Verzamelde werken. Deel 6. Biografie
(1950)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekend
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Erasmus-gedenkredeGa naar voetnoot*Als Erasmus bereits längere Zeit in Basel Aufenthalt genommen hatte, wurde ihm von Zürich aus der Gedanke nahegelegt, hieher überzusiedeln und das Bürgerrecht der Stadt Zürich anzunehmen. Er hat abgelehnt, mit der Begründung, er wolle Bürger der ganzen Welt, nicht einer einzelnen Stadt sein. Zürich ist ihm fremd geblieben, so lebhaft gelegentlich sein geistiger Verkehr mit Zwingli gewesen sein mag. Basel wurde die Stadt, welche für immer mit seinem Andenken verbunden bleibt. Vorgestern in Basel standen wir an seinem Grabe. Rings um uns waren noch die Dinge, auf welchen sein Auge in der Dämmerung des Alters geruht hat. Basel gedachte seines Todes fast am Tage seiner Geburt, der auf übermorgen fallen wird, als ob man in dieser Stunde gleichsam sein ganzes Leben in der Erinnerung zusammenfassen wollte. Dieses Leben ist im fernen Holland seiner Kindheit und seiner jungen Jahre und im arbeitsfrohen Basel seiner fruchtbarsten Tätigkeit und seines Todes polarisiert gewesen. Paris, England, Italien, Löwen haben darin wichtige Abschnitte bedeutet. Holland und Basel aber haben jenem Leben die endgültige Form gegeben. So wie das fließende silberne Band des Rheines Basel und Holland eint, so floß einst das Leben des Rotterdamers zwischen Ursprung und Ende dahin. Erasmus gehört der ganzen Welt, aber Holland und der Schweiz gehört er in innigerem Sinne. In der Zeit, als Erasmus in Basel wohnte, hat er noch nichts davon ahnen können, daß bald diese beiden Länder, die alte Heimat und der Zufluchtsort seiner Wahl, einen gleichartigen Platz im Staatenraum Europas einnehmen würden. Wohl hatte sich damals die Eidgenossenschaft schon als eigenes, neues Staatsgebilde gefestigt. Erasmus empfand schon Basel nicht mehr ohne weiteres als Germania, er nennt es Helvetia. Die kommende Freiheit der Niederlande jedoch lag noch im Schoß der Zeiten. Dennoch war auch seine Heimat ihm bei weitem nicht Germania schlechthin. ‘Patria’ heißen ihm die Niederlande. Einen eigenen Namen für dieses Vaterland hatte er noch kaum. Brabantia kam dem noch am nächsten. Sogar Burgundia konnte als Sammelname dienen. Daß ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode die batavische Heimat als Vereinigte Provinzen das Gegenstück zur Eidgenossenschaft bilden würde, zwei freie Republiken, die der Staa- | |
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tenwelt des siebzehnten Jahrhunderts wesentliche Züge aufdrücken sollten, davon hat Erasmus nichts gewußt. Für uns hat in jener Stunde in Basel, sowie zuvor in Rotterdam, der Gedanke an die Gleichartigkeit des Geschicks dieser beiden Länder, und an die erprobte Freundschaft, welche sie durch die Zeiten hin geeint hat, unserer gemeinsamen Anteilnahme an der Erinnerung des Erasmus ein Element feierlicher Rührung hinzugefügt. In geistiger Verbundenheit haben Schweizer und Niederländer die Feier dieses Todesjahres begangen, und diese Verbundenheit fand in Basel ihren symbolischen Ausdruck, indem man einem Niederländer die Ehre erteilt hat, an der Stätte, wo Froben ihn druckte und Holbein ihn malte, wo die liebsten Freunde ihn umgaben und schützten, seiner gedenken zu dürfen. Als ein Wahrzeichen der tiefen Einigkeit und Gleichgesinntheit zwischen Ihrem Land und meinem Land habe ich diese hohe Ehre freudig und dankbar entgegengenommen.
Was hat in diesem Jahre den Erasmus geweihten Gedächtnisfeiern eine Note so tiefen Ernstes gegeben? Die Antwort ist leicht. Es ist die Tatsache, daß die Erinnerung an Erasmus uns not tut. Die Welt von heute hat sich in mancher Hinsicht dem Geiste des Erasmus so heftig und so schroff entgegengestellt, daß wir in unserem heißen Bedürfnis nach einem befreienden Wort, nach einer rettenden Idee, auch zu ihm wieder aufsehen mußten. Vor zwölf Jahren äußerte ich die Meinung, Erasmus habe seine Zeit gehabt. Seine Wirkung sei längst in unsere Kultur eingegangen. Einer der Ihrigen, mit dem mich eine herzliche Freundschaft verbindet, die wir Erasmus verdanken, Professor Werner Kaegi, schrieb anläßlich dieser Meinung im vorigen Jahr: ‘Es hat den Anschein, als ob der Weltlauf inzwischen alles getan hätte, um Erasmus eine neue Aktualität zu verschaffen. Sein Gesicht blickt heute moderner in die Welt als um 1923, als habe er wieder etwas zu sagen, als klinge die Ironie seiner Sprache wieder so bitter und blutig wie je’. So ist es. Erasmus mahnt uns wieder, und dringend. Hat er uns denn doch immer noch Neues zu sagen, was wir vormals nicht von ihm verstanden hatten? Das ist es kaum. Es sind die alten Laute, aber sie klingen wieder neu. Ich will hier nicht in einer Reihe von Zitaten Erasmus selber reden lassen. Erasmus im Wortlaut zitieren, fordert viel Zeit. Er schreibt nun einmal nicht in Sentenzen. All das Beste an ihm, seine edle, wenn auch weltfremde Mißbilligung der Gewalt, der Zwietracht und Treu- | |
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losigkeit, die scharfe Komik seiner ernsten Satire, die reife Einsicht in die Hygiene der Lebensführung, die sanften Töne seiner schlichten Frömmigkeit, das alles spricht nur in der ruhig dahinfließenden lateinischen Rede. Ein Extrakt in Übersetzung nimmt ihm all seinen Reiz. Hier sei also lieber der Versuch gemacht, ein gewisses Dilemma, das Erasmus uns stellt, darzulegen. Es ist folgendes. An der Figur des Erasmus, wie sie unserer Geisteswelt angehört, scheint alles einzelne veraltet und nur noch historisch zu würdigen. Und doch geht von dem Ganzen, von der Figur als solcher noch immer, und nun aufs neue, eine starke Wirkung aus. Die Welt kann ihn nicht vergessen. Er steht noch da, und winkt und mahnt. Woher dieser augenscheinliche Kontrast? - Ich werde versuchen, diesen Kontrast und vielleicht seine Lösung sprechen zu lassen in einer raschen Überschau über seine geistige Haltung im Religiösen, im Politischen, im Sozialen und Wirtschaftlichen, endlich der Natur, Wissenschaft und Kunst gegenüber. Alles einzelne, sagten wir, ist an ihm veraltet. Die Welt liest und genießt ihn nicht mehr. Deshalb kann man die Figur des Erasmus nicht vollends als in die Kategorie des Klassischen eingegangen betrachten. Klassisch ist der Geist, dessen Schöpfung, sei es Dichtung, Gedanke oder bildende Kunst, noch unmittelbar und im einzelnen die Nachwelt ergreift und rührt, stärkt oder reizt, wie dies zutrifft für Aeschylus, für Dante, für Rembrandt, für Pascal. Nicht für Erasmus. Sollte es dann vielleicht das Bild des Menschen Erasmus sein, welches uns mitreißt oder tröstet? Abermals nein. Aus jeder Seite seiner Schriften tut sich dieses Bild seiner Persönlichkeit vor uns auf, trotz schimmernder Vielfältigkeit doch eigentlich immer gleich. Doch diesem Menschenbild gegenüber können die meisten von uns kein höheres Maß der Bewunderung und Anerkennung aufbringen, als eben jenes verständnisvolle Lächeln, mit welchem Erasmus selber die Welt ansah. Dem großen Erasmus, den wir würdigen möchten, steht immer wieder ein kleiner Erasmus im Wege. Er hat immer seine schwachen Seiten so arglos nach vorn gekehrt, daß man geneigt ist, ihn aus Bequemlichkeit beim Wort zu nehmen, und ihn bloß nach seinen Schwachheiten zu beurteilen. Das aber ist falsch. Es steckt ein tiefer Sinn in jenem Wort, das Dürers Erasmusbildnis auf griechisch trägt: das bessere Bild zeigen seine Schriften. Es ist nicht die Person, welche uns anzieht, sondern der Geist. Seiner Person fehlte es gerade an denjenigen Eigenschaften, welche die Gegenwart wieder aufs höchste wertet. Erasmus hat nichts Ritterliches. Ihm fehlt jeder Zug ins Heroische. | |
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Er hatte jedenfalls den Mut, sich nicht heroisch zu gebärden. Und noch andere Arten des Mutes dazu, wie den frischen Mut, mit einer Arbeit nicht bis zur peinlichsten Ausführung jedes Details zu warten, sondern sie zu publizieren, sobald er sie in erster Fassung fertig hatte. Körperlich mochte er ängstlich sein, seine geistige Person der Kritik und Verdächtigung bloßzustellen hat er sich niemals gescheut. Freilich fehlt ihm dann wieder die ruhige Kraft, Kritik und Verdächtigung gelassen zu verachten. Die ewige Selbstrechtfertigung, bis in die geringfügigsten Kleinigkeiten, macht seine späteren Briefe zu einer endlosen apologischen Litanei. Doch aus dieser Apologie klingen bisweilen treffende Laute. Soll denn, fragt er, unter allen Menschen Erasmus allein unfehlbar sein? Man findet doch Irrtümer sogar bei Augustinus und Hieronymus. Ein anderes Mal heißt es: Es ist nicht Standhaftigkeit, immer dasselbe zu sagen, sondern immer auf dasselbe zu zielen. Schließlich, diesmal in gelassenem Ton: Die Späteren werden, wie ich hoffe, ein billigeres Urteil fällen. Ich werde bis zu meinem letzten Lebenstag fortfahren, mir selber gleich zu sein. - Das ist er doch im Grunde auch geblieben.
Nicht aber nur in seiner Person finden sich die Dissonanzen, welche uns daran hindern, ihn vorbehaltlos in unser Pantheon der menschlichen Größe aufzunehmen. Auch seine geistige Haltung enttäuscht uns immer wieder. Das gilt wohl am ehesten von seinen religiösen Ideen, die ich übrigens nur ganz kurz berühren will. Es ist für uns Heutige, zu welchem Glauben wir uns auch bekennen, oftmals schwer, der erasmischen Frömmigkeit gerecht zu werden. Er bleibt für unser Empfinden mit seinem Glauben irgendwo halbwegs stehen. Wir beklagen es nicht, daß er den grellen, weinerlichen Ton der spätmittelalterlichen Frömmigkeit hat fallen lassen zugunsten der ruhigen, eindringlichen Zurede des Enchiridion militis christiani. Uns stört aber des öfteren die tändelnde Leichtigkeit seines Humanistenstils, wenn er von heiligen Dingen redet. An Beatus Rhenanus schickt er ‘ein ausgelesenes in den grünsten Gärten der heiligen Schriften gepflücktes Blümchen’. Wir haben Mühe, eine so ästhetisch gefärbte Frömmigkeit als ernst gelten zu lassen. Das ist weder der Akzent Luthers, noch Calvins, noch der Santa Teresa. Das religiöse Empfinden des Erasmus scheint uns öfters in eine mittlere Sphäre der poetischen Gelehrsamkeit gerückt, statt daß sie aus den Tiefen zum Himmel emporriefe. Die Stimme des Erasmus klingt kaum jemals de profundis. | |
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Scheint uns seine Frömmigkeit zu weich oder zu flach, seine Theologie scheint uns zu schwankend und unbestimmt. Er hatte den strengen Logizismus der Scholastik preisgegeben. Auf Begriffsbestimmungen legte er geringen Wert. Begehrte er also zu einer tiefen und scharfen philosophischen Begründung des Glaubens nicht vorzudringen, so war doch auch die unmittelbare mystische Grundlage seines theologischen Denkens schwach. Rationalist war er ebensowenig. Sein Glaube wurzelte in tiefernsten ethischen Bedürfnissen. Diese ethische Grundlage hat seine Haltung im Kirchenstreit so ausgesprochen sozial bedingt. Ihm gilt die Eintracht auf Erden über alles andere. Er wirft Luther vor, daß er den Consensus populi christiani für nichts achte. Die theologische Polemik ist ihm verhaßt und scheint ihm nutzlos. Es schreckt ihn nicht, wenn die Grundfragen des Glaubens dahingestellt bleiben. Die heilige Wahrheit erträgt keine haarscharfe Bestimmung. ‘Die ganze Kontroverse’, schreibt er 1527 an Thomas Morus, ‘ist viel mehr ein Streit der Wörter als der Sachen.’ Man tue der Frömmigkeit einen kleinen Dienst, wenn man in diese Höhle (des unergründlichen Mysteriums) tiefer eindringe, als es sich ziemt. Im Lob der Torheit sagt Stultitia irgendwo leichthin: ‘Adumbrata quidem omnia, sed haec fabula non aliter agitur’. Das ist ein tiefes Wort, das gewissermaßen die ganze religiöse Haltung des Erasmus wiedergibt. Alles ist nun einmal bloß angedeutet, skizzieret, aber dieses Stück wird nicht anders gespielt.
Mancher würde bei Erasmus den allgemeinen Mangel an philosophischer Bestimmtheit leichter hinnehmen, wenn dem ein hoher Grad der Exaktheit in seinem Urteil über das praktische Leben gegenüberstünde. Das trifft aber nicht zu. Sein Urteil über die Dinge der Welt ist zwar sehr entschieden, aber keineswegs exakt. Sein ausgesprochener Moralismus gibt ihm eine wohl konsequente, jedoch stereotype Beurteilung ohne weiteres ein. Man kann diesen Standpunkt nicht den eines gesunden und besonnenen Realismus nennen. Erasmus lebte in einer Bücherwelt. Diese Welt war bevölkert von einer zahlreichen Schar antiker Gestalten und von einer kleinen, aber auserlesenen Zahl hoher christlicher Figuren. Diese letzteren bilden in seiner geistigen Welt die höchste Autorität. Nur ganz wenige sind für Erasmus wirklich richtunggebend gewesen. Neben dem Erlöser selbst und Paulus sind es doch eigentlich nur die älteren Kirchenväter. Das Wort der Propheten des Alten Bundes klingt wenig durch, das- | |
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jenige des Psalmisten bloß in der langatmigen Paraphrase. Die spätere Theologie hat an dem Aufbau der erasmischen Gedankenwelt kaum Anteil. Unter dieser Herrschaft des christlichen Elementes nun wimmelt es von klassischen Autoritäten, seien es Schriftsteller oder historische Figuren. Sie bilden sozusagen einen überaus zahlreichen und wenig differenzierten Landadel, der über alle Angelegenheiten mitredet, wie es ihm gefällt. Aus dieser imaginären Welt des Schondagewesenen ist der Geist des Erasmus immer nur zaudernd und unwillig herausgetreten. Er schützte die Augen vor dem hellen Schein der Gegenwart durch die Brille seiner christlich-heidnischen Antike. Mit Widerwillen sah Erasmus, der doch in seiner Person den Triumph des gedruckten Buches verkörpert hat, das Anschwellen der neuen Bücher und die Freiheit des neuen Buchgeschäftes. Solche Überproduktion, meint er, sei den Studien äußerst schädlich. Wegen der Sättigung an sich, und weil die Fülle des Neueren die launenhaften Menschen von der Lektüre der Alten abhalten werde, während man doch Besseres als die Alten nicht hervorbringen könne. Höchstens mögen die Neueren gelegentlich etwas finden, was jenen entgangen war. Wenn es mit der Vernachlässigung der echten Studien so weitergehe, werde bald jede Autorität von Reichsräten, Konzilien, Schulen, Rechtsgelehrten und Theologen ganz zunichte werden und eine barbarische Militärtyrannis, wie die türkische, hereinbrechen. So spricht der Mann, der in seiner Bücherwelt gefangen sitzt wie in einem Zaubergarten. Er konnte und wollte nicht hinaustreten. Hinausschauen aber wollte er doch. Da aber sah er eine Welt, die in sein Idealbild gar nicht passen wollte. Er scheute sich vor dieser rauhen und heftigen Wirklichkeit. Das Verständnis und das Interesse für die Dinge, welche außerhalb der Sphäre seines biblisch-klassischen Moralismus lagen, gingen ihm ab. Er fand keine Handhabe zum Gebrauch dieser Welt. Im Treiben seiner Gegenwart sah er nur, grell und beängstigend, das Rohe und Unvernünftige, das ihn störte und verletzte, jedoch nicht oder kaum das Neue und Fruchtbare, das heraufkam und sich in hartem Kampfe durchrang. Um 1517 hatte er sich vorübergehend wohl an dem freudigen Gedanken geweidet, die bonae literae, wie sie die Eintracht der Fürsten pflegte und trug, seien im Begriff, eine Ära des Glückes, der Bildung und des Friedens herbeizuführen. Die Stimmung aber war ihm bald vergangen. Der Ausblick des Erasmus in die nächste Zukunft war | |
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fortan so düster, wie er es nur je bei einem mittelalterlichen Kleriker war. Immer heißt es: die Welt ächzt in den Wehen einer wundersamen Umwandlung der Dinge. Mir scheint es, die menschlichen Sachen neigen zu einer skythischen Barbarei und zur gänzlichen Verderbnis der freien Disziplinen. - Die politische Welt schien ihm in einem schnellen Verfall begriffen, aus dem die Tyrannei einiger wenigen hervorgehen werde. Einstweilen müsse man die Tyrannei ertragen, damit nicht die Anarchie sie ablöse. Ist dieser verzagende und verzweifelnde Erasmus der Mann, dessen Geist uns noch ein wertvoller Besitz geblieben ist? - Gewiß nicht. Stehen dann diesem allgemeinen politischen Pessimismus praktischkonkrete Ratschläge für die Hebung des staatlichen Lebens zur Seite? - Es bleibt zweifelhaft. - Seine positiven Ansichten über Staat und Verwaltung treten kaum aus der Sphäre der frommen Wünsche heraus. Erasmus hat immer gemeint, der gute Wille der Fürsten genüge, um der Welt den Frieden und die Wohlfahrt zu sichern. Sie könnten ja so leicht sich den Werken des Friedens widmen, statt sich fortwährend wegen vermeintlicher Rechte oder bloßer Habsucht zu bekriegen. An sich sei zwar die Monarchia, das heißt die Weltherrschaft, die beste Form des irdischen Regiments. Sie sei aber unerreichbar, unpraktisch und auch unnötig, wenn nur unter den christlichen Fürsten Eintracht herrsche. In diesem Zusammenhang nun - es handelt sich um einen Brief an die Herzoge von Sachsen, von 1517 - geht Erasmus vom bloßen Seufzer zu bestimmten Reformgedanken über. ‘Wenn sich’, schreibt er, ‘etwas ohne gewalttätiges Eingreifen erneuern ließe, so würde es meines Erachtens zur allgemeinen Sicherheit der christlichen Welt besonders dienlich sein, wenn durch bestimmte Verträge zum allgemeinen Nutzen jedem die Grenzen seiner Herrschaft vorgeschrieben würden, welche, einmal konstituiert, durch keine Verwandtschaften oder Pakte weder eingeengt noch erweitert werden könnten, unter gänzlicher Aufhebung der alten Rechtstitel, die jeder nach Umständen, wenn er Krieg wünscht, hervorzuziehen pflegt. Falls aber einer vielleicht ruft, daß in der Weise ein gewisses eigenes Recht den Fürsten entzogen würde, der möchte doch bedenken, ob er es billig erachte, daß wegen derartiger Rechte, welche einer entweder hat oder vielleicht nur ersinnt, die christliche Welt durch frevelhafte und vatermörderische Waffentaten ohne Ende erschüttert wird...’ Hier blitzt doch auf einmal ein politischer Zukunftsgedanke auf: | |
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der Gedanke des dauerhaft organisierten Staatenfriedens. Man mag die Äußerung naiv, utopisch, illusorisch nennen, man mag uns daran erinnern, daß gerade jetzt, nach vierhundert weiteren Jahren des immer verwüstenderen Haders, die sogenannt christliche Welt sich für die Durchführung dieses Gedankens unfähiger gezeigt habe als je, dennoch spricht Erasmus hier den Gedanken aus, von welchem die Menschheit nicht ablassen kann und nicht ablassen darf, will sie nicht in dem bodenlosen Sumpf ihrer säkulären Iniquität untergehen. Hier haben wir auf einmal den Erasmus, dessen unvergänglichen Wert wir feiern. Saeculum furiosum... du hast noch immer recht, Erasmus! ‘Ich sehe’ - heißt es an Pirckheimer, 1520 - ‘die menschlichen Sachen überall so verdorben, daß ich glaube, in keinem Zeitalter sei je der Unverschämtheit, der Dummheit, der Missetat soviel erlaubt gewesen.’ Es ist leicht, die Verkünder hoher Prinzipien einer gerechten und vernünftigen Gesellschaftsordnung Utopisten zu schelten. Man findet damit fast immer den Beifall der Massen. Fragt sich aber, welche Geister der Menschheit in ihrem Weg nach oben unentbehrlicher gewesen sind, diese oder die Männer der kriegerischen Tat, Plato oder Alexander, so kann nur ein überzeugter historischer Determinismus den letzteren den Vorzug geben. Man könnte ja auch Plato und Christus Utopisten nennen. Unter den unentbehrlichen Geistern der Geschichte muß man auch für Erasmus einen bescheidenen Platz beanspruchen. Freilich, es regt sich sogleich wieder der Widerspruch, den wir voranstellten: fast in allem einzelnen ist Erasmus überholt. Das erhellt namentlich, wenn man sich von seinen Ideen über Krieg und Frieden zu seinen Ansichten über Verwaltung und Wirtschaft wendet. Die bequeme Überlegenheit seines Urteils über Staatssachen ist nur zu oft nicht in wirklicher Kenntnis der Dinge sondern in Unkenntnis derselben begründet. Er stand dem praktischen Leben durchaus ferne. Er wußte nicht, wie sich die Welt bewegt, er ahnte nicht, was zur Verwaltung eines Landes nötig sei. Seine Ansichten über Staatswesen und Wirtschaftsleben sind von einer radikalen Einfachheit. Für den Kaufhandel hat er kaum ein anderes Wort als sordidissima übrig. Steuern und Beamtentum betrachtet er aus dem Gesichtswinkel des geplagten Kleinbürgers. Probleme der Arbeitslosigkeit kennt er nicht: wer gesund ist und mit wenig zufrieden, braucht nicht zu betteln. Die Rechtsgelehrsamkeit verachtet er, sie ist ‘a veris literis alienissima’. | |
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Er findet es lächerlich, daß einer als gescheit gilt, weil er weiß, was alles in der Welt vorgeht, weil er den Stand des Marktes kennt, die Pläne der Monarchen weiß. Das alles ist nicht viel mehr als wohlfeile Weisheit eines Geistes, der sich aus dem Leben in die Bücher flüchtet, Weltflucht ohne echten aszetischen Gehalt, mit einem stoischen Firnis aufgefrischt. Auf diesem Gebiet ist der große Erasmus nicht zu suchen. Gleich daneben aber finden wir diesen wieder, sobald es sich um rein gesellschaftliche Fragen handelt. Man sollte die Institutio matrimonii christiani lesen, um der Bedeutung der erzieherischen und sozial-hygienischen Ideen des Erasmus innezuwerden. Diese Seite seines Wesens, seine Liebe zum unverdorben Natürlichen in der Lebensführung, bringt uns auf einen Hauptpunkt unserer Überschau: das Verhältnis des Erasmus zur Natur überhaupt. Hat er mit seinem Freunde Thomas Morus den starken und offenen Sinn für den Segen des Lebens nach der Natur völlig geteilt? Bricht auf diesem Gebiet die frohe Blüte der Renaissance auch aus ihm hervor? Die Antwort ist nicht mit einem Wort zu geben. Für die Kenntnis der großen Geister ist es nicht bloß wichtig zu wissen, welche Werke sie geschaffen haben, sondern auch, welche sie sich vorgenommen hatten zu schaffen, aber unausgeführt ließen, und aus welchem Grunde. Erasmus nun hat uns darüber selbst gelegentlich ein Zeugnis hinterlassen, das im Zusammenhang dieser Betrachtung unsere Aufmerksamkeit verdient. In seinem Brief an Johannes Botzheim vom 30. Januar 1523, in dem er seine Schriften aufzählt, vermerkt Erasmus, nachdem er über das Encomium Moriae gesprochen hat: ‘Wir hatten damals drei Deklamationen zusammen im Sinn: das Lob der Torheit, der Natur und der Gnade; aber die Grämlichkeit gewisser Leute hat gemacht, daß ich darauf verzichtete’. Man fragt sich vergebens, wie dieses Lob der Natur im Geiste des Erasmus ausgesehen hat. Offenbar war etwas Gewagtes daran, warum hätte er sonst sein Vorhaben wegen der zu erwartenden Kritik aufgeben müssen? Das Lob der Natur als Mittelstück zwischen der einzigartigen Laus Stultitiae einerseits und einem Lob der Gnade anderseits, wir ahnen schwach einen uns unbekannten Erasmus höchster geistiger Entfaltung! Torheit, Natur und Gnade als eine Dreiheit aufsteigender Potenz, ist es nicht, als ob wir hier eines innerlichsten Kredo der Renaissance verlustig gegangen wären? Im Lob der Torheit selbst hat Erasmus schon etwas von den beiden anschließenden Themen vorweg- | |
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genommen, aber was er darüber mehr hätte sagen wollen, bleibt uns unbekannt. Nur gelegentliche Äußerungen ohne Zusammenhang oder geschlossene Form belehren uns über seine Ideen von der Natur. Von seinem klassischen Standpunkte her, und ebenso aus seiner einfachen ethischen Einstellung heraus, mußte er sich einer Gutheißung des unverdorben Natürlichen als Richtschnur des Lebens nähern. Der ungenügend historisch beschlagene Renaissancebewunderer läuft immer Gefahr, die Schlagworte der natürlichen Freiheit, welche ihm aus jener Zeit entgegenklingen, zu ernst zu nehmen. Im ‘Fais ce que vouldras’ von Thelème in der Phantasie von Rabelais, im ‘Virtutem definiunt secundum naturam vivere’ der Utopia, hört er allzu leicht den Freibrief eines modernen Immoralismus. Erasmus hat schon Sorge getragen, daß seine Wertung des Natürlichen immer ausdrücklich der Herrschaft des göttlichen Gebotes unterstellt bleibt. Es sind vor allem die Colloquia, aus denen man die Beziehungen des Erasmus zur Natur kennenlernt. Im Convivium religiosum, dem ersten ausführlichen Dialog, mit dem er 1522 den Familiarium Colloquiorum Formulae weiteren Inhalt und höhere Bedeutung gab, hat Erasmus sich in saftiger und freudiger Naturbeschreibung ergangen. Die Früchte, die Gerichte, das Geschirr der Mahlzeit, es wird alles wie in einem Gemälde von Pieter Aertsen vor uns aufgetischt. Das Gartenhaus mit seinen sinnreichen Bemalungen und Aufschriften wird in schlichter Darstellung liebevoll beschrieben. Unter frommen Gesprächen genießen die Freunde die frugale Mahlzeit im Freien. ‘Aber laß tuns, sagt Eusebius, während wir so weidlich unseren Seelen gütlich tun, unsere Kollegen nicht vernachlässigen. - Wieso Kollegen? fragt Theophilus. - Unsere Körper, meine ich, sind sie nicht die Kollegen der Seelen? So nämlich nenne ich sie lieber als Werkzeuge oder Gehäuse, oder Gräber.’ - In einem anderen Colloquium, der ‘Wallfahrt’, wird den abgeschmackten Wundern der Heiligenbilder die natürliche Farbenpracht der Edelsteine entgegengehalten, deren jeder das Bild eines Naturobjektes widerzuspiegeln scheine. Was hat die Natur mit so müßiger Schöpfung vorgehabt, fragt Menedemus, daß sie in den Gemmen so mit der Nachahmung aller Dinge spielt? - Sie hat die Wißbegierde, Curiositas der menschlichen Vernunft üben wollen, lautet die Antwort, und uns auch so vom Nichtstun abhalten wollen. Und trotzdem bringen wir lieber die Zeit mit Narren, mit Würfeln, mit Gaukelspiel zu. Hier klingt also die Bewunderung für die | |
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Herrlichkeit und den Reichtum der Natur an, welche schon für Leben, Kunst und Wissenschaft so reife Früchte trug. Doch dieser Ruf der Natur heißt noch bloß Curiositas. Im Epicureus kommt Erasmus noch einmal auf die Schönheit und die Würdigung der Natur zurück. ‘Was kann ein herrlicheres Schauspiel sein, - heißt es da -, als die Betrachtung dieser Welt? Daraus aber schöpfen die Menschen, welche Gott liebt, viel mehr Genuß als die übrigen. Denn während diese letzteren mit neugierigen Augen dieses wundersame Werk anschauen, werden sie in ihrer Seele geängstigt, da sie von vielen Dingen die Ursachen nicht fassen können. Ja, sie tadeln sogar bisweilen die Natur, und nennen sie Stiefmutter statt Mutter und schmähen damit in Wirklichkeit nicht die Natur, sondern ihren Schöpfer. Der Fromme dagegen schaut nur mit Entzücken die Werke seines Herrn und Vaters, jedes einzelne bewundernd, nichts tadelnd, für alles dankend.’ Die Wertung der Natur, welche aus diesen Äußerungen spricht, ist im Grunde von mittelalterlicher Geisteshaltung noch nicht verschieden, wenn auch ein platonischer Einschlag darin mittönen mag. In der freudigen Anschauung der Wunder der Natur findet Erasmus noch nicht mehr als die lobenswerte Befriedigung einer frommen Curiositas. Das ernste Bedürfnis aber, in diesen Geheimnissen zu bohren und zu graben, wie es einen Leonardo oder Paracelsus trieb, kennt er noch nicht, ja er hat es noch als frevelhaft empfunden. Im goldenen Zeitalter, sagt Stultitia, waren die Menschen zu fromm, um mit gottloser Neugierde den Geheimnissen der Natur, den Massen, Bewegungen und Wirkungen der Gestirne nachzuspüren. Der Wahnsinn, erforschen zu wollen, was außerhalb des Himmels ist, kam ihnen nicht in den Sinn. - Es ist kaum zu bezweifeln, daß die Torheit hier die ernste Überzeugung des Erasmus wiedergibt. Denn weiterhin heißt es, in einem Atem mit der Verwerfung der von Erasmus so gründlich verachteten Scholastik, von den Philosophen: ‘Wie süß reden sie irre, wenn sie unzählige Welten bauen, wenn sie den Mond, die Sterne, die Planeten wie mit dem Daumen oder einem Draht messen, wenn sie die Ursachen angeben der Blitze, der Winde, der Finsternisse und von anderen unerklärlichen Dingen, ohne irgendein Bedenken, gleich als ob sie die Geheimschreiber der Baumeisterin Natur gewesen wären, während inzwischen die Natur sie mit ihren Konjekturen herzlich auslacht’. Aus diesen Aussprüchen geht genügend hervor, daß Erasmus am Aufbau der Naturwissenschaft nicht nur keinen Anteil gehabt, son- | |
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dern ebensowenig ihren Advent geahnt hat. Wenn er in der Ratio seu Methodus eine auf direkter Anschauung beruhende Sachkenntnis der Naturobjekte anempfiehlt, so geschieht es doch eigentlich bloß zum Zweck einer genaueren Interpretation der Heiligen Schrift. Er beobachtet und notiert zwar mit Interesse merkwürdige Erscheinungen aus dem Tierleben und der Pflanzenwelt, wie den Affen, der die Kaninchen gegen das Wiesel schützte, und das Aloeholz, das so leicht schien und doch im Weine sank, aber die Grundlage der Naturerkenntnis bleiben ihm doch die antiken Schriftsteller. ‘Mundum docet Plinius.’ Er schenkt sogar mancher Tierfabel Glauben, welche Plinius verworfen hätte, und zählt unter den möglichen Variationen der menschlichen Art die Monophthalmi und die Skiopoden, die sich mit ihrem einzigen breiten Fuß gegen die Sonne schützen, ruhig mit auf. Zweimal hat er in den Colloquia eine Probe von wissenschaftlicher Diskussion einer Naturerscheinung gegeben. Amicitia behandelt die Frage der Sympathie und Antipathie in der Tierwelt, Probleme diejenige der Schwere und Leichtigkeit der Körper. Beidemal geschieht es ganz in der Weise einer logischen Erörterung. Erasmus hatte das Wehen eines neuen Geistes auf diesem Gebiet noch nicht gespürt. Das argumentum e silentio bleibt immer verfänglich, doch kann man es in bezug auf Erasmus in zwei Hinsichten kaum hintanhalten: er spricht fast gar nicht von der Entdeckung der Welt, wie sie in seinen Tagen vor sich ging, und er erwähnt ebenso selten die bildende Kunst, wie sie sich damals so herrlich entfaltete. Ganz beiläufig kommt er einmal darauf zu sprechen, daß heutzutage unbekannte Länder gefunden werden, deren Grenzen noch keiner bisher habe erforschen können, obwohl es feststehe, daß sie von unendlicher Größe seien. Die Tatsache dient ihm nur als Argument, daß es noch niemals eine wirkliche Weltherrschaft gegeben habe. Wie er in der Widmung seiner Chrysostomus-Ausgabe an den König von Portugal die Seeherrschaft der Portugiesen lobt, welche die Fahrt nach Indien so sicher gemacht habe wie nur auf irgendeinem anderen Meer, fügt er hinzu: Wenn bloß die Monopole gewisser Leute diesen Segen nicht verderben! Denn, wie ich höre, während die Einfuhr soviel erleichtert ist, steigen dennoch die Preise, besonders der Zucker wird zu gleicher Zeit teurer und schlechter. Vielleicht könne der König dem abhelfen. - In Portugal ärgerte man sich über dieses handelspolitische in parenthesi zum Chrysostomus. Es wird immer betont, daß Erasmus für die Kunst seiner Tage so- | |
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wenig Verständnis oder Interesse gezeigt hat. Man wundert sich darüber, daß dieser doch stark ästhetisch veranlagte Mensch, der in seinen jungen Jahren selbst gemalt hatte, im Italien des angehenden Cinquecento nichts über die herrliche Entfaltung der bildenden Künste zu sagen fand. Noch auffallender ist es im Grunde, daß seine unbedingte Verehrung des Altertums kaum jemals den Monumenten der antiken Kunst gilt. Aus diesem Stillschweigen ihm den Vorwurf der Unempfindlichkeit zu machen, hieße jedoch den richtigen Sachverhalt verkennen. Erasmus suchte nun einmal etwas anderes als bildende Kunst, und es war damals noch nicht Sitte, sich in Dithyramben künstlerischer Würdigung zu ergehen, wenn das Thema es nicht forderte. Allerdings würde eine Prüfung seiner seltenen Äußerungen, die ein ästhetisches Urteil enthalten, ihn auf diesem Gebiet so zeigen, wie er ja überhaupt war: als einen Geist von geringem Schwunge, auch im Ästhetischen erfüllt von jenem Sinn für das Ebene, Schlichte, Zarte, welchen er in seinem ganzen Wesen und Denken an den Tag legt. Zwei Beispiele solcher Schönheitsurteile: Am Morgen soll man im Garten herumschweifen, am Abend an den Strom hinausgehen, denn bei sinkender Sonne ist dieser Anblick am schönsten. Er weiß schon, daß das Alter einem Gemälde einen höheren Reiz zufügt. Erasmus war in seiner Jugend musikalisch geschult worden von keinem geringeren Meister als Jacob Obrecht, hat aber meines Wissens nichts gesagt, was von einem tieferen Verständnis für das musikalisch Schöne Zeugnis ablegte. Musik gilt ihm vor allem als etwas ganz Flüchtiges und Schwebendes. Wie so viele vor ihm fürchtet er von der Musik eine laszive Wirkung, besonders vom Volkslied und von den Tanzweisen. Im Kirchendienst will er die neue Kunstmusik nicht zulassen. Seine Würdigung der Kunst bleibt also durchaus seiner moralistischen Gesinnung unterstellt. Man sollte biblische Szenen wie Bathseba, Susanna usw. nicht darstellen. Man sollte all das Geld, welches für Denkmäler verwendet wird, lieber den Armen geben. Von dieser Seite betrachtet, scheint uns Erasmus viel mehr wie ein mittelalterlicher Kleriker im bürgerlichen Milieu als wie ein Träger der großen allgemeinen Neubelebung seiner Zeit. Dieses Bild steht ja in schroffem Gegensatz zu unserer Auffassung der Renaissance. Es muß aber immer wieder daran erinnert werden, daß man nicht die Menschen des 16. Jahrhunderts an unserem Renaissancebegriff messen soll, sondern umgekehrt unseren Renaissancebegriff an den Menschen des 16. Jahrhunderts. | |
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Als Wiedergeburt ist der geistige Prozeß seiner Zeit Erasmus durchaus bewußt gewesen. ‘Renascuntur bonae literae, resipiscit mundus, reflorescit politior literatura.’ Solche Ausdrücke kommen wiederholt bei ihm vor. Der Akzent liegt übermäßig auf der literarischen Seite. Jedoch in diesem intellektuellen Bekenntnis allein liegt nicht die Renaissancequalität seiner Persönlichkeit. Er hat Anteil an all den höchsten Eigenschaften, deren Verbindung für uns die Bestimmung des Begriffs Renaissance ausmacht: das edle Maß, die Klarheit, die einfache Würde, der hohe Ernst, das sehnende Bedürfnis nach einer ewigen Harmonie in allen Dingen. Was ihm bei all dem an der Begabung zur höchsten schöpferischen Gestaltung fehlt, das ist Leidenschaft und Formkraft. Er schafft fortwährend Wunder des literarischen Ausdrucks, aber immer als Stückwerk, als Ziselierarbeit. Es mangelt ihm an Ruhe und an der Bereitschaft zur Weglassung des Nebensächlichen. Es fehlen ihm, und hier geht der Mangel über den Bereich des bloß Ästhetischen hinaus, die großen Ausdrucksgattungen des Wortes. Sein Geist ist weder episch, noch lyrisch, noch dramatisch. Es ist allzu leicht, für all diese Kategoriën einen anderen großen Namen seiner Zeit heranzuführen, um von jedem auszusagen: an diesen reicht Erasmus nicht heran. Erasmus aber würde antworten: Habe ich denn solches gemeint oder gewollt? Einmal hat er es ganz deutlich gesagt, wie er gewürdigt werden möchte. Er beanspruchte nicht, bewundert und verehrt zu werden. Es war ihm genug, als ein schwacher Christenmensch geliebt zu werden.
Wer sich mit den Schriften des Erasmus befaßt, stößt immer wieder auf Unzulänglichkeiten, die ihn daran hindern, den großen Rotterdamer in die Reihe der Allergrößten aufzunehmen. Er teilt dann wohl einen Tadel oder ein Ärgernis über Erasmus seinen Lesern oder Hörern mit. Hinterher aber beschleicht ihn bisweilen ein Gefühl: und doch tat ich ihm unrecht. Dann wird es ihm gut sein, zu bedenken, daß in unseren Tagen ein edler Geist und innig guter Mensch, dessen Lebensarbeit ihn wie zum Mittler zwischen Erasmus und der Jetztzeit gemacht hat, ich meine Percy Stafford Allen, obwohl er die Schwächen des Erasmus besser kannte als irgendein anderer, an seiner wahren und echten Größe nie gezweifelt hat. Wir sollten uns bemühen, Erasmus zu verstehen, wie ihn Allen verstanden hat. Es drängt uns zum Schluß. Wir möchten einen lebenden Erasmus in | |
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unsere Zeit herüberziehen. Wir fragen uns vielleicht: was hätte Erasmus, so wie er war, noch von unserer schweren Zeit begriffen, was hätte er zu ihr gesagt? Eitle Frage. Nur dieses läßt sich antworten: er hätte die Torheit und die Bosheit der Welt so laut beklagt wie damals, oder lauter noch. Erasmus kannte die Unzulänglichkeit alles Irdischen und die Unvollkommenheit jedes Menschen. Er war bereit, beide hinzunehmen, soweit der Schöpfer selbst die Grenze gesteckt hatte. Jedoch er weigerte sich, die Welt und den Menschen unvollkommener hinzunehmen, als sie sein könnten und sein sollten. Die Pflicht des Besseren hat er hingestellt mit einer Entschiedenheit, welche kein späteres Zeitalter überbieten konnte. Gewiß, er hat die Möglichkeit der Besserung zu einfach gesehen. Er meinte, zur Erkenntnis des Besseren und zur Unterscheidung des Wahren sei ein einfacher Schluß der Vernunft genug. Man brauche nur das Wesen vom Scheine zu trennen. ‘Wenn der Mensch ein vernünftiges Tier ist,’ - heißt es im Colloquium De rebus ac vocabulis - ‘wie sehr widerspricht es dann der Vernunft, daß wir in den Annehmlichkeiten des Leibes, und in den äußeren Dingen, welche uns das Glück nach Belieben schenkt und raubt, die Sache lieber haben als den Namen, in den wahren Gütern der Seele aber den Namen höher schätzen als die Sache?’ - Das kann sich die Welt noch immer sagen. Wir wissen, daß mit einer so einfachen sittlichen Ermahnung, wie sie Erasmus bot, die Lösung der Probleme unserer Zeit ebensowenig gegeben ist, als sie es damals war. Doch es wäre für die Welt von heute schon ein großer Gewinn, wenn etwas von dieser erasmischen Einfalt und Klarheit des sittlichen und vernünftigen Urteils wieder über sie käme. In die Feier seines Todesjahres mischt sich für zahllose in der ganzen Welt der Ekel vor der Lüge, dem Stumpfsinn, der Roheit und der Bosheit, deren die Welt voller scheint als je zuvor. Wir brauchen Erasmus noch. Nicht um uns alle in seine Werke zu vertiefen. Das bleibe den wenigen überlassen, die immerhin zusammen eine stattliche und wahrlich internationale Gemeinschaft bilden. Wir alle aber brauchen Erasmus als Symbol. Daß er das werden konnte, daß seine historische Figur diese Wucht eines Symbols erhalten konnte, daß sie mahnend und warnend der Welt vor Augen stehen bleibt, darin liegt schließlich der beste Beweis seiner unvergänglichen Größe. Zu den Geistern, deren wir nicht entbehren können, gehört auch er. Der welthistorische Zeitpunkt, den wir durchleben, ist wiederum die Stunde des Erasmus. Seine Stimme klingt von weitem, schwach im | |
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Getöse einer taumelnden Welt. Aber laut und stark tönt diese Stimme, der Ruf der Menschlichkeit, in den Herzen all derjenigen, welchen die Hoffnung auf den Sieg der Wahrheit und des Guten nicht genommen werden kann. |
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