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Einführung
I.
Die Litteraturwissenschaft ist dreifach gerichtet. In einer etwas abgegriffenen Terminologie heißt das: sie besitzt eine ästhetische, eine historische und eine morphologische Aufgabe. Wollen wir uns deutlicher ausdrücken, so sagen wir: die Litteraturwissenschaft versucht eine litterarische Erscheinung ihrer Schönheit, ihrem Sinn und ihrer Gestalt nach zu deuten.
Obwohl nun diese drei bestimmt sind, eine Dreieinheit zu bilden, so gilt doch auch hier der Spruch: getrennt marschieren und vereint schlagen. Anders gesagt: so sehr diese drei bestimmt sind, zusammen die litterarische Erscheinung in ihrer Totalität zu erfassen, so arbeitet doch jede nach einer eigenen Methode.
Auch scheint es, wenn wir die Geschichte der Litteraturwissenschaft überschauen, als ob jede dieser Methoden zeitweise geneigt ist, die Hegemonie an sich zu reißen.
Ein Teil der Litteraturwissenschaft des 18. Jahrhunderts war hauptsächlich ästhetisch eingestellt; sie macht von Christian Wolff bis Kant in allen Gegenden Europas die Strömungen und Gegenströmungen mit, die die ‘Lehre von dem Schönen’ in jener Epoche bewegen. Sehen wir von ihren allgemeinen Betrachtungen über das Wesen des Schönen selbst ab und beschränken wir uns auf das, was über dessen Erfindung, Beurteilung und Anordnung ausgesagt wurde, so hat uns die ästhetische Richtung, oder da ein Plural hier am Platze scheint, so haben uns die ästhetischen Schulen die Lehre von den Gattungen beschert. Ihre Vertreter haben mit Fleiß und Scharfsinn die Gattungen des Lyrischen, Epischen, Dramatischen und Didaktischen auf ihre ästhetische Gesetzmäßigkeit und auf ihre
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ästhetische Wirkung hin erforscht; sie haben innerhalb dieser Hauptgattungen die Untergattungen von Elegie und Ode, Epos und Roman, Lustspiel und Trauerspiel, Lehrgedicht und Epigramm - et alia talia - wiederum vom ästhetischen Standpunkt aus abzugrenzen und zu bestimmen versucht. An Vorwürfen gegen ihre Methode hat es nicht gefehlt. Hier heißt es, sie wäre deduktiv vorgegangen: anstatt von den Kunstwerken selbst auszugehen und aus deren Betrachtung zur Einsicht in das Wesen der Kunst zu gelangen, hätte sie ihre Sätze rein spekulativ aufgestellt, um sie erst später auf die Tatsachen anzuwenden. Bei andern wird ihr ‘Aufklärertum’ getadelt: sie hätten das Irrationale in der Kunst verkannt, indem sie auch ‘dichterisches Schaffen’ als eine Modifikation des Denkens betrachteten und der ‘Vernunft’ die höchste Richterstelle einräumten.
Inwieweit solche Vorwürfe die Methode selbst treffen, inwieweit sie auf einem Mißverstehen beruhen, das bei Vertretern einer andern Richtung, bei Anhängern einer andern Methode unvermeidlich erscheint, bleibe dahingestellt. Fruchtbarer ist es, darauf hinzuweisen, daß die Ästhetiker des 18. Jahrhunderts trotz gegenseitiger Polemik in ihrer Gesamtheit einen beachtenswerten Versuch gemacht haben, das, was seit dem Altertum an Theorie der Kunst überliefert worden war, der Denkart einer neuen Zeit anzupassen, und daß sie, indem sie sich bemühten, gewisse Gattungsbegriffe zu bestimmen und zu der ästhetischen Bedeutung jener Gattungen selbst durchzudringen, nicht nur die Litteraturwissenschaft sondern auch die Litteratur einen Schritt weiter gebracht haben.
Denn noch Eines darf nicht vergessen werden: die ästhetische Litteraturwissenschaft des 18. Jahrhunderts ist in allen ihren Schulen fest überzeugt gewesen, durch ihre Theorie einen tätigen Einfluß auf das Leben - in casu auf die gleichzeitige Kunst - ausüben zu können und zu müssen. Was Gottsched und die Schweizer, was die Schotten und Engländer, was Marmontel und die Enzyklopädisten in Frankreich, und was in Deutschland Johann Adolf und Johann Elias Schlegel, Mendelssohn, Lessing, Sulzer und viele andere, jeder in seiner Weise, suchten, war letzten Endes immer wieder eine leistungsfähige
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Poetik, ein bündiges System der Dichtkunst, das, wie auch abgeleitet, jedenfalls für die Entwicklung der zeitgenössischen Nationalpoesie Gültigkeit beanspruchte.
Neben dieser pragmatischen Ästhetik finden wir - ebenfalls schon im 18. Jahrhundert - eine Litteraturwissenschaft, die den Sinn des Kunstwerks deutet; und zwar geht sie bei ihrer Deutung bekanntlich von dem Begriff Genie aus. Liegen auch die Anfänge dieser Richtung schon in der Renaissance, so kommt sie doch erst in der Frühromantik zur vollen Blüte. Sie stellt der ars poetica eine ars poetae, oder der Poetik einen Poeten gegenüber. ‘Dichter’ ist der Inbegriff von Genie, Dichtung heißt Schöpfung des Genies. Genie ist ‘eine das Normale allerseits überragende, urwüchsige, angeborene geistige Begabung, weder zu erlernen noch zu erwerben’. Im Genie finden sich erfinderische Phantasie und originelle Gestaltungskraft in einer Weise und in einem Maße zusammen, daß für das Schaffen des Genies nur der Ausdruck Schöpfer im tiefsten Sinne adäquat erscheint. Gewiß - die Ausarbeitung des intuitivschöpferisch Erzeugten erfordert Reflexion, Planmäßigkeit, Übung, aber das Erste, das Wesentliche ist und bleibt die Vollkommenheit der Geistesanlage. Das Kunstwerk erhält seinen Sinn durch die Tat des Genies, nicht anders als wie die Welt ihren Sinn durch die Tat ihres Schöpfers erhält.
Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung des Geniebegriffs zu verfolgen. Wir wollen aber, da es für den Werdegang litteraturwissenschaftlicher Methodik nicht ohne Wichtigkeit ist, erwähnen, daß, wo wir in Deutschland geneigt sind zu glauben, dieser Begriff habe in der mit Recht oder mit Unrecht so genannten Periode des ‘Sturm und Drang’ seine stärkste Ausprägung gefunden, tatsächlich England das Land ist, in dem wir ihn in seiner einheitlichen und ununterbrochenen Entfaltung am besten beobachten können, und zwar auf einer Linie, die von Shaftesbury bis Shelley führt. Von England über Frankreich hat der Geniebegriff dann im 19. Jahrhundert auf die europäische Geistesverfassung - und damit auf die Litteraturwissenschaft - eingewirkt, und diese Einwirkung hat auch im 20. Jahrhundert noch keineswegs aufgehört. Shelleys Behaup- | |
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tung, der Dichter sei ‘the happiest, the best, the wisest and the most illustrious of men’, hat länger vorgehalten als viele Behauptungen aus der Zeit des jungen Goethe, die der alte Goethe selbst längst überholt hatte.
Wie dem auch sei - wenn wir aus dem Geniebegriff eine methodische Folgerung ziehen, so ergibt sich für die Litteraturwissenschaft die Aufgabe, zunächst die Reihe jener Menschen mit ihrer allerseits überragenden urwüchsigen Begabung mitsamt ihren einmaligen Leistungen, jener Schöpfer mit ihren Schöpfungen, historisch zu ordnen. Daß die Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts diese Folgerung wirklich gezogen hat, dürfte bekannt sein. Wir brauchen nur ein beliebiges Handbuch der Litteraturgeschichte aufzuschlagen, um zu sehen, daß wir da eine Geschichte der Dichter und ihrer Dichtungen, ein historisches Nacheinander von Dichterbiographien, in denen die poetischen Leistungen wiederum historisch angeordnet sind, vor uns haben.
Der Gefahr einer Verflachung entging diese Methode durch ihren engen Zusammenhang mit den sich allerseits vertiefenden übrigen historischen und kulturhistorischen Disziplinen. Zugleich aber wurde ihre ursprüngliche Grundthese: der Dichter ist das Genie, das heißt der allein verantwortliche Schöpfer eines einmaligen Kunstwerks, in diesem Zusammenhang aufgelockert. Mehr und mehr wurde der historische Dichter ein Mensch unter Menschen - und gerade die Frage nach dem Verhältnis des Menschen und seiner Verantwortung ist eines der meistbeängstigenden Probleme des Positivismus gewesen. Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, zu beobachten, wie eine sich individualistisch gebärdende Zeit zugleich dem Individuum die wesentlichen Elemente seiner Individualität raubt - und dieses Schauspiel können wir bei unserem ‘Dichter als Menschen’ in vollem Umfang genießen. Die Kurve, die von Shaftesbury bis zum Sturm und Drang oder bis zu Shelley ansteigt, schlängelt sich von Shelley bis Hippolyte Taine in wunderlichen Windungen herunter. Wir verzichten darauf, ihre Schnörkel im einzelnen zu beschreiben. Sagen wir, daß jene Zeit bestrebt war, ein litterarisches Kunstwerk historisch, soziologisch und psychologisch zu bestimmen, aber fügen wir hinzu, daß der Weg dieser
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Bestimmung immer noch über den Urheber des Kunstwerks ging. Der Dichter war als Mensch ein Produkt von Rasse, von Milieu, von Zeit und Abstammung, von ökonomischen und sonstigen Umständen ... tausend Strömungen der Vergangenheit und der Gegenwart wirkten auf ihn ein, modelten ihn um, zersetzten ihn, und in der allseitigen Bedingtheit seines menschlichen Wesens waren demzufolge die Bedingungen alles dessen, was er hervorbrachte, zu suchen. Erklären wir - so hieß es - den Menschen, betrachten wir ihn als Sohn seiner Eltern, als Enkel seiner Ahnen, als Kind seiner Zeit, hervorgebracht durch ein Milieu, dem Einfluß der Umstände ausgesetzt; zergliedern wir ihn obendrein psychologisch und beobachten wir, wie er in seiner krausen und bedingten Zusammensetzung auf äußeres Geschehen reagiert, so haben wir damit die Entstehung seiner Kunstwerke erklärt. Der Sinn dieser Kunstwerke selbst aber schien demnach zeitweise kein anderer zu sein, als daß sie einen durch hervorragende Begabung geschaffenen Ausdruck aller in eine Individualität zusammengeflossenen historischen und kulturhistorischen Bedingungen boten.
Indessen, die Überzeugung, daß ein Kunstwerk, eine große Dichtung, wenn auch alles dieses, darüber hinaus geistig noch etwas mehr und etwas anderes darstellen sollte, machte sich wieder geltend. ‘Phänomenologie des Geistes’ hatte Einer gerufen, dessen Stimme nicht die eines Rufenden in der Wüste war. Die Philosophie des Geistes, die Wissenschaft von den Prinzipien des Geisteslebens, vom Wesen des Geistes und seiner Gebilde, vom geistigen Schaffen, von den geistigen Werten und Zwecken - sie machte sich auch bei der Betrachtung des Kunstwerkes bemerkbar. Eine verständnisvolle Deutung der einzelnen Dichtung im Sinne eines geistigen Prozesses wurde versucht, die Dichtung als Ganzheit der Geistesgeschichte eingefügt. Auch diese Methode führte jedoch nicht zur getrennten Beobachtung des Kunstwerkes und seines Urhebers, wohl aber zu jener eigentümlichen Umstellung, bei der Leben und Person des Künstlers nicht länger zur Erklärung seiner Leistungen herangezogen, sondern wo vielmehr aus der geistigen Bedeutung der Dichtungen Person und Leben des Künstlers abgeleitet und erklärt wurden. In gewissem Sinne ist hier das entgegengesetzte
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Endziel alles dessen, was im Geniebegriff vorgesehen war, erreicht, aber es wurde erreicht in einer Weise, daß dennoch eine methodische Umwandlung keineswegs einzutreten brauchte. Sei es, daß die sinndeutende Methode von dem Künstler und seinem Kunstwerk, sei es daß sie von dem Kunstwerk und seinem Künstler ausgeht, sie betrachtet in beiden Fällen diese zusammengehörige Zweiheit als den ‘historischen’ Gegenstand ihrer Forschung. Von der pragmatischen Ästhetik unterseheidet sie sich auch dadurch, daß sie vom Anfang bis zum Ende - insoweit sie nicht in Dilettantismus entartete - ‘rein wissenschaftlich’ blieb; ihre Vertreter haben, im Gegensatz zu den Ästhetikern des 18. Jahrhunderts, bei aller Verschiedenheit der Auffassung nie geglaubt, Einfluß auf die Entwicklung der lebendigen Kunst ausüben zu können; sie haben derartiges auch nie versucht.
Langsam wurde sich neben diesen zwei Richtungen die dritte ihrer Aufgabe bewußt und suchte sich ihre Methode zu erobern.
‘Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei.’
Diesen Satz Goethes können wir als Grundlage einer morphologischen Aufgabe auch in der Litteraturwissenschaft aufstellen. Auch für die Totalität aller litterarischen Erscheinungen gilt, daß die hervorzubringende Gestalt, die ‘typisch bestimmte morphologische Erscheinung der Dinge, die wirksame Potenz in allem Geschehen’ sei.
Mit Ausschaltung alles dessen, was zeitlich bedingt oder individuell beweglich ist, können wir auch in der Dichtung - im weitesten Sinne - die Gestalt feststellen, abschließen und in ihrem fixierten Charakter erkennen. Bei der einzelnen Dichtung können wir fragen, inwieweit die gestaltbildenden, formbegrenzenden Kräfte hier zu einem erkennbaren und unterscheidbaren Gebilde geführt haben, inwieweit sich eine Gestalt hier bündig verwirklicht hat. Der Gesamtheit aller Dichtung
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gegenüber erheben wir die Frage, inwieweit die Summe aller erkannten und unterschiedenen Gestalten ein einheitliches, grundsätzlich angeordnetes, innerlich zusammenhängendes und gegliedertes Ganzes - ein System - bildet.
Formbestimmung, Gestaltdeutung heißt für diese Richtung die Aufgabe.
Diese Aufgabe für einen besonderen Teil der litterarischen Erscheinungen versuchsweise durchzuführen, soll die Absicht der hier vorzutragenden Abhandlungen sein.
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II.
Wir haben schon erfahren, daß sowohl die ästhetische wie die sinndeutende Methode bei ihren Untersuchungen zunächst und in der Hauptsache von dem vollendeten litterarischen Kunstwerk als solchem ausgingen, daß sie ‘Dichtung’ meist nur dort erkannten und anerkannten, wo diese im ‘Gedicht’, im Poema, einen einmaligen und endgültigen Abschluß bekommen hatte, oder daß, um es noch einmal zu wiederholen, Dichter und Dichtung oder Dichtung und Dichter ihre eigentlichen Forschungsobjekte bildeten.
Selbstverständlich! Wer sollte es einer ‘Lehre des Schönen’ verübeln, daß sie die Schönheit dort greift, wo sie in höchster Ausprägung vorliegt, und wie sollte man Einfluß auf das Leben der Litteratur gewinnen, wenn man sie nicht als ‘Kunst’ begriffe. Andererseits ist bei einer ‘historischen’ Richtung, die ein litterarisches Erzeugnis stets in unmittelbarer Beziehung zu seinem Urheber betrachtet, dieser Ausgangspunkt wiederum von vornherein gegeben.
Bei einem Versuch jedoch, die Gestalt der litterarischen Erscheinung zu erkennen und zu erklären, liegt die Sache anders. Gerade wo wir bestrebt sind, ‘von der Beweglichkeit zu abstrahieren’, bildet das vollendete Kunstwerk oder die einmalige und individuelle Schöpfung eines Dichters nicht den Anfang, sondern den Abschluß unserer Forschung. Wir erfassen die ‘Dichtung’ nicht in ihrer künstlerischen Verendgültigung, sondern dort wo sie einsetzt, das heißt in der Sprache.
Wollten wir die Geschichte einer gestaltdeutenden Methode geben, so würden wir sehen, daß auch der Versuch eines Aufbaus der Litteraturwissenschaft von der Sprache aus bereits im 18. Jahrhundert erwogen wurde. Schon wenn wir den oft zitierten Satz Hamanns aus der Aesthetica in nuce, ‘Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Ge-
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schlechts’, noch einmal wiederholen, finden wir hierin den Anfang einer solchen Betrachtungsweise. Zweifellos gehört auch hierher die große Doppelarbeit aus Herders Frühzeit, wo er sich einesteils in seiner berühmten Abhandlung mit dem Ursprung der Sprache als solcher beschäftigt, andernteils in seinen ‘Alten Volksliedern’ die Beispiele einer Sprache vorführt, die, ihrem Ursprung noch nahe, eine ‘Sammlung von Elementen der Poesie’ bildet oder ein ‘Wörterbuch der Seele was zugleich Mythologie und eine wunderbare Epopee von den Handlungen und Reden aller Wesen ist’. Schließlich liegt - wir werden später darauf zurückkommen - in Jacob Grimms Begriff Naturpoesie wiederum Ähnliches vor.
Zu bindender Formbestimmung ist es jedoch damals nicht gekommen. Wollen wir unsererseits die dort angefangene Arbeit folgerichtig fortführen, so muß es unsre erste Bemühung sein, mit allen Mitteln, die uns Sprachwissenschaft und Litteraturwissenschaft an die Hand geben, in Einzelheiten den Weg festzustellen, der von Sprache zu Litteratur führt, oder um es genauer und in der Ausdrucksweise der Theorie des objektiven Geistes zu sagen: zu beobachten, wann, wo und wie Sprache, ohne aufzuhören Zeichen zu sein, zu gleicher Zeit Gebilde werden kann und wird.
Methodisch ergeben sich daraus eine Reihe von Aufgaben.
Wir müssen, ausgehend von den Einheiten und Gliederungen der Sprache, wie sie in Grammatik, Syntax und Bedeutungslehre gegeben sind, vermittels der Disziplinen Stilistjk, Rhetorik und Poetik systematisch zu den höchsten Kunstwerken ansteigen, indem wir vergleichend beobachten, wie eine selbe Erscheinung sich auf einer andern Stufe sich anreichernd wiederholt, wie eine gleiche gestaltbildende, formbegrenzende Kraft, jedesmal sich erhöhend, das System als Ganzheit beherrscht. So ließe sich, um ein Beispiel zu nennen, ausgehend von den sprachlich syntaktischen Gestalten der Weg zur künstlerischen Komposition finden, oder von der Wortbedeutung aus der Sinn der Trope bestimmen.
Kämen wir so zur Erkenntnis dessen, was innerhalb des großen Gebietes von Sprache und Litteratur von Stufe zu Stufe fest und immer fester sich vollzieht, bis es in einer letzten Voll- | |
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zogenheit als endgültige individuelle Einheit uns erscheint, so liegt es uns andrerseits ob, uns mit jenen Formen zu beschäftigen, die ebenfalls aus der Sprache hervorgegangen sind, diese Verfestigung aber zu entbehren scheinen, die sich, bildlich gesprochen, auf die Dauer in einem andern Aggregatzustand befinden: mit jenen Formen, die weder von der Stilistik, noch von der Rhetorik, noch von der Poetik, ja, vielleicht nicht einmal von der ‘Schrift’ erfaßt werden, die, obwohl sie zur Kunst gehören, nicht eigentlich zum Kunstwerk werden, die, wenn auch Dichtung, so doch keine Gedichte darstellen, kurz mit jenen Formen, die man als Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen oder Witz zu bezeichnen pflegt.
Wenn wir uns, ohne die erste zu vernachlässigen, zuerst dieser zweiten Aufgabe zuwenden, so erklärt sich das daraus, daß diese Formen sowohl von der ästhetischen wie von der historischen Richtung der Litteraturwissenschaft stiefmütterlich behandelt worden sind. Zwar spürte die Litteraturgeschichte, daß diese Formen irgendwie im Kunstwerk vorhanden sein können, daß man - konkret gesprochen - nicht vom Nibelungenlied reden kann, ohne auch eine Nibelungensage zu berühren, trotzdem aber versäumte es ihre sinndeutende Methode, den Sinn dieser Gestalten zu ergründen. Man überließ es der Volkskunde oder andern nicht ganz zur Litteraturwissenschaft gehörigen Disziplinen, sich mit ihnen zu befassen.
Wir haben also etwas nachzuholen. Und wir wollen uns, und wäre es nur, um eine Lücke auszufüllen, in diesem Buche, dem ersten Kapitel unserer Litteraturwissenschaft, jenen Formen zuwenden, die sich, sozusagen ohne Zutun eines Dichters, in der Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten.
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III.
Wie stellen wir uns Sprache als Arbeit vor?
Sofort erhebt sich das Bild einer menschlichen Arbeitsgemeinschaft und damit das Bild derer, die innerhalb dieser Gemeinschaft in verschiedener Art die Arbeit vollziehen: Bauer, Handwerker, Priester - der Erzeugende, der Schaffende, der Deutende.
Erzeugen, Schaffen, Deuten sind die Tätigkeiten, die eine Gemeinschaft zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschweißen.
Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen, daß, wenn wir hier Bauer, Handwerker, Priester sagen, wir keineswegs eine ethnologische Theorie, eine Einteilung der Wirtschaftsformen im Sinne haben und daß wir ebensowenig die drei als Entwicklungsstufen in einem kulturhistorischen Nacheinander betrachten. Was wir mit diesen drei Figuren meinen, ist die Teilung der Arbeit, wie sie in der Welt als Arbeit und in der Sprache als Arbeit sichtbar auftritt.
Sehen wir sie in ihrer Tätigkeit an.
Der Bauer erzeugt - seine Arbeit besteht darin, daß er in der Natur Gegebenes ordnet in einer Weise. daß es sich um den Menschen als Mittelpunkt gruppiert. Die Natur, das in sich Bleibende, wird in das Leben des Menschen aufgenommen - und da Leben Erneuerung heißt, wird auch die Natur in diesem Leben erneuert, aber so, daß die natürlichen Vorgänge unbehindert ihren Weg gehen. Indem der Bauer erzeugt, wird aus der zeugenden Natur Zucht. Er streut die Saat in die geordneten Furchen und es wächst ein Getreidefeld: er pflanzt die Keimlinge des Waldes in einer Baumschule und es wächst der Forst: er bringt den Stier zur Kuh, den Hengst zur Stute und es wachsen Kalb und Fohlen. Indem er züchtet, ordnet die zuchtlose Natur sich ihm an. Es gehört zu
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einem Bauernhof noch mehr als Kuhstall, Getreideacker, Forst, Weide, Obst- oder Gemüsegarten. Die Tiere laufen dem Bauern zu. Nicht nur der Hund, der in der Zucht vielleicht Bedeutung hat, sondern auch die Katze. Die Schwalbe nistet unter seinem überragenden Dachgiebel, der Storch auf dem First; die Spinne haust auf dem Boden. Die Pflanzensamen werden angeweht; nicht nur Heil- und Zierkräuter, sondern auch solche, die sich scheinbar ziellos und nutzlos an den Menschen anklammern und ihn überall, wo er hintritt, begleiten, wie Wegwarte und Wegerich. Selbst das, was er nicht gebrauchen kann: Schmarotzer, Unkraut und Ungeziefer, gesellen sich zu ihm, nützen die neu erzeugten Verhältnisse aus, stellen sich in gewissem Sinne unter seine Zucht, gehen von der Natur aus in das Leben ein.
Das in der Natur räumlich Gebundene wird beweglich. Bäume und Stauden wandern von einem Weltteil zum andern - und was wir Landschaft zu nennen pflegen, ist letzten Endes nichts anderes als Natur, die sich dem Erzeuger angeordnet, die sich um einen Erzeuger gruppiert hat.
Der Handwerker schafft - seine Arbeit besteht darin, daß er das in der Natur Gegebene umordnet in einer Weise, daß es aufhört natürlich zu sein. Die natürlichen Vorgänge werden von ihm dauernd unterbrochen, gestört. Was er erneuert, wird wahrhaft neu. Schon das Erzeugte ergreift er. Die Getreidesamen werden nicht mehr dazu benutzt, daß neues Getreide aus ihnen wachse, sie werden zerstoßen, zerrieben, zermahlen, aufgeweicht, erhitzt, und aus dem Zeugungsunfähigen wird das Brot. Die in der Baumschule gewachsenen Stämme werden gefällt, zerhackt, zersägt zu Balken, Brettern, Sparren - und es entsteht die Wohnung, der Wagen. Aber er geht über das Erzeugte hinaus, er nimmt die großen Steine und türmt sie aufeinander zu einer Mauer, die kleinen schlägt er aneinander, bis der Funken springt und das Feuer loht. Knochen und Fischgräte werden zu Dolch und Pfeil oder Haarnadel, aus einem Rinderhorn wird ein Trink- oder Blashorn, ein Schafsdarm wird Bogensehne oder Saite. Pflanzen und Metalle werden zerquetscht und ergeben Farbe; Nahrung wird in Gärung versetzt und wird Rauschtrank. Bei dem gegenständlich in der Natur Gegebenen bleibt er nicht stehen, er erfaßt auch die unsicht- | |
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baren Mächte, zerlegt sie, ordnet sie um, benutzt sie: Wasser und Luft müssen ihre Kraft hergeben, werden Bewegung und Licht.
Wie aber wäre diese ganze Arbeit des Erzeugens und Schaffens möglich, wenn nicht die dritte Arbeit des Deutens sie unentwegt lenkte, wenn nicht jeder Arbeit ein Sinn innewohnte, der sie bindend macht, und nicht das Begreifen dieses Sinnes erst die Arbeit als solche zur Vollendung brächte. Oder um bei unserer Terminologie zu bleiben: wenn nicht zur Arbeit, die anordnet, und Arbeit, die umordnet, die Arbeit käme, die verordnet. Erst wenn die Art und Weise, wie etwas gezeugt und geschaffen wird, und erst, dann, wenn das Erzeugte und das Geschaffene selbst gedeutet worden sind, können wir die Gemeinschaft der Arbeit vollständig nennen.
Es gesellt sich zu dem Bauern und dem Handwerker der Priester. Nur indem der Priester die Arbeit deutet, kann der Bauer die Natur in ihrem natürlichen Vorgehen in sein Leben aufnehmen, kann der. Handwerker die Natur und das Natürliche unterbrechen und Neues aus ihnen hervorbringen - indem er sie deutet von ihren ersten Anfängen bis zu ihren äußersten und letzten Folgen im weitsten Sinne.
Wie verbinde ich Balken und Steine so, daß sie Mich, die Meinigen, das Meinige gegen die Natur schützen, von der Natur abschließen, daß sie eine Gestalt bilden, einen Wohnort, ein Haus? Aber darüber hinaus: was bedeutet ein Haus, ein Heim, das eine Familie, das Leben einer Familie, den Besitz einer Familie umschließt von den Vätern bis zu den Enkeln? Und wiederum und noch einmal darüber hinaus: was bedeutet jenes Haus im weiteren Sinne dort, wo es sich widerspiegelt in Heimen anderer Art: im Heime des Gottes, im Heim der Toten, im Tempel, im Grab? Oder will man die Vereinzelung - was bedeutet die Schwalbe, die unter dem Dach des Hauses nistet, was der Storch, der auf dem First wohnt, was geben sie, was bringen sie den Bewohnern? Oder was sagen uns Rose, Myrte und Lilie im Garten?
Durch die deutende Arbeit des Priesters wird die Arbeit überhaupt erst vollständig, wird sie ganze Arbeit. Wir haben für die Begriffe ‘vollständig’ oder ‘ganz’ im Althochdeutschen
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ein Wort, das im Mittelhochdeutschen seine Bedeutung etwas geändert hat und nur im Niederdeutschen und im Niederländischen noch so gebraucht wird, das Wort heil. Besser als durch dieses heil läßt sich die Arbeit des Priesters nicht bezeichnen - denn damit ist zugleich seine weitere Tätigkeit angegeben. Indem er die Welt deutet, macht er sie heil, das heißt vollständig, ganz, gesund, sanus. Aber indem er sie heil macht, tritt er vermittelnd von der Arbeitsgemeinschaft in eine andere über: er macht sie nicht nur heil, er macht sie heilig. Alles was Bestand haben soll, muß in seinen Anfängen heilig gedeutet werden. Heilig ist der erste Tag des neuen Jahres, heilig der erste Schultag. Heilig ist die erste Furche, die der Pflug durch Ödland zieht - wie heil, heilig und heilen, so hängen colere, cultus und Kultur zusammen. Diese erste Furche bedeutet alle nachfolgenden in ihrer Gesamtheit, sie bedeutet die künftige Ernte, sie bedeutet die Fruchtbarkeit im Erzeugten. Wenn das Haus geschaffen werden soll, wird der Grundstein gelegt; diese Handlung bedeutet und heiligt alle folgenden Handlungen, dieser Grundstein faßt die ganze Bedeutung des Hauses in sich zusammen. So wie er gelegt ist, sollen die anderen gelegt werden, so wie er fest ist, sollen die anderen fest sein, auf ihm ruht das Haus und alles was im Hause geschieht von der Ruhe der Bewohner bis zu der bei dem Familienvater beruhenden Autorität. Alles was Verordnung ist, liegt in diesem Stein. Feierlich mit Festen oder mit Fasten werden solche Handlungen begangen, und wiederum wird damit ihre einstmalige Ganzheit bekundet und werden sie bis in ihre Vervollständigung gedeutet. Alles was in der Kultur tätig oder gegenständlich ist, alles was in ihr Gestalt annimmt oder Form ergreift, muß, um heil zu
werden, durch Deutung geheiligt sein und kann von dieser Deutung aus jeden Augenblick von neuem heilig werden; jede Kulturhandlung ist letzten Endes Kulthandlung, jeder Kulturgegenstand Kultgegenstand.
Es ist klar - aber ich muß es, da heutzutage Wissenschaften einander falsch zu verstehen pflegen, noch einmal wiederholen -, wir treiben hier keine Kulturgeschichte im Sinne von Entwicklungsgeschichte. Wir dürfen nicht sagen: erst hat der Mensch erzeugt, danach geschaffen, endlich ge- | |
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deutet. Es wäre sinnlos, zu suchen, ob irgendwo in einer verstohlenen Erdecke ein Volk beim Erzeugen stehengeblieben ist, in seiner Bäuerlichkeit beharrt hat. So etwas gibt es nicht, kann es nicht geben. Daß die Entwicklung der menschlichen Wirtschaft verschiedene Stufen durchläuft, ist mir nicht unbekant - hier aber gilt es, die Arbeit zwar in ihren Einzelformen zu sehen, aber sie in ihrer Gesamtheit zu verstehen - und in diesem Sinne gibt es nichts, was der Mensch sich erarbeitet hat, worin wir ihn nicht als Bauer, als Handwerker, als Priester erkennen.
Es war auch nötig dies noch einmal zu sagen, nun wir die Kreise dieser drei noch einmal untereinander vergleichen wollen. Sie sind konzentrisch, jedesmal erweitert sich ihre Peripherie. Wir sahen schon, daß der Handwerker in größerem Umfange schafft als in den Erzeugnissen des Bauern gegeben war. Er hat nicht nur aus dem auf dem Acker gewachsenen Getreide Brot gemacht, er hat weit über das Erzeugte hinaus alles, was ihm auch in der nicht erzeugten Natur erreichbar und brauchbar schien, in seine Arbeit einbezogen. Und wiederum vergrößert sich der Kreis bei dem Priester: er begnügt sich keineswegs damit, das Erzeugte und das Geschaffene zu deuten, sondern seine Deutungsarbeit erstreckt sich auch auf alles was nicht erzeugt und nicht geschaffen ist oder werden kann, er deutet Sonne, Mond und Sterne - seine Deutungen gehen über das Sichtbare und Faßbare hinaus zum Unsichtbaren und Unfaßbaren.
So sehen wir denn unsere drei Figuren vor uns - so sehen wir sie in ihrer räumlichen Begrenzung, in ihrer räumlichen Bewegung. Der Bauer gehört zur Scholle, befindet sich in der Landschaft - verläßt er sie, so hört er auf Bauer zu sein; der Handwerker durchstreift als Handwerksbursche die Welt, und dann läßt er sich dort nieder, wo die Landschaft aufhört, wo alles umgeordnet, alles der Natur entzogen ist und wo die natürlichen Vorgänge im Leben verändert sind - er zieht in die Siedlung, in die Stadt. Der Bauer bleibt in gewissem Sinne einsam mit seiner Familie - tut er sich mit anderen zusammen, so ist es meist aus handwerklichen Gründen; der Handwerker vereinigt sich mit anderen Handwerkern zur Zunft, zur Gewerk- | |
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schaft. Der Priester endlich ist zugleich standhaft und beweglich - er durchstreift die Welt nicht, sondern er sucht sich einen Punkt, von dem aus er sie überschauen kann - er ist einsam, insoweit er sich nicht mit seinesgleichen zusammentut, aber er bildet zugleich Mittelpunkt einer Menge, einer Gemeinde, die sich um ihn sammelt. Und in den drei Ausdrücken Familie, Zunft, Gemeinde sehen wir noch einmal unsere Figuren deutlich und bedeutsam vor uns.
Die ganze Arbeit, die sich in Bauer, Handwerker und Priester vollzieht, vollzieht sich nun in der Sprache noch einmal.
Alles, was Bauer, Handwerker, Priester bisher an Arbeit geleistet haben, gehört zum Leben, zergeht mit dem Leben, erneuert sich im Leben oder hat nur mit dem Leben Bestand. Durch die Arbeit der Sprache aber bekommt es in der Sprache selbst eine neue Beständigkeit.
In doppelter Weise: Erstens wird alles Erzeugte, Geschaffene, Gedeutete von der Sprache benannt. Zweitens aber - und hier greifen wir tiefer - ist Sprache selbst ein Erzeugendes, Schaffendes, Deutendes, etwas, worin sich Anordnung, Umordnung, Verordnung eigenst ereignen.
Was Benennen heißt, wie es eine ‘Luft’ gibt, die alles umfängt, alles durchdringt, in der alles eingebettet liegt; wie der Mensch diese Luft einatmet und mit ihr alles einatmet, was sie umgibt, wie beim Ausatmen der Atem tönend geworden ist, und wie diese Töne die Namen der Dinge enthalten, hat Ipsen in seiner ‘Erläuterung’ zu den ‘Schallanalytischen Versuchen’ (Heidelberg 1928) gezeigt.
In ihrer benennenden Arbeit ist die Sprache so unentwegt wie das Ein- und Ausgehen des Atems, so allgegenwärtig wie die ‘Luft’ von der wir redeten.
Jedoch: nomen est omen! Aus der Sprache geht etwas hervor, sie ist ein Samen, der aufgehen kann, und als solcher ist sie erzeugend. Wir wissen das und spüren es ganz besonders nach der naiven und instinktiven Seite hin in Augenblicken, wo wir uns fürchten, durch das Wort etwas Unerwünschtes erzeugt zu haben. ‘Unberufen’ oder ‘Unbe- | |
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schrien’ pflegen wir zu sagen und versuchen durch irgendeine Handlung die erzeugende Kraft des Wortes zu hemmen. Wir nennen es Aberglauben, aber wir müssen uns darüber klar sein, daß in diesem sogenannten Aberglauben ein Wissen davon steckt, daß ein Wort in Erfüllung gehen kann. Wenn wir die Bedeutungsgeschichte von Worten wie loben, geloben, glauben, erlauben und allen jenen, die aus der Basis * leubh abgeleitet werden können, untersuchen, so werden wir überall spüren, wie sie auf die Möglichkeit hinweisen, durch Sprache sich etwas zu eigen zu machen oder zu erzeugen. Ver sprechen ist noch viel mehr als die bindende Kundgebung einer Absicht. Es bedeutet: so sprechen, daß etwas zustande kommt - so wie man in gewissen Teilen Deutschlands einen Geist versprechen, heraufbeschwören kann. Genau so lassen sich durch die Sprache Feuer und Wasser binden, wenn man sie bespricht. λόγοϛ σὰϱξ ἐγένετο - wir wissen, wie ein Wort Fleisch werden und unter uns wohnen kann. Was man mit einem vom Positivismus übel verstandenen und noch übler mißbrauchten Ausdruck Magie zu nennen gewohnt war - darunter haben wir an dieser Stelle die erzeugende Arbeit der Sprache, die Sprache als Erzeugerin zu verstehen. Und wiederum ist hier Erzeugen eine Anordnung, die den natürlichen Lauf der Dinge nicht
behindert, aber sie in das Leben des Menschen eingehen läßt und aufnimmt.
Wie nun die Sprache erzeugt, so schafft sie auch; wie ein Wort in Erfüllung gehen kann, so kann es umordnend Neues hervorbringen. Sprache schafft Gestalt, indem Sprache - wir benützen das Wort in der eigentlichen Bedeutung - dichtet. Was die Sprache geschaffen hat, steht ebenso fest da wie das, was im Bereiche des Lebens der Handwerker schuf. Wir kennen Odysseus, Don Quijote, Herrn Pickwick, wir kennen diese Gestalten der Sprache besser als viele Menschen unserer persönlichen Umgebung. Der Pakt, den Faust mit dem Teufel abgeschlossen hat, ist von bekannten Juristen juristisch geprüft und auf seine Gültigkeit hin untersucht worden. Diese Personen und Tatsachen mögen wieder zu sehr an bestimmte Dichter erinnern, als daß man ganz zugeben würde, daß sie von der Sprache geschaffen wurden. Dann nenne ich Serenissi- | |
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mus, der mit keiner Dichterfigur in Verbindung gebracht wird, und ich weise hin auf die Ereignisse beim Rathausbau der Schildbürger, die wohl manchen gegenwärtiger sind als selbst politisches Tagesgeschehen.
Da, wo Sprache dichtet, pflegen wir zu sagen, daß Litteratur entsteht. Damit haben wir einen Übergang gefunden, den wir anfangs suchten. Und wir wissen, daß Sprache als umordnende Arbeit hier unmittelbar zur Litteratur führt, auch wenn diese Litteratur nicht von einem bestimmten Dichter stammt oder in einem bestimmten Kunstwerk festgelegt ist. Und dann sehen wir zugleich, wie durch die Sprache oder durch die Litteratur etwas ergriffen, verändert und erneuert wird, was - um ein kühnes Wort zu gebrauchen - in der Natur gegeben war.
Ein lebender Mensch, der in seiner Zeit weithin sichtbar ist, ist im Grunde in doppelter Weise vorhanden. Wir kennen einen Mussolini aus Berichten, Erzählungen, Anekdoten - aber wir wissen nicht, inwieweit er sich mit dem ‘wirklichen’ Mussolini, dem Mussolini in natura, deckt. Dieser zweite verhält sich zu dem litterarischen Mussolini wie das Getreide zum Brot, er ist von der Sprache zerstoßen, zermahlen, aufgeweicht, erhitzt - er ist gedichtet, geschaffen. Er sehnt sich danach, gedeutet zu werden, denn nur durch Deutung läßt sich das Verhältnis von Mussolini I zu Mussolini II feststellen.
Und so sind wir zu der dritten Arbeit der Sprache gekommen. Wir haben, entsprechend dem Zeugen und Schaffen vom Erfüllen und Dichten der Sprache gesprochen. In diesem dritten Fall, dem der deutenden Arbeit der Sprache, gebrauchen wir die Worte Erkennen und Denken.
Irgendeine Vielheit von Erscheinungen liegt dem Menschen vor, er entdeckt Ähnlichkeiten, er sucht in ihnen eine Gemeinsamkeit zu erkennen. Nehmen wir ein Beispiel, indem wir auf die Untersuchungen von Porzig (Bedeutungsgeschichtliche Studien. Indogermanische Forschungen, Bd. 10, 2) und Ipsen (Besinnung der Sprachwissenschaft. Indogermanisches Jahrbuch, Bd. 11) hinweisen.
Der Mensch beachtet die Phasen eines Himmelskörpers, der, von schmaler Sichel zur Scheibe sich rundend,
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ihm die Erfüllung einer Form zeigt, und die Erfüllung zur Form wird ihm Maßstab bei der Beobachtung, wie auch die Zeit sich erfüllt. Er trägt in sich ein Gefühl, das nach Vollendung drängt, und ein Streben, Gedankliches zur Form abzurunden. Zugleich erkennt er, wie er selbst als Lebewesen wiederum im Laufe dieses Lebens seine Kräfte entfaltet. Aber wie, von wo aus soll er das Gemeinsame in diesen Verschiedenheiten, die ihm eine Welt der Entfaltung und Erfüllung bedeuten, einheitlich fassen? Hier setzt die Sprache ein; deutend begreift sie alles dieses in einem Zeichen; und dieses Zeichen, beweglich wie die Erscheinungen und dennoch die ganze Zusammengehörigkeit der Erscheinungen in sich enthaltend, wird nun der verordnende Mittelpunkt, von dem jene Erfüllung ausgeht und zu dem sie zurückkehrt. Wir nennen ein solches Zeichen eine Wurzel.
Wurzel ist ein Wort, das - wir werden es später sehen - auf eine bestimmte Geisteshaltung hinweist, aber das der zentralen Lagerung des Zeichens zu wenig gerecht wird. Immerhin, wir wollen die Terminologie nicht abändern, wo es nicht unbedingt nötig ist; jedenfalls beweist uns Wurzel, wie tief in der Sprache die deutende Tätigkeit liegt.
Die unserem Beispiel zugrunde liegende Wurzel heißt - wir befinden uns hier im Kreise des indogermanischen Erkennens und Denkens - * men. Und von dieser Verordnung aus muß der Himmelskörper mond, der abgeleitete Zeitabschnitt monat, das Gefühl minne, das gedankliche Streben meinen, das Lebewesen mann oder mensch heißen. Wollten wir andere indogermanische Sprachen heranziehen, so würden wir - anzufangen mit dem lateinischen mens oder dem griechischen μαίνομαι, μάντιμϛ und Maenade - noch viel mehr finden.
Wir würden dann auch sehen, wie dieses * men nicht nur als Stamm bildet, sondern wie es auch Weiterstehendes formal ergreift und in seinen Kreis zwingt, wie es als Formans sehr Verschiedenes, sowohl Natürliches wie Geräte, deutet: als Dinge, die durch Formung mit Kraft erfüllt werden, so daß - um nur ein einziges Beispiel zu nennen - das lateinische semen, das etymologisch den soeben erwähnten Worten fern
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steht, nun durch die Endung mit zu den Sachen gedeutet wird, die, wie der Mond, sich runden und, indem sie vollwerden, ihre Kraft entfalten.
Ich erinnere an den Grundstein, in dem jede Handlung des Bauens, aber auch alles, was dem Menschen Haus heißt, verordnet ist und vorliegt, und wir werden verstehen, wie von dem aus, was wir Wurzel genannt haben, die Sprache sowohl strahlenförmig Gleichartiges andeutet als auch das, was sich in anderer Weise zeigt, wie Figuren auf dem Schachbrett und Truppen in einem Schlachtgelände in ein Feld eindeutet.
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IV.
Vielleicht erscheint manchem das Bild der Welt, die erzeugend, schaffend, deutend aufgebaut wird, in der sich Bauer, Handwerker und Priester befinden und in der die Sprache deren Arbeit noch einmal leistet, zu sehr als eine Welt von Arbeitsprodukten, eine Welt von besäten Äckern, gemahlenem Getreide, gebackenem Brot, gebauten Häusern, gelegten Grundsteinen, kurz als eine Welt von Gegenständen, als eine Welt der Einzelheiten.
Wenn das so ist, so brauchen wir nur einen Augenblick nachzudenken, um einzusehen, daß die Welt dem Menschen im allgemeinen nicht so vorkommt. Sie ist ihm, als Ganzes genommen, in ihrer verschwimmenden Verschiedenheit, in ihrem Getümmel, in ihrer Brandung, vielmehr eine Wildnis und ein Wirrsal. Um die Welt zu verstehen, muß er sich in sie vertiefen, muß er die endlose Zahl ihrer Erscheinungen in irgendeiner Weise verringern, muß er sondernd in sie eingreifen. Mensch und Welt erinnern an das Mädchen im Märchen, das vor einen wüsten Haufen von Samen aller Art gestellt wird und nun die Aufgabe bekommt, sie in einer Nacht richtig zu sichten. Wir kennen den Verlauf dieser Geschichte: freundliche Vögel oder Kerbtiere kommen zu Hilfe. Die Arbeit geht an und indem aus dem unerkennbaren Haufen erkennbare Häuflein werden, kommt auch das, was sich auf diesen Häuflein befindet, zu seinem Recht und zur Geltung. Was nur verwirrter Teil einer großen Verwirrung war, bekommt, wo Gleiches sich zu Gleichem gesellt, erst seine Eigenheit, wird es selbst. Wenn der Zauberer bei Sonnenaufgang erscheint, ist das Chaos Kosmos geworden.
Der Mensch greift ein in das Wirrsal der Welt; vertiefend, verringernd, vereinigend faßt er das Zusammengehörige zusammen, trennt, teilt, zerlegt und sammelt auf die Häuflein das Wesentliche. Die Unterschiede verbreitern sich, das Viel- | |
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deutige wird ausgeschieden oder es wird zur Eindeutigkeit bestimmt und zurückgebracht. Auslegend und einengend dringt er zu den Grundformen durch.
Indessen, was hier geschieht, ist - wie wir später sehen werden - kein Märchen. Das, was in dem Wirrsal der Welt gehäuft liegt, besitzt nicht in dem Sinne wie die verschiedenen Samen, eine Erbse oder eine Bohne, schon von vornherein eigene Form, sondern, was hier unterscheidend geschieden wird, nimmt erst, während es in der Zerlegung sich zusammenfindet, eigene Form an. Und gerade dieser Vorgang ist es, den wir zu beobachten haben. Gleiches gesellt sich zu Gleichem, aber es bildet hier keinen Haufen von Einzelheiten, sondern eine Mannigfaltigkeit, deren Teile ineinander eindringen, sich vereinigen, verinnigen, und so eine Gestalt, eine Form ergeben - eine Form, die als solche gegenständlich erfaßt werden kann, die, wie wir sagen, eigene Gültigkeit, eigene Bündigkeit besitzt.
Wo nun die Sprache bei der Bildung einer solchen Form beteiligt ist, wo sie anordnend, umordnend in eine solche Form eingreift, sie von sich aus noch einmal gestaltet - da können wir von litterarischen Formen sprechen.
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