früheren Rezipienten mitgeteilt haben. Daraus folgt zum ersten, dass die Zielsetzungen der historischen Rezeptionsforschung viel bescheidener sein sollten als die bis jetzt in der Theorie formulierten Ansprüche. Zweitens wird aus dieser Untersuchung ersichtlich, dass Rezeptionsforschung nie eine autonome literarhistorische Methode sein kann: Analyse und Interpretation des überlieferten Materials erfordern eine Kenntnis und ein Verständnis der betreffenden Epoche, die auch auf anderem Wege erworben werden müssen. Und drittens möge deutlich geworden sein, dass eine derartig breit angelegte Untersuchung wie die vorliegende nur für eine beschränkte Zahl von Werken lohnend sein kann. Rezeptionsgeschichte ist keine Alternative für andere Arten literarhistorischer Forschung, sondern vermag, anhand von exemplarisch ausgewählten Untersuchungs-objekten, eine wertvolle Ergänzung zu bieten.
In der Beilage findet man die Bibliographie und Beschreibung der niederländischen Werther-Übersetzungen des 18. Jahrhunderts. |
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