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Ausblick
So liegen sie nun vor uns, jene Formen, von denen wir zu Anfang sagten, daß sie sich in einem ‘andern Aggregatzustand’ befinden als die eigentliche Litteratur, und daß sie von den Disziplinen, die den Aufbau von den sprachlichen Einheiten und Gliederungen bis zur endgültigen künstlerischen Komposition beschreiben, nicht erfaßt werden - jene Formen, die - es scheint uns wichtig, darauf noch einmal hinzuweisen - so sehr in der Sprache verankert sind, daß sie auch dem ewigen Gewissen der Sprache, der Schrift, zu widerstreben scheinen.
Wir haben gesehen, wie sich alle diese Formen sowohl im Leben wie in der Sprache vollziehen, sowohl auf der Ebene des Seins wie auf der Ebene des Bewußtseins wahrgenommen werden;
wie sie sich jedesmal aus einer bestimmten Geistesbeschäftigung ableiten lassen;
wie wir sie als Reine Einfache Form und als Vergegenwärtigte Einfache Form erkennen können, und wie sich dann endlich eine Bezogene Form herausbildet;
wie schließlich jedesmal die Einfache Form ihre Macht auf einen Gegenstand übertragen, der Gegenstand mit der Macht der Form geladen werden kann.
Wir hätten das alles vielleicht systematischer darstellen, das Gemeinsame aller Einfachen Formen, ihren inneren Zusammenhang, von vornherein schärfer hervorheben, schematischer vermitteln können. Wir haben es jedoch vorgezogen, sie jedesmal sozusagen aus sich selbst zu entwickeln, jede in ihrer eigenen Welt zu belassen und auf das bindend Allgemeine
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immer nur dort hinzuweisen, wo es sich aus dem Gang der Einzeluntersuchung selbstredend ergab. Es ist die Gefahr einer zergliedernden Arbeit, daß sie uns veranlaßt, die Glieder in ihrem Verhältnis zur Gesamtheit falsch zu bewerten; es ist das Verhängnis aller zerlegenden Arbeit, daß, wenn sie vollzogen ist, das ‘Bild der schönen Welt’ zerbrochen vor uns liegt. Wenn wir dennoch diesen Weg wählten, so geschah das, weil wir gegen einen lässigen Sprachgebrauch zu kämpfen hatten, der - wir haben dies aus den Wörterbüchern gesehen - Worte mit verschiedener Bedeutung nicht mehr streng zu unterscheiden vermochte, und gegen eine Denkart, in der Begriffe zu verblassen und zu verschwimmen begonnen hatten. Trennen und Umreißen schien hier die erste Aufgabe, Aufbau nach einem wohlerwogenen Schema cura posterior.
Ein Vergleich der Einfachen Formen untereinander im tieferen Sinne müßte also unsere nächste Aufgabe bilden.
Dazu ist aber vieles nötig. Nicht selten habe ich im Laufe dieser Abhandlungen darauf hingewiesen, wie an bestimmten Punkten Einzeluntersuchungen und Erweiterungen einsetzen sollten. Ich hätte das noch viel öfter tun können - wohl auch tun sollen. Bei Untersuchungen wie den unsrigen spürt man auf Schritt und Tritt, was fehlt; immer wieder zeigen sich Lücken, und wenn man einen Teil überschaut, kommt der Stoßseufzer: wir stehen noch in den Anfängen; dort, wo wir aufhören, hat die eigentliche Arbeit erst einzusetzen.
Wir haben uns bei der Bestimmung der Formen in einem verhältnismäßig kleinen Kreise bewegt. Wir sprachen von der Antike, von der Völkerwanderung, dem Mittelalter und der Neuzeit. Es war unser Bestreben, nachzuweisen, wie das, was sich in einem Abschnitt dieser Zeitspanne - womöglich in schärfster Ausprägung - zeigte, für die ganze Zeitspanne - wenn auch oft weniger ausgeprägt - Gültigkeit besaß: wie die Geistesbeschäftigung, aus der sich eine Form ergab, wenn auch nicht immer im gleichen Maße wirksam, dennoch unaufhörlich in dieser Zeitspanne vorhanden und allgegenwärtig war, Andererseits haben wir von den Völkern des klassischen Altertums, von Germanen und Romanen, von Semiten und Indem, seltener auch von Naturvölkern geredet. Auch so versuchten
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wir zu zeigen, daß überall die gleichen Geistesbeschäftigungen herrschten, daß sich aus ihnen die gleiche Form ergab, und daß nur die Vergegenwärtigung jeweilig einen anderen Charakter annehmen konnte. Aber die Spanne der Weltgeschichte ist zeitlich, die Ausdehnung der Völker, die bei dieser Geschichte beteiligt sind, räumlich sehr viel größer als das, was wir in unseren Kreis einzubeziehen in der Lage waren. Ehe wir von einer Unaufhörlichkeit und Allgegenwärtigkeit im eigentlichen Sinne reden, ehe wir eine Geistesbeschäftigung in ihrer Allgemeingültigkeit und damit Sinn und Wesen der Form - auch aus den meist verschiedenen Vergegenwärtigungen - begreifen können, wird es nötig sein, unseren Kreis zeitlich und räumlich beträchtlich zu erweitern.
Daß uns bei dieser Erweiterung Schwierigkeiten bevorstehen - darüber sind wir nicht im Zweifel. Sie liegen in der eben erwähnten Charakterverschiedenheit der Vergegenwärtigungen.
Der Weg, die einzelnen Formen zu erkennen, zu unterscheiden, ging über die Vergegenwärtigte Form. In der Vergegenwärtigung lag uns zunächst die Form vor; von ihr aus drangen wir zu der Einfachen Form als solcher durch; in ihr wiederum erfaßten wir die Geistesbeschäftigung. Daß dieser Weg möglich war, hatte uns Jacob Grimm bewiesen: als eine ganze Zeit nicht mehr imstande war, die Einfache Form Märchen in den Vergegenwärtigungen zu erkennen, die sich von der Grundform entfernt, mit Kunstformen verbunden hatten, hob er mit sicherm Griff die Eigenart der Einfachen Form, das ‘Sichvonselbstmachen’, hervor. Wir haben versucht, seinem Beispiel zu folgen - aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch die ‘Entdeckung des Märchens’ in einem kleinen, dem Forscher völlig vertrauten Kreise begann.
Wird es nun, wenn wir in weit zurückliegenden Zeiten oder bei ferner liegenden Völkern - sagen wir bei den Ägyptern, den Chinesen, den nordamerikanischen Indianern - Vergegenwärtigungen jeder Art sammeln und zu beobachten versuchen, ob sich dort, was wir im eigenen Kreise fanden, bestätigt, immer möglich sein, in diesen im Charakter von den unsrigen
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so verschiedenen Vergegenwärtigungen die Einfachen Formen als solche wiederzuerkennen?
Wir wollen beispielsweise daran erinnern, daß wir die Geistesbeschäftigung, die zur Einfachen Form Legende führt, im Mittelalter in einer Heiligenvita, in der Antike in einem Teil der Epinikien, in der Neuzeit in einem Sportbericht vergegenwärtigt fanden. Sollte nun eine chinesische oder nordamerikanische Vergegenwärtigung der Einfachen Form Legende im Charakter ebensoweit von unsern sämtlichen Vergegenwärtigungen abweichen, wie ein Sportbericht von einer Heiligenvita, so wird es gewiß nicht leicht sein, ihre Selbigkeit festzustellen.
Wir besitzen, wollen wir uns nicht mit Äußerlichkeiten begnügen, sondern zu gültigen Ergebnissen kommen, hier nur ein Mittel.
Wiederholen wir noch einmal: unter der Herrschaft einer bestimmten Geistesbeschäftigung verdichten sich aus der Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens gleichartige Erscheinungen; sie werden von der Sprache zusammengewirbelt, zusammengerissen, zusammengepreßt und als Gestalt umgriffen; sie liegen in der Sprache vor uns als nicht weiter teilbare, von der Geistesbeschäftigung geschwängerte, mit der Geistesbeschäftigung geladene Einheiten, die wir die Einzelgebärden der Sprache, der Kürze wegen Sprachgebärden, genannt haben.
Es ist allen Einfachen Formen gemeinsam, daß sie sich durch diese Einzelgebärden in der Sprache verwirklichen - es sind andererseits diese Einzelgebärden, die es uns als mit der Macht einer Geistesbeschäftigung geladene und dadurch morphologisch erkennbare sprachliche Einheiten ermöglichen, die Einfachen Formen voneinander zu trennen, sie zu unterscheiden.
Neben dem Vergleich aller Einfachen Formen als solcher kommt also als weitere Aufgabe: die Untersuchung von der Tätigkeit, dem Dienst und dem Bau der Sprachgebärden in jeder einzelnen Einfachen Form und wiederum der Vergleich der Sprachgebärden der verschiedenen Einfachen Formen untereinander. Wenn wir die Sprachgebärden in den Sprachen
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unseres Kreises festgelegt haben und den inneren und äußeren Sprachbau weiterer Kreise erlernt, müssen wir beobachten, ob und inwieweit in jenen anderen Sprachen, dort, wo wir die Geistesbeschäftigung zu erkennen glauben - zwar mit gewissen Änderungen und Verschiebungen, aber trotzdem in, ihrem Sinne nach, vergleichbarer Weise - die Sprachgebärde sich betätigt.
Ich habe in diesen Abhandlungen diesen Weg nur dann und wann andeuten können. Eine folgerichtige Untersuchung der Sprachgebärden würde aber wiederum das Verhältnis der Einfachen Formen untereinander neu beleuchten. Sagten wir soeben, daß es vielleicht schwer halten würde, eine chinesische oder eine nordamerikanische Legende als solche zu erkennen, so können wir dem gegegenüber vermuten, daß es auch bei verhältnismäßig geringen Kenntnissen von dem inneren und äußeren Bau des Chinesischen oder der Algonkinsprachen, möglich wäre, in ihnen den Spruch festzustellen. Wir können das leicht erklären. In unserer Legende bildet die Sprachgebärde, grob gesagt, nur einen Teil der Form. Gewiß den gestaltenden Teil, den Teil, in dem die Geistesbeschäftigung dem Sinn und dem Wesen nach vertreten ist, den Teil, an dem wir die Legende als Legende erkennen. Aber trotzdem liegen zwischen diesen einzelnen Sprachgebärden andere Teile, die vermittelnd oder verbindend die Geistesbeschäftigung weder in dem Maße erfüllen, noch in der Weise von ihr erfüllt sind, wie das bei den eigentlichen Sprachgebärden der Fall ist. Ähnliches beobachteten wir in allen jenen Formen, die die Gestalt größerer fortlaufender Erzählungen annahmen, so in der Sage und im Märchen. Wir haben bei dem Kasus sogar darauf hingewiesen, wie mit Hilfe der ‘auswechselbaren’ vermittelnden Teile die Einfache Form in eine Kunstform übergeführt werden kann. Auf der größeren Beweglichkeit jener Teile beruhen wesentlich die Charakterunterschiede, die wir in den verschiedenen Vergegenwärtigungen der gleichen Einfachen Form
wahrnahmen. Dagegen umfaßte im Spruch die Sprachgebärde als solche die ganze Form; sie band sie so fest zusammen, daß hier kein Wort geändert werden konnte, daß das Gebilde als Ganzes fast den Eindruck machte, ein ‘persön- | |
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liches Gepräge’ zu besitzen. Gerade dadurch war der Spruch leicht erkennbar.
Dürfen wir das nun für unsere Legende verallgemeinern? Dürfen wir annehmen, daß diese Verschiedenheiten der Betätigung der Sprachgebärde den Formen als solchen eigentümlich sind und daß immer und überall in der Legende zwischen den einzelnen Sprachgebärden verbindende Teile vermitteln, während immer und überall im Spruch die Sprachgebärde als solche das Ganze erfaßt?
Nur eine erweiterte, vertiefte Untersuchung über Tätigkeit, Dienst und Bau der Sprachgebärde kann hier die Antwort bringen. Es kann sich herausstellen, daß einige Formen so beschaffen sind, daß in ihnen die Sprachgebärden den sinntragenden Leitfaden bilden, durch den unter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung ein größeres Gefüge eindeutig bestimmt und zusammengehalten wird, während andere Formen die Eigenheit besitzen, sich als Ganzes nur in der Sprachgebärde selbst verwirklichen zu können. Es kann aber auch so sein, daß sämtliche Einfache Formen sich eigentlich und ursprünglich nur in der Sprachgebärde verwirklichen, und daß die vermittelnden und verbindenden Teile bei einigen auf einem Wege, der zur Kunstform führt oder der Kunstform entnommen wurde, hinzugekommen sind. Stimmt das erstere, so gehören auch jene vermittelnden und verbindenden Teile zur Geistesbeschäftigung und zur Einfachen Form als solcher; ist das letztere der Fall, so wären sie, wo sie vorhanden sind, nur ein Mittel zur Vergegenwärtigung.
Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir durch die Beobachtung der verschiedenen Tätigkeiten der Sprachgebärden hier schon eine Möglichkeit gewonnen, unsere Formen einzuteilen. Je nach dem Fehlen oder Vorkommen der vermittelnden und verbindenden Teile und je nach dem Verhältnis der eigentlichen Sprachgebärden zu jenen Teilen können wir sie in Hinsicht auf den Umfang der Form als Großformen und Kurzformen, in Hinsicht auf die Bewegung als fortlaufende und anhaltende Formen, in Hinsicht auf ein Gerichtetsein nach außen oder nach innen als offene oder geschlossene Formen bezeichnen. Gehören mit den
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Sprachgebärden auch die vermittelnden und verbindenden Teile zur Einfachen Form selbst, so wäre diese Einteilung grundsätzlich; gehören sie nur zur Vergegenwärtigung, so würde die Einteilung immerhin für diese von Wichtigkeit sein.
Bei der Sprachgebärde hat unsere Untersuchung von neuem einzusetzen. Durch die Sprachgebärde können wir - wenn wir sie nicht so, wie es in der sogenannten Motivforschung allzuoft geschehen ist, äußerlich und mit ungenügenden Sprachkenntnissen harmlos aufzählen und gruppieren, sondern wenn wir sie als letzte Einheit, in der sich eine gestaltbildende Geistesbeschäftigung kundtut, im tiefsten Sinne sprachlich deuten - den Bau, den wir von außen her vollzogen haben, von innen heraus noch einmal vollziehen. |
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