Verzamelde werken. Deel 4. Cultuurgeschiedenis 2
(1949)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekendVIII. Ideenwert der allegorischen FigurenEs fragt sich also: welchen gedanklichen Wert haben diese Figuren seiner Allegorie für Alanus gehabt? Da könnte man die Antwort erwarten: schon die Natur der Allegorie an sich hebt sie aus der Sphäre des Intellektuellen ganz hinaus, und macht eine Prüfung auf ihren gedanklichen Gehalt überflüssig. Oder: dieser ganze Vorrat der spätantiken rhetorischen Verzierung wurde vom christlichen Mittelalter nur als tote Belastung mitgeschleppt, und als Schulübung verwendet. So wird die Frage von Baumgartner abgetan. Ihm gilt bloss ‘die Meinung des Philosophen,... befreit von den Zierraten und Zugaben einer übersprudelnden dichterischen Phantasie’Ga naar voetnoot3. Die ‘Verselbständigung der Ideen’ diene nur ‘dem rein dichterischen Interesse der anschaulichen Darstellung, ein poetisches Verfahren, welches mit der Lehre des Philosophen nicht verwechselt werden darf’Ga naar voetnoot4. Ähnlich urteilt auch Hans Liebeschütz: ‘wenn in Gedichten des Claudian die Natura vorkommt, wie sie in einer Stickerei Materie zur Ordnung der Elemente bändigt, oder Prudentius Tugenden und Laster gegeneinander kämpfen lässt, so ist das der Absicht nach keine Schilderung von wirklichen Dämonen oder Genien, sondern dichterische Darstellungsform, und so hat es das Mittelalter zunächst als Schulaufgabe zur Nachbildung übernommen’Ga naar voetnoot5. - Man kann das zugeben, | |
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aber doch noch einwenden: so sauber geschieden und so scharf umrissen liegen diese Dinge in einem menschlichen Geiste überhaupt nicht. Niemand wird daran denken, die Phantasmagorie des Alanus als seine bewusste und bekenntnismässige Überzeugung aufzufassen. Zwischen bewusster Überzeugung und gedankenloser Spielerei mit ornamentalen Wendungen liegt aber eine geistige Zone, die sich noch etwas näher bestimmen lässt. Gerade für den mittelalterlichen Denker lässt sich die Sache nicht so einfach abtun, weil für ihn die wirklichen himmlischen und höllischen Geister eine so ausgeprägte Gestalt und bestimmte Funktion hatten. Das Problem der Grenzen zwischen Glauben und Phantasie ist ein ernsteres, wenn es sich um den Geist des zwölften oder dreizehnten Jahrhunderts handelt, als wenn es die Spätantike oder die Renaissance betrifft. Claudian und Prudentius geben hier kaum eine Frage auf. In der noch unfixierten Bilderwelt der christlichen Antike schweben der poetische und mythologische Nachlass des Heidentums noch in einer Sphäre des halben Glaubens mit. Dem Renaissancedichter andererseits ist der Charakter seiner Personifikationen als Verzierung, der Allegorie als Kunstmittel, klar bewusst. Für den Scholastiker aber gilt die Frage: wie reimt sich das zusammen? Zur Bezeichnung seiner Figuren des Bösen bedient sich Alanus zunächst einfach der Terminologie seiner Vorbilder. Sie heissen also: tartarei proceres, rectores noctis, alumni nequitiae, fabri scelerum, culpae magistri, scelerum turbo, vitiorum turba, malorum conventusGa naar voetnoot1, pestes Erebi, scelerum contagia, monstra inferni, cives Plutonis, noctis alumniGa naar voetnoot2. Ins Christliche überzetzt können alle diese Namen, soweit sie etwas als persönlich bezeichnen, nur die Teufel der Hölle bedeuten. Wie der Kampf sich entwickelt, werden sie jedoch mehr und mehr bestimmt Vitia genannt, und die Art ihres Auftretens und ihr Äusseres hat mit den Vorstellungen der mittelalterlichen Dämonologie nichts zu tun. Dennoch war die Gleichsetzung von Lastern und bösen Geistern schon in der ganzen kirchlichen Tradition, ja im Neuen Testament selbst, gegebenGa naar voetnoot3. Eine regelrechte Auffassung der Sünden als höllische Wesen wurde vor allem nahegelegt durch die Art, wie der grosse Formgeber des mittelalterlichen religiösen Denkens, Gregor der Grosse, diesen Gedanken handhabte. In seiner Erklärung von 1 Reg. c. XIII vs 5Ga naar voetnoot4 | |
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heisst es, nachdem die Reiter als reprobi spiritus gedeutet worden sind, die Worte et reliquum vulgus sicut arena quae est in litore maris plurima bezeichnen die Laster im allgemeinen, quia ad ducatum malorum spirituum innumerabilis saevit contra nos turba vitiorumGa naar voetnoot1. In der Erklärung von Ezechiel IV. 1 u. 2Ga naar voetnoot2 wird die Vorstellung der Psychomachie als ein selbstverständliches Thema verarbeitet: der Prediger hat zu zeigen, quibus se modis vitia virtutibus opponant, quomodo luxuria castitatem feriat... qualiter multiloquium munitionem cordis destruat, quomodo invidia caritatem interficiat, quemadmodum superbia arcem humilitatis effodiat...Ga naar voetnoot3 In der durchgeführten Kriegsmetapher, die hier nicht wie bei Prudentius dichterisch, sondern rein theologisch, als realer Hintergrund symbolischer Schriftworte verwendet wird, war doch die Allegorie ganz nahe daran, sich unter die Glaubenssätze einzuschleichen. Wenn man also nicht behaupten kann, Alanus habe seine vitia bewusst als Schar von Teufeln dargestellt, so lässt es sich ebensowenig leugnen, dass die feindliche Macht im Anticlaudianus an sich doch durchaus die Hölle repräsentiert. Auch die Tugenden haben in der Welt der himmlischen Wesen keinen beglaubigten Platz. So sehr auch die realistische Denkweise zu einer Vorstellung als Wesenheiten von bestimmter Erscheinung hintendiert, die Theologie hat den Schritt zur richtigen Personifikation der Tugenden niemals getanGa naar voetnoot4 und die Ausgestaltung dieser Vorstellungen der frommen Phantasie überlassen. Diese Phantasie war aber nicht rein literarisch, sie griff ins religiöse Leben hinein. Den Beweiss dafür liefert folgende Erzählung, mitgeteilt vom demselben Stephan von Bourbon, den wir oben schon zitierten. Er nennt als seinen Gewährsmann Philippe de Montmirail, Gründer verschiedener BeginenhäuserGa naar voetnoot5. Dicitur quod quedam beguina, cum diu caruisset sensibili Sponsi visitacione, afflicta et languens timore et desiderio, dixit Fidei, tanquam pedisseque sue, ut ad Sponsum iret, et eum adjurando per suos articulos, quasi per carmina, | |
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et urgendo fervidis oracionibus et profundis gemitibus, venire compelleret; Spei, ut venientem cum gaudio susciperet, et ad influendas multimodas suas delicias cordi arido piis suspiriis et desideriis eum arctaret; Caritati, ut susceptum caperet, et captum vinculis caritatis ligaret et astringeret, et astrictum detineret. Quod et factum est, et inestimabilem et durabilem sentiit ejus consolacionemGa naar voetnoot1. Hier sehen wir also die drei theologalen Tugenden ganz leiblich als Personen in das religiöse Erlebnis aufgenommen. Das Wichtige daran ist, dass der sehr gewissenhafte und nicht ungelehrte Dominikaner den Fall als glaubhaft und erbaulich mitteilt. Einem Theologen wie Alanus würde wahrscheinlich darin die Entgleisung des Glaubens nicht entgangen sein. Auf die Frage, ob es denn ein persönliches Wesen Natura oder Prudentia gäbe, hätte er wohl vorbehaltlos nein geantwortet. Und doch ist auch bei ihm dieser ganze Bilderschatz seiner Dichtung so innig mit seinen tiefsten philosophischen und theologischen Gedanken verwoben, dass man ihm Unrecht täte, wollte man diese Poesie als literarisches Spiel qualifizieren und damit abtun.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Darstellung des Anticlaudianus als Ganzes. Der gesamte Inhalt der Heilsgeschichte und der himmlischen Hierarchie ist eigentlich ausgeschaltet. Es ist weder die Rede von Menschwerdung, Genugtuung und Erlösung, noch vom Heiland selber, noch von Erzengeln und Engeln, noch von Heiligen, es sei denn ganz beiläufigGa naar voetnoot2. Statt dessen entrollt sich eine imaginäre Handlung, die, ohne sich im Einzelnen mit den Begebenheiten des Heilsplanes zu decken, doch von weitem mit der christlichen Vorstellungswelt zu korrespondieren scheint. Der Dichter hat vor die Formenwelt des Glaubens einen Schirm gezogen, auf welchem ein Schattenspiel sichtbar wird. Immer noch handelt es sich darum, zu bestimmen, welchen Grad von Ernst diese Gestaltungen für Alanus gehabt, welches Leben diese Ideen in seinem Geiste geführt haben. Über einige weitere Andeutungen und Ahnungen kommen wir da selbstverständlich nicht hinaus. Es lassen sich genug Beweise dafür anführen, dass der Denker sich | |
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keineswegs von seinem literarischen Klassizismus hat düpieren lassen. Er kennt genau den Begriff der poetischen FiktionGa naar voetnoot1. Von seinem eigenen Werke sagt er in der Praefatio folgendesGa naar voetnoot2: In hoc etenim opere litteralis sensus suavitas puerilem demulcebit auditum; moralis instructio proficientem imbuet sensum; acutior allegoriae subtilitas perficientem acuet intellectum... Sed hi qui suae rationis materiale in turpibus imaginibus non permittunt quiescere, sed ad intuitum supercoelestium formarum audent attollere, mei operis ingrediantur angustias, certa discretionis libra pensantes quod sit dignum in aures publicas promulgari, vel silentio penitus sepeliri. - Er denkt also bei aller Autorenbescheidenheit von dem Werte seiner Dichtung und gerade von ihrem allegorischen Sinne nicht gering. Von seinem tiefen Ernste zeugt auch vor allem die Invocatio, die wir oben in extenso zitiert haben, wo Theologia die Führung der Prudentia von Ratio übernimmt. Als frommes und lehrhaftes Gedicht wollte er den Anticlaudianus gewertet wissen, und so haben ihn die Zeitgenossen auch aufgefasst. Unter den Schriften des Alanus, die er als sana et catholica rühmt, setzt Otto von St. Blasien († 1220) den Anticlaudianus an die erste StelleGa naar voetnoot3. Um dem Dichter Alanus gerecht zu werden, müssen wir ihn anderen Autoren seines Jahrhunderts an die Seite stellen, die ebenfalls mit dem Material der spätantiken Personifikation und Allegorie gearbeitet haben: Hildegard von Bingen und Herrad von Landsberg. Dieser Zusammenhänge hat auch H. Liebeschütz in seiner oben schon zitierten StudieGa naar voetnoot4 gedacht. Hildegard nimmt ihre Visionen durchaus ernst. Herrad fasst anscheinend ihren allegorischen Apparat nur als didaktisches Mittel auf, und spricht nicht von Visionen, ebensowenig wie Alanus. Ganz auf literarischem Boden steht Walter von Chatillon im zehnten Buch seiner Alexandreis, wo er die Natur selbst in die Unterwelt hinabsteigen lässt, um den Tod Alexanders herbeizuführen. Walter, der bessere Dichter von den zweien, weiss harmonischer als Alanus den christlichen Sinn in die heidnische Form zu giessen; seine Reihe der Sünden schliesst sich näher an die christliche Lehre an, sein Leviathan entspricht vollkommen Lucifer, dessen Worte sich ganz deutlich auf Christus beziehen, wenn er sagtGa naar voetnoot5: | |
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Est tamen in fatis, quod abominor, adfore tempus
Quo novus in terris, quadam partus novitate,
Nescio quis nascetur homo...
Dennoch hat, scheint es mir, im Grunde die allegorische Personifikation für Alanus tiefere Bedeutung als für Walter. Zwischen den ‘Literatenschöpfungen’ und den Äusserungen der grossen Visionärin möchte nun Liebeschütz, trotz der Verwandschaft des Stoffes, die Grenzlinie scharf ziehenGa naar voetnoot1. Und zweifellos ist die Einstellung zu den geschauten Bildern im einen und im anderen Fall ganz verschieden gewesen. Vergessen wir aber nicht, dass die Vision, abgesehen von ihrem religiösen Gehalt, auch literarische Form istGa naar voetnoot2. Der Abstand zwischen dem Ideengehalt der Visionen Hildegards und der poetischen Bildformen des Alanus kann leicht zu gross gesehen werden. Auch im Fall des Alanus sind ‘rationale Theorien und Mythologeme... zu einer Einheit verflochten’, ‘die einzelnen Formen allegorischer Darstellung... eng mit theologischem Gehalt verschmolzen’Ga naar voetnoot3. Es lohnt die Mühe, die Vorstellungsart der Tugenden bei Hildegard genau ins Auge zu fassen. Im dritten Buch ihres Scivias nimmt die Vision der Tugenden, wie sie im himmlischen ‘Gebäude’ umherstehen, einen breiten Platz ein. Ausserdem hat Hildegard die Personifikation der Tugenden in einem Singspiel verarbeitet, das man mit dem Titel Ordo virtutum am Schluss ihrer Lieder im Wiesbadener Hildegardiskodex findetGa naar voetnoot4. Den Scivias wird man ein theologisches, den Ordo virtutum vielmehr ein literarisches Werk nennen. Dennoch besteht kein gründsätzlicher Unterschied in der Behandlung der Figuren im letzteren und im ersteren. Die Personen des Singspieles sprechen genau dieselbe tiefernste, feierlich gehobene Sprache wie diejenigen der grossen Vision. Die Allegorie als solche hat in dem einen Falle keinen höheren Wert als in dem anderen. Es is leicht zu beweisen, dass Hildegard nicht beansprucht, die Bilder der Tugenden in ihrer Sciviasvision als metaphysische Entitäten gelten zu lassen. Ebenso deutlich ist es, dass ihre Phantasie im allegorischen Darstellungsverfahren bisweilen entgleist. | |
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Auch Hildegard bleibt sich bewusst, dass man die Tugenden nicht als weibliche Lebewesen zu betrachten hat. Die göttliche Stimme, die ihr alles erklärt, mahnt sie daran: non quod ulla virtus sit vivens forma in seipsa, sed solummodo praelucida sphaera a Deo fulgens in opem hominibusGa naar voetnoot1. Sie sieht zuerst, im eisenfarbenen Turm an der Nordostseite der leuchtenden Mauer, fünf Tugenden als Standbilder, imagines, unter Bogen stehend; fast alle tragen seidene Gewänder und weisse SchuheGa naar voetnoot2. Ihre Beziehung zur betreffenden Tugend wird durch Worte für Bezeichnen, Bedeuten ausgedrückt: haec prima imago designat coelestem amorem... secunda autem praetendit disciplinam..., tertia vero declarat verecundiam,... quarta autem significat misericordiam... quinta vero imago praefigurat victoriamGa naar voetnoot3. Obwohl diese Figuren als Statuen gedacht sind, sprechen sie, ja sie bewegen sich sogar wie lebende Wesen. Die Heilige sieht, wie Discretio, eine der sechs imagines zwischen der Nord- und der Westecke der Mauer, ihr Gewand und ihre Schuhe auszieht und heftig ausklopft, sodass der Staub wegstiebtGa naar voetnoot4. Im weiteren Verlauf hat die Visionärin die Vorstellung von Standbildern ganz fallen gelassen. In der achten Vision sieht sie an der ‘umschatteten Säule’ der Südseite eine Treppe, ubi omnes virtutes Dei descendentes et ascendentes oneratas lapidibus ad opus suum ire (videbam), intentum studium idem opus perficiendi habentesGa naar voetnoot5. Man soll im allgemeinen einer Visionärin kein Zeugenverhör über die Folgerichtigkeit ihrer Gesichte abnehmen; wo es sich aber darum handelt zu bestimmen, welcher Ideengehalt dem Ausdrucksmittel, dessen sie sich bedient, zukommt, ist es unvermeidlich. Das Ergebnis dieser Prüfung lautet: auch in der als mystisches Erlebnis dargebotenen Vision fehlt im Grunde dem Geschauten der Anspruch auf absolute Echtheit. Auch hier bleibt die Allegorie ein Spiel; ein Element künstlerischer Verzierung ist anerkanntermassen in der literarischen Form selbst impliziert. Die dichterische Phantasie greift in die philosophisch-theologische Anschauung hinein; das poetische Bild treibt Wurzeln ins Feld des Glaubens. Die dogmatischen Formulierungen selbst hatten sich auch einmal aus einem Urboden religiösen Denkens lösen müssen, wo das Ästhetische und das Intellektuelle noch ungeschieden waren, wo in den Mythologemen die Philosophien erwuchsen. In diese Sphäre der | |
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ästhetischen Verbildlichung von Ahnungen, die er logisch nicht ausdrücken kann, vermag sich der Dichter des zwölften Jahrhunderts noch zurückzuziehen. Bald wird die entfaltete Scholastik diese Gefilde für den abendländisch-christlichen Geist verschliessen. Die Dichtung des Alanus schwebt in einer Zone des halben Glaubens, zwischen Überzeugung und Phantasie, zwischen Spiel und Ernst. In seinem ganzen Wesen, als Theologe wie als Dichter, bleibt Alanus prägotisch. Unter anderm ist es seine erstaunliche Inkonsequenz, die ihm diesen Stempel gibt. In seiner Theologie wirft man ihm Synkretismus und Eklektizismus, eine uneinheitliche Psychologie, Vermischung von mystischen und rationalen Gedankengängen vor. Er hat es ja selbst zugestanden, als er sich einen Blinden nannte, der andere Blinde führen wolle. Aber auch in seiner Dichtung fanden wir ihn, selbst abgesehen von der völligen Incongruenz seiner Vorstellung mit dem Rahmen des Lehrgebäudes, inkonsequent und unschlüssig. Die strengere Form des dreizehnten Jahrhunderts, mit seiner Forderung nach fester Einordnung alles Gedanklichen in Kategorie und System, mit seinem Bedürfnis nach Regelmass, Harmonie und Stil, wird diesen Geist vertreiben. Präscholastisch ist Alanus auch in der Naïvität seiner Weltbejahung. Das soll nicht heissen, dass die früheren Jahrhunderte in schroffer Weltverneinung weniger weit gegangen wären, als es die Zeit nach 1200 tun sollte. Im Gegenteil. Aber die naïve Inkonsequenz weicht später strafferer Formulierung. Die Scholastik räumt den irdischen Dingen eine bescheidene und wohlabgewogene Wertung im Rahmen der christlichen Weltanschauung ein. Das Ideal des Anticlaudianus war, nicht weniger als im De planctu Naturae, naïv hedonistisch gefärbt. Wie im letzteren Gedicht Genius den Bannfluch schleudert, werden die Frevler nur mit irdischen Strafen bedroht: der sexuelle Übeltäter soll entmannt werden, die Fresser sollen Bettler, die Geizigen arm, die Hoffärtigen niedrig werden; die Schmeichler werden betrogen, die Neider Feinde ihrer SelbstGa naar voetnoot1. Aus der bunten Beschreibung der Gaben und Herrlichkeiten der Natur spricht eine hohe Einschätzung des irdischen Glückes; dort wo die Früchte der Ratio und der Sensualitas einander gegenübergestellt werden, klingt ein fast renaissancistisches Motiv an: die Vernunft, heisst es, hominem in deum potentialiter transfigurat, eum... disputare facit | |
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cum angelis,... in exilio docet hominem invenire patriamGa naar voetnoot1. Der vollkommene Mensch des Anticlaudianus ist schön wie Narcissus und Adonis, die Jugend schenkt ihm die munera laetitiae, das Lachen gesellt sich dazu. Er pflegt und benimmt sich wie ein GentlemanGa naar voetnoot2. Das Gedicht klang in der Verherrlichung des goldenen Zeitalters aus.
Es war das Geschick des Alanus, dass seine reiche Gestaltung einer frohen und zugleich frommen Naturempfindung in ihrer nachhaltigsten und intensivsten Wirkung auf die späteren Zeiten ihres christlichen Sinnes gänzlich entkleidet und zu einer Lehre des Libertinismus pervertiert werden sollte. Sein unmittelbarer Nachfolger, Johannes von Auville, dessen noch im Jahre 1184 entstandener Architrenius fast alle wesentlichen Figuren den beiden Dichtungen des Alanus entnimmtGa naar voetnoot3, hat zwar die christliche Tendenz schon bedeutend beschränkt, dafür aber noch nicht eine ausgesprochen antikirchliche an die Stelle gesetzt. Das taten auch die vielen nicht, die ihr Bild der schaffenden und ordnenden Natur dem Alanus mittelbar oder unmittelbar entlehntenGa naar voetnoot4. Der Roman de la Rose aber sollte für mehr als zwei Jahrhunderte Gestaltungen und Ideen des Alanus, in etwas veränderter Fassung, in weiteste Kreise hinaustragen. In der Hauptsache hat nur der Liber de planctu Naturae das Werk beeinflusst; die gelegentlichen Entlehnungen aus dem Anticlaudianus fallen daneben kaum ins Gewicht. Ob schon der erste Dichter des Rosenromans, Guillaume de Lorris, den Dichtungen des Alanus bewusst folgte, bleibe dahingestellt. Er kennt die Natur als Stellvertreterin GottesGa naar voetnoot5. Unter den schlechten Figuren, welche auf der Mauer des ‘Verger de Déduit’ gemalt stehen, finden sich ‘Vieillece’ und ‘Povreté’Ga naar voetnoot6. Man erinnere sich, dass Senectus und Paupertas in dem Kampf der Tugenden und Laster des Anticlaudianus eine bedeutende Rolle spielten. | |
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Jean Chopinel, dem zweiten Dichter, blieb es vorbehalten, nicht bloss an manchen Stellen Alanus regelrecht zu übersetzen, sondern die ganze Anlage des De planctu Naturae in den Rosenroman aufzunehmen. Die Feinde des Liebhabers lassen ‘Povreté’ aus der Hölle hervorkommen; sie bringt ihren Sohn ‘Larrecin’, den Diebstahl mitGa naar voetnoot1. Dem Anticlaudianus entlehnt Jean de Meung weiter noch die Beschreibung des Hauses der FortunaGa naar voetnoot2. Aus De Planctu übersetzt er das Gedicht über die Liebe und den Passus über die Glaubwürdigkeit der alten PoetenGa naar voetnoot3. Wichtiger aber ist seine Behandlung des Themas selbst: das Wesen der ‘Nature’ als Stellvertreterin Gottes; Venus, von Nature beauftragt, die Fortpflanzung der Erdenwesen zu unterhalten; die Klage der Nature, dass von allen Wesen nur der Mensch ihren Geboten widerstrebe; endlich die Rolle des Genius, als des Priesters der Natur, der die Exkommunikation über ihre Verächter vollziehtGa naar voetnoot4. All dies ist aus der Klage des Alanus regelrecht übernommen. Nur die Adresse des Bannfluches ist verändert, und damit der Einsatz des Kampfes, sein Zweck und Ausgang verschoben. Denn während Alanus die rechte Venus doch nur im Namen der Ehe und ihrer Heiligkeit verteidigte und dem Hymenaeus die höchste Stelle unter Natura und Genius gab, trifft der Fluch des Jean de Meung an erster Stelle die Keuschen und die Wahrer der EhrbarkeitGa naar voetnoot5. Hymenaeus wird nur einmal genannt: im falschen Eide, den der Verführer schwörtGa naar voetnoot6! Und die Fackel, welche Venus in das feindliche Schloss schleudert, erlischt nicht. |
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