Verzamelde werken. Deel 4. Cultuurgeschiedenis 2
(1949)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekendVII. Der Kampf der Tugenden und LasterDie unlösbare Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen in der Dichtung des Alanus betrifft noch ein anderes, ebenso wichtiges Gebiet, wie das bisher behandelte. Beide Gedichte haben als Schlussthema den Kampf der Tugenden und Laster; im älteren De planctu Naturae kommt es nur bis zur Kriegserklärung; im Anticlaudianus wird der Kampf und der Sieg ausführlich beschrieben. Von der Phantasmagorie dieses Kampfes können wir gleich sagen, dass der Dichter sie zum guten Teil seinen Vorbildern Claudianus und Prudentius entnahm. Es lohnt aber die Mühe, genauer festzustellen, wie Alanus sich diesen reichen allegorischen Apparat gedacht hat, und welchen Platz | |
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dieser in seinem Gedankensystem überhaupt einnimmt. Betrachten wir zuerst die Reihe der Tugenden. In De Planctu ist das Motiv der Psychomachie nicht ausgearbeitet. Es treten vier Tugenden auf, von Natura als ‘Freundinnen’ - amicae begrüsstGa naar voetnoot1, sie heissen Castitas, Temperantia, Largitas, Humilitas; nur eine davon, die Temperantia, gehört in das offizielle System der sieben Haupttugenden. Im Eingang des Anticlaudianus ruft die Natur die Schar ihrer ‘Schwestern’ aus dem Himmel herab:
Protinus ergo suas vocat in sua vota sorores
Und weiter:
Concilium coeleste vocat; peregrinat ab alto
Militiae coelestis honor...Ga naar voetnoot2
Diese Vorstellung vom Verhältnis der Natur zu den Tugenden stimmt zu derjenigen im De Planctu, wo es in der Exkommunikation der Frevler gegen die Natur heisst: Auctoritate superessentialis usiae ejusque notionis aeternae, assensu coelestis militiae, Naturae etiam caeterarumque virtutum ministerio suffragante...Ga naar voetnoot3, womit also die Natur selbst als Tugend aufgefasst wäre. In diesem concilium virtutum erscheinen folgende Figuren: Concordia, Copia, Favor, Juventus, Risus, Pudor, Modestia, Ratio, Honestas, Decus, Prudentia, Pietas, Fides, LargitasGa naar voetnoot4, Nobilitas. Es fällt gleich auf, dass in dieser ziemlich bunten Reihe nur eine der theologalen Tugenden, Fides, und eine der kardinalen, Prudentia, vorkommt. Ausser Fortitudo und Justitia fehlt diesmal auch Temperantia, die im De Planctu Naturae auftrat. Auch mit anderen Tugendreihen, die neben dem bekannten Schema von sieben vorkommen, zeigt die Aufzählung des Alanus kaum BerührungGa naar voetnoot5. Neben Prudentia, die als Botin erwählt werden soll, nimmt Ratio den wichtigsten Rang ein. Die übrigen Figuren sind vorwiegend gesellschaftlicher Art. Diese Schar aber konnte Alanus ebensowenig der theologischen Spekulation wie seinen Vorbildern Claudianus, Martianus, | |
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Prudentius oder Boethius entnehmen. Wie er sie auch zusammengestellt haben mag, es besteht kein Zweifel, in welche Sphäre sie hingehören: es sind die Tugenden der höfischen Weltanschauung, der cortezia. Unter den Tugenden, welche später, dem vollkommenen Menschen ihre Gaben schenken, fehlen weder Copia und Favor, noch Juventus mit den munera laetitiae noch RisusGa naar voetnoot1. In De planctu Naturae wird die Welt eine edle Civitas genannt: in hac ergo republica Deus est imperans, angelus operans, homo obtemperans... Von dieser Stadt ist wieder der Mensch selber ein Abbild: in der Burg des Hauptes sitzt die Weisheit als Herrscherin, im Herzen als Wirkerin die magnanimitas, im Unterleib die Gelüste, welche zu gehorchen habenGa naar voetnoot2. Diese magnanimitas, der ‘hohe Mut’, als Fürst im Herzen, sieht doch auch sehr höfisch aus. Wenn auch nirgends die Superiorität der geistlichen Segnungen aus den Augen verloren wird, so zeigt Alanus doch in seiner ganzen Haltung einen entschieden weltbejahenden, sogar weltlichen Zug. Gerade bei den zwei wesentlich höfischen Eigenschaften, der Largitas und der Nobilitas, hat er sich in treffenden Gestaltungen seines Themas ergangen, sowohl im Anticlaudianus, wie im früheren De planctu Naturae. Hier heisst es beim Auftreten der Largitas, man erkenne sie an folgenden Eigenschaften: eius formae specialis insignitas, habitus specificati curialitas, gestus individualitasGa naar voetnoot3. Auch wenn man mit Wright der Lesung civilitas statt curialitas den Vorzug gibt, enthalten diese Worte doch sozusagen das höfische Ideal ‘in a nutshell’, wobei besonders individualitas doch ganz überraschend wirkt. Wichtig für die höfischen Beziehungen der Gedanken des Alanus ist auch folgende Stelle. Als die Natur nochmals die Übeltaten derjenigen aufzählt, die gegen sie der laesa majestas schuldig sind, tadelt sie besonders einen, qui prae aliis incurialius decuriatam Naturae dedecorare curabat naturamGa naar voetnoot4. Dieser Frevler wird näher beschrieben: cui quamvis gratia Nobilitatis blandiretur Fortuna, suo munere immo suis muneribus amicaretur Prudentia, eumque Magnanimitas erigeret, Largitas erudiret, tamen quia universa massa modici fermenti asperitate laborabat, unius virtutis occidens caeterarum virtutum orientem funditus nubilabat, uniusque probitatis eclipsis caeterarum probitatum sidera mori recessu cogebat ecliptico. | |
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In dieser Beschreibung, welche sich offenbar wiederum auf den höfischen Menschen bezieht, erkennt Largitas ihren Zögling. Sie lässt das Haupt sinken, und weint. Natura aber tröstet sie, und sagt, nur die Prodigalitas sei schuld, welche lügnerisch ihre Züge annehme. Dabei preist sie Largitas als die jenige per quam aetatis aureae antiquata saecula reviviscunt. Im Anticlaudianus tritt Largitas, wenn die Tugenden dem vollkommenen Menschen ihre Gaben schenken, einfach als Gegensatz zur Habsucht auf, ohne dass speziell höfische Gedanken anklängenGa naar voetnoot1. Diesmal aber entspinnt sich ein Konflikt, veranlasst durch die ihr folgende Tugend, Nobilitas. Schon beim Auftreten der Tugendschar war von ihr gesagt worden, dass sie die letzte sei.
Ultima Nobilitas, et formae laude secunda
A longe sequitur harum vestigia, quamvis
Nescio quid praesigne gerat, tamen hujus ad unguem
Non poterat reliquis facies aequare decorem:
Munere Fortunae melior, sed parcius ipsa
Gratia Naturae dotes effundit in illam.Ga naar voetnoot2
Als nun Nobilitas an die Reihe kommt, ihre Gaben zu spenden, heisst es:
Post alias sua dona libens et laeta dedisset
Filia Fortunae, Casus cognata propinqui
Nobilitas, si quid proprium cessisset in ejus
Sortem, quod posset Naturae lege tueri.
Sed quia nulla potest nisi quae Fortuna ministrat,
Nil sine consilio Fortunae perficit, imo
Matris adire domum disponit filia...Ga naar voetnoot3
Das Haus der Fortuna und sie selbst werden beschrieben, letztere in lauter Gegensätzen, wie Alanus es liebt. Nobilitas trägt ihre Bitte vor, und Fortuna antwortet, ganz bescheiden, ein so herrliches Geschöpf Gottes und der Natur brauche ihre Gaben nicht. Dennoch wolle sie, um nicht des Neides verdächtig zu sein, diese schenken, oder besser zeitweilig leihen, denn sie gebe nie unwiderruflichGa naar voetnoot4. Zusammen begeben die beiden sich zum Palast der Natur. Dann spendet Nobilitas nach Anweisung der Fortuna ihre Gaben, während Ratio darauf achtet, dass letztere nichts Schädliches gebe, das die | |
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Gaben der anderen Tugenden verderben könnte. Neben diesen aber drohen die Geschenke der Nobilitas zu verblassen: fünf Synonyme drücken eigentlich alle das eine aus: adlige Geburt:
Nobilitas augusta, genus praesigne, parentes
Ingenui, libertas libera, nobilis ortus.Ga naar voetnoot1
Der Konflikt der Fortuna aber steht noch bevor, wenn das Heer der bösen Mächte aufzieht. Darüber etwas später. Die Anklänge an höfische Ideen sind, wie es uns scheint, in all diesen Stellen kaum zu verkennen. Der Magister-Poet nimmt in seiner Behandlung von Juventus, Favor und Nobilitas, vor allem aber in seiner hohen Lobpreisung der Largitas, wie von weitem Stellung zu den Lehren der höfischen Gesellschaft, halb anerkennend, halb ermahnend. Das verwiese nach Süd-Frankreich, und wir wissen ja, dass eine längere Tätigkeit des Alanus in Montpellier ziemlich sicher steht. Gerade aber auf Montpellier bezieht sich ausdrücklich eine Anekdote, welche im hier erörterten Zusammenhang ein wichtiges Zeugnis darstellt. Sie wird in Bezug auf Alanus sogar zweimal vom Dominikaner Stephan von Bourbon erzähltGa naar voetnoot2. Eines Tages, als Meister Alanus in Montpellier las, traten einige Ritter der Umgegend, die von seinem Ruhme gehört hatten, in seinen Hörsaal ein, und fragten ihn über allerlei Dinge. Er aber sagte, er wolle erst eine Frage von ihnen beantwortet haben, nämlich was die grösste ‘hövescheit’ (maxima curialitas) in der Welt sei. Sie baten eine Nacht Bedenkzeit, und antworteten ihm dann, Freigebigkeit (dare liberaliter) sei es. Er stimmte zu, und schloss: Also ist die grösste ‘dörperheit’ (rusticitas) in der Welt, anderen ihr Eigentum mit Gewalt zu nehmen, und weil ihr das tut und von eurem Raube lebt, seid ihr die unedelsten und ‘dörperlichsten’ aller MenschenGa naar voetnoot3. Im dreizehnten Jahrhundert war es demnach doch wohl bekannt, Alanus der Grosse habe auch über Sachen der höfischen Sitte Bescheid gewusst. | |
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Wir finden also in den Dichtungen des Alanus die christliche Tugendlehre gewissermassen von den ethischen Begriffen der cortezia gestreift. Wiederum lassen sich keine scharfen Grenzen ziehen, die den ernsten Theologen von dem ebenfalls ernsten Dichter unterschieden. Mit dieser Berührung zwischen Kirchenlehre und höfischer Kultur ist aber noch nicht alles gesagt. Das wird klar, wenn man sich von der Gestaltung der Tugenden zu derjenigen der Laster wendet. Die Vorstellung der bösen Mächte bringt weitere Überraschungen und Verlegenheiten. Wir werden zuerst die Darstellung der Laster in seinen beiden Dichtungen kurz beschreiben, dann sie mit sonst üblichen Kategorien dieser Art vergleichen, unter Hinweis auf seine speziellen Vorbilder, und schliesslich zu bestimmen versuchen, welche Bedeutung diese Figuren im Geiste des Alanus gehabt haben können. In De planctu Naturae, dessen Thema sich wie schon gesagt von der anfänglichen Klage gegen die Sodomie bald zu einer Bekämpfung der Laster im Allgemeinen erweitert, bittet Alanus die Natur, ihm die verschiedenen Vitia zu spezifizierenGa naar voetnoot1. Darauf zählt diese ihm neben der schon behandelten impura Venus folgende auf: gulositasGa naar voetnoot2, avaritia, superbiaGa naar voetnoot3, invidia, denen die adulatio, die Schmeichelei, anscheinend mehr als Begleiterin wie als Glied der Kette angereiht wird, obwohl sie auch in der Exkommunikation wieder neben den anderen figuriert. Diese Reihe enthält fünf von den sieben allgemein anerkannten Hauptsünden; es fehlen ira und acedia. Der Dichter schliesst sich also, wenn auch etwas willkürlich, der üblichen Systematisierung an. Ganz anders sieht das böse Heer im Anticlaudianus aus. Gleich nachdem Nobilitas und Fortuna dem vollkommenen Menschen ihre Gaben gespendet haben, beginnt der entscheidende Akt der Handlung. Es tritt plötzlich Alecto auf. Sie wird die Gefahr, welche ihrer Macht von Seiten des neuen Menschen droht, inne, und ruft ihre Scharen zum Kriegsrat zusammen. Mit ihren Schwestern teilt sie die Macht über die Unterwelt, tartareas sedes, ...ubi regnat Erinnys,
Imperat Alecto, leges dictante Megaera.
Alanus kennt also die klassischen Figuren der Furien. Er nennt sie auch Eumeniden. Erinnys hält er offenbar für einen Eigennamen. | |
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Weiterhin erwähnt er auch noch einige Male Tisiphone. Im Vorbeigehen wird neben diesen Herrscherinnen der Unterwelt auch noch Pluto genannt.
Nuntia fama volat, et veris falsa maritans,
In superos Furias, in coelum regna silentum
Conspirasse refert manes, Erebique tyrannum
Tartareum reserasse chaos, fratrique negare
Regna, nec ulterius pacem concedere mundo.Ga naar voetnoot1
Der Dichter steht hier nicht bloss völlig auf klassischem Boden, sein antikes Muster reisst ihn soweit fort, dass er sich nicht scheut, den Herrn des Himmels nach der Olympischen Genealogie Bruder des Höllenfürsten zu nennen. Obwohl nun für die Verbindung der Furien mit bestimmten Lastern ein Anhaltspunkt in der kirchlichen Literatur gegeben warGa naar voetnoot2, hat Alanus nicht bloss diese Verwendung unterlassen, sondern, sobald der Kampf zwischen Tugenden und Lastern beginnt, den klassischen Apparat der Furien wieder fallen gelassen. Alecto und ihre Schwestern werden, nachdem erstere kraft ihrer Exekutivgewalt die höllische Schar aufgerufen und zum Krieg angetrieben hat, nicht wieder erwähnt; im Kampfe selbst spielen sie keine Rolle. In den folgenden Versen wird diese Schar beschrieben.
Ergo suas pestes pestis praedicta repente
Convocat: ad cujus nutus glomerantur in unum
Tartarei proceres, rectores noctis, alumni
Nequitiae, fabri scelerum, culpaeque magistri,
Damna, doli, fraudes, perjuria, furta, rapinae,
Impetus, ira, furor, odium, discordia, pugnae,
Morbus, tristities, lascivia, luxusGa naar voetnoot3, egestas,
Luxuries, fastus, livor, formido, senectus.
Is scelerum turbo, vitiorum turba, malorum
Conventus...Ga naar voetnoot4
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Das ist also auf den ersten Blick hin etwas ganz anderes als das System der sieben Hauptsünden. Dennoch wird diese Schar unter anderem doch wiederholt vitia genannt. Wenn man tristities der acedia, und fastus der superbia gleichsetzen dürfte, wären freilich fünf von den sieben darunter. Die Gegner heissen ausdrüchlich virtutes. Bevor es zum Kampfe kommt, sind noch mehrere Figuren hinzugekommen. Discordia hat als Spiessgesellen, ausser den schon aufgezählten livor, impetus und ira, noch rabies, furor, lis, terror, damnum, defectus, mors, pallor. Man ist hier allem Anscheine nach ganz und gar in der Sphäre einer gedankenlosen klassizistischen Allegorie ohne tiefere Bedeutung. Es folgen fernerhin: pauperies, poena, labor, sitis, esuries, jejunia, curae, also die Übel des Krieges oder der Zwietracht, sodann despectus, pudor, murmur, convicia, fama, cachinni. Ziemlich unerwartet folgt
Morbida, moesta, tremens, fragilis, longaeva senectus,
Innitens baculo...
- ihre Begleiter heissen debilitas, morbi, languores, taedia, lapsus, luctus, tristities, pressura, dolor, lamenta, ruinae. Auf eine Anzahl von weniger bestimmten Figuren folgt hoch zu Ross excessusGa naar voetnoot1. Mit ähnlicher Begleitung treten weiter noch stultitia, impietas, avaritia auf, letzterer folgen usura, rapina, ignobilitas, dedecus, dejectio, verber, angustia und casus. Je mehr Figuren aufgezählt werden, desto weiter scheint der Sinn dieser Allegorie sich von jeder christlichen Grundlage zu entfernen und sich ins Vage und bloss Rhetorische zu verflüchtigen. Die Nebenfiguren bekommen nicht einmal ihre richtige Personifikation. Nur eine seichte dichterische Phantasie, welche ihre klassischen Muster, die selbst schon stark rhetorisch waren, gedankenlos übernimmt und weiterführt, hat hier das Wort. Die Berührung mit dem christlichen Glaubensinhalt des Dichters scheint fast ganz zu fehlen. Wie nun aber der Kampf selber beginnt, die Psychomachie, welche der gerechte Jüngling, zu Ross kämpfend, gegen das Heer des Bösen führt, ist Alanus doch durch dieses überlieferte religiöse Thema gezwungen, in den Gegenüberstellungen der beiden kämpfenden Mächte, vitia und virtutes, wie sie ja ausdrücklich heissen, gewissermassen | |
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Farbe zu bekennen. Sehen wir, wie das neunte und letzte Buch des Anticlaudianus den Kampf beschreibtGa naar voetnoot1. Discordia, welche den Angriff leitet, wird vom Jüngling erschlagen, während die Tugenden, die ihm beistehen, deren Gesellen niedermachen; Vera fides besiegt Odium, Concordia, Pax, Constantia und Spes töten Lis, Ira, Rabies und Timor, was allerdings für jene hohen Figuren, darunter zwei der theologalen Tugenden, die hier ganz beiläufig auftretenGa naar voetnoot2, den Eindruck einer etwas subalternen Tätigkeit erweckt. Es folgt ein ganzer AbschnittGa naar voetnoot3 über den Kampf der schon früher erwähnten Pauperies, auch Paupertas und Egestas genannt. Mit ihrer Keule schlägt sie auf den Jüngling los; dieser wehrt sich mit dem Schwert. Sie ruft ihre Satelliten zu Hilfe: Labor, Esuries, Sitis, Jejunia, Curae. Der Held aber zertritt Pauperies unter den Hufen seines Rosses.
Cogitur ergo mori iamdudum mortua mundo
Pauperies...
Der Tod der Paupertas macht ihre Trabanten arm; diese werden nicht erschlagen, sondern fliehen, kommen um, gehen zu Grunde, jeder durch seinen Gegensatz: Poena durch Quies, Jejunia durch Saties, Cura durch Pax, Esuries durch Copia, Sitis durch Ubertas. Es muss aufs höchste befremden, in diesem Gedicht des angesehenen Theologen, dessen Ton doch im ganzen ein frommer ist, die Armut in dieser Gestalt und Stellung zu finden. Erinnern wir uns dabei, dass es vielleicht gerade im Geburtsjahr des Franziskus geschrieben wurdeGa naar voetnoot4. Infamia folgtGa naar voetnoot5, mit Contagia, Murmur, Convicia, Dedecus, Pudor (hier als Schande zu verstehen), Contemptus. Der Jüngling bläst ins Horn und sie weichen. Die Sieger über die Helfer der Infamia, respective Virtus (hier wohl als Mut gemeint), Gloria, Laudes, Favor, Fama, Honor sehen abermals nicht ganz geistlich aus. Dann wagt Senectus den AngriffGa naar voetnoot6. In ihrem Zorn bedarf sie des Stabes nicht mehr und versucht, Jüngling und Pferd ringend, quadam luctae specie, zu bezwingen. Der Held lässt ihr aus Mitleid und Ver- | |
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achtung das Leben und vermahnt sie, worauf sie flieht. Fletus, ihre Tochter, wird von Risus erschlagenGa naar voetnoot1. Gaudia, Gloria, Prosperitas und locus bezwingen Tristities, Pressura, Planctus und LamentaGa naar voetnoot2. Jetzt aber tritt plötzlich Venus selbst auf. Von ihrer Befugnis als Helferin der Natur, wie wir sie in De Planctu fanden, ist hier nicht mehr die Rede; sie steht ganz und gar auf der Seite des BösenGa naar voetnoot3 und vertritt lediglich die Sünde der LuxuriaGa naar voetnoot4. Venus also schleudert ihre Fackel (das Bild, welches Chopinel aufnehmen und umwenden sollte) ins feindliche Heer. Diesmal fürchtet sich der Held und entflieht dem feurigen Wurfe. Die Fackel fällt ins Leere und erlischt; der Jüngling aber schiesst einen Partherpfeil und tötet Venus. Es folgt eine Anzahl von Streitern, deren Figuren ungenügend umrissen sind: Excessus, der als ihr Anführer erscheint, wird von Moderantia besiegt, Fastus von Ratio, Poena von Tolerantia, Luxus von Sobrietas, auch Gula und Crapula fliehen. Es wird nicht klar, ob mit Carnis stimulus eine selbständige Figur, oder wieder Excessus gemeint ist. Imprudentia, Segnities, Ludus, Damnum, Otia, Stultitia und Nugae finden ihre Gegenkämpfer in Prudentia, Solertia, Seria, Utilitas, Studium, Sensus und SilentiaGa naar voetnoot5. Mit einigem sinnvollen Detail wird der Kampf von Impietas und Pietas, Fraus und Fides ausgeführt. Zuletzt bleibt nur Avaritia übrig, und wird von Largitas (wieder umschrieben wegen des Metrums) besiegtGa naar voetnoot6. Jetzt aber folgt noch der Ausgang des Konfliktes der Fortuna. Von allen Spiessgesellen der Avaritia steht einzig Casus noch im Felde. Sie ist, wie oben schon erwähnt, neben Nobilitas die zweite und geliebtere Tochter der FortunaGa naar voetnoot7. Schon vor dem Anfang des Kampfes bereut Fortuna ihre vorige Handlung zu Gunsten der Nobilitas und der Tugend im allgemeinen, und möchte sie ungeschehen machenGa naar voetnoot8. Als sie aber sieht, dass zuletzt ihre Tochter als einzige Überlebende des Kampfes dasteht, kehrt Fortuna, ihrer Art getreu, wieder um, und beredet Casus, ja keinen inneren Krieg zu verursachen, ihre leibliche Schwester nicht zu bekämpfen und die Mutter nicht in den Konflikt hineinzuziehen. Zufall giebt nach, und verlässt den Feind. | |
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...ignorans cui justius arma movere
Possit: sic neutri cedens famulatur utrique.Ga naar voetnoot1
Wenn auch in der Behandlung der Laster nicht wie bei den Tugenden spezifische Beziehungen zur höfischen Kultur vorliegen, der Ton und Inhalt des Ganzen sind doch auch hier entschieden weltlich zu nennen. Nach der im Ganzen poetisch wenig treffenden Beschreibung des Kampfes windet sich das lange Gedicht schnell zu seinem Ende.
Jam scelerum superata cohors in regna silentum
Arma refert, et se victam miratur, et illud
Quod patitur, vix esse putat, nec creditur illi
Quod videt, et Stygias fugit indignata sub umbras.
Pugna cadit, cedit iuveni victoria, surgit
Virtus, succumbit Vitium, Natura triumphat.
Regnat Amor, nusquam Discordia, Foedus ubique.
Nam regnum mundi legum moderatur habenis
Ille beatus homo, quem non lascivia frangit,
Non superat fastus, facinus non inquinat, urget
Luxuriae stimulus, fraudis non inficit error.
In terris iam castra locant, et regna merentur
Virtutes, mundumque regunt, nec iam magis illis
Astra placent, sedesque poli quam terreus orbis.Ga naar voetnoot2
Das goldene Zeitalter kehrt wieder, die Rose blüht ohne Dornen,
Sic flores alii rident, varioque colore
Depingit terram florum primaeva juventus.
Es ist ohne Weiteres klar, dass die beiden kämpfenden Heere im Anticlaudianus, obwohl sie mit dem allgemein gültigen christlichen System der Tugenden und Sünden manche Berührungen haben, doch in dieses nicht hineinpassen. Ebenso klar ist es, dass der Dichter zu seinen stark abweichenden phantastischen Kategorien des Guten und des Bösen kam, indem er seinen poetischen Vorbildern Claudianus und Prudentius folgte. Gleich im Eingang des In RufinumGa naar voetnoot3 von Claudianus ruft Allecto, die Furie, ihre Schwestern auf, die innumerae pestes Erebi, die Töchter der Nacht. Es werden genannt Discordia, | |
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Fames, Senectus, Morbus, Livor, Luctus, Timor, Audacia, Luxus, Egestas, Avaritia, Curae. Sie weist auf die Feinde hin, welche jetzt auf Erden herrschen: Concordia, Virtus, Fides, Pietas. Zum Teil geht diese Schar von Geistern der Unterwelt schon auf Aeneis VI. 274 sq. zurück, wo luctus, curae, morbi, senectus, metus, fames, egestas, letum, labor, sopor, mala gaudia, bellum, discordia genannt werden. Bei Claudianus, dessen religiöse Stellung ja Gegenstand einer Kontroverse ist, kann man zweifeln, ob seine Figuren schon ganz in christlichem Sinne zu deuten sind. Jedenfalls heissen sie bei ihm nicht ausdrücklich VitiaGa naar voetnoot1, obwohl sie den Tugenden gegenübergestellt werden, wie Megaera der lustitia in I. 354. Bei Prudentius dagegen werden die Bezeichnungen Vitia und Furiae, Erinnyes, Eumenides einfach durcheinander gebraucht. Er ist ausgesprochener christlich als Claudianus, und sein Gegenstand, die Psychomachie, zwingt ihn zu einer gewissen Systematisierung seiner Figuren. Seine Tugendreihe heisstGa naar voetnoot2: Fides, Pudicitia, Patientia, Humilitas (mens humilis vs. 199), Spes, OpulentiaGa naar voetnoot3, lustitia, Honestas, Sobrietas, Ieiunia, Pudor, Simplicitas. Die Gegner der ersten vier heissen entsprechend: Cultura veterum deorum, Sodomita libido, Ira, Superbia, von den weiteren hat nur Sobrietas einen direkten Gegensatz in Luxuria, mit ihren Gesellen Iocus, Petulantia und PompaGa naar voetnoot4. Andererseits tritt ohne direkten Widersacher Avaritia auf, mit ihren Gesellen
Cura, fames, metus, anxietas, periuria, pallor,
Corruptela, dolus, commenta, insompnia, sordes
- zu denen später noch labor, vis, scelus, fraus hinzugefügt werdenGa naar voetnoot5. Zu den Tugenden kommen noch Ratio, Operatio, Pax, Concordia und bekämpfen Discordia, auch Heresis genanntGa naar voetnoot6. Im Ganzen steht das System des Prudentius den späteren offiziellen Kategorien der Kirchenlehre näher als die noch halb klassischen Figuren bei Claudianus. Alanus aber schliesst sich in dieser Hinsicht ebenso nahe an Clau- | |
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dianus wie an Prudentius an. Die Ausarbeitung des Themas ist bei ihm reicher als bei seinen beiden Vorbildern und entfernt sich, wie wir gesehen haben, weit von jedem theologischen System. Hier ist gleich zu bemerken, dass in seinen theologischen Traktaten von der phantastischen Ausmalung des Kampfes im Anticlaudianus nichts zu finden istGa naar voetnoot1. In der Summa de arte praedicatoria geht er von der üblichen Unterscheidung der Laster aus: gula, luxuria, avaritia, acedia, invidia, ira, superbiaGa naar voetnoot2. Die Tugendreihe ist schwankend: erst behandelt er der Reihe nach patientia, obedientia, perseverantia, misericordia, iustitia, dilectio Dei, dilectio proximi, pax, prudentia, fortitudo, temperantia, eine Verbindung also der Kardinaltugenden mit der anderen, neben dieser herlaufenden Reihe, während die theologalen Tugenden als solche hier fehlenGa naar voetnoot3. Weiterhin werden den sieben Lastern sieben Tugenden gegenübergestellt: humilitas, caritas, patientiae longanimitas, mentis hilaritas, largitas, sobrietas, castitasGa naar voetnoot4. Auch in den Theologicae regulae folgt Alanus der üblichen EinteilungGa naar voetnoot5. Der hier im Anhang gedruckte kleine Traktat De virtutibus et vitiisGa naar voetnoot6 endlich ist ebenfalls ganz auf dem anerkannten kirchenlichen System aufgebaut. Im Anticlaudianus kämpfte, wie wir sahen, Paupertas im Heere der vitia. Die Einstellung des Theologen Alanus gegen die Armut ist diese: er preist die paupertas spiritualis, welche mit humilitas und caritas die Stufen bildet, auf welchen der Mensch in den Himmel steigtGa naar voetnoot7. Fortitudo ist die Tugend, welche der geistlichen Armut das Haus öffnet, heisst es in der Summa de arte praedicatoriaGa naar voetnoot8. Gleich darauf aber folgt: Tria sunt fortuitorum incommodorum genera: paupertas, morbus, tyranni violentia. Contra paupertatem valet fortitudo ut non frangatur animus... Hier steht also die Armut tatsächlich auf der Seite des Übels. Zur irdischen Armut verhält sich Alanus höchstens indifferent. Wenn man | |
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den Armen predigt, solle man die Armut preisen. Fasten aus Not habe keinen WertGa naar voetnoot1. Zur Tugend der Temperantia gehört es, dass man in seiner Armut nicht unrein, in seiner Einfachkeit nicht verwahrlost seiGa naar voetnoot2. In dem medio tutissimus ibis, das diesem ganzen Passus und überhaupt dem Traktat über die Kunst des Predigens zu Grunde liegt, klingt doch bestimmt etwas von der Geisteshaltung durch, welche sich im Anticlaudianus unbekümmert durchsetzt. Im allgemeinen aber scheinen sich bei unserem Autor Theologie und dichterische Phantasie in der Lehre von den Tugenden und Lastern wie zwei getrennte Systeme gegenüberzustehen. Dennoch wäre es verfehlt, die Psychomachie im Anticlaudianus mit der Bezeichnung ‘dichterische Fiktion’ für erledigt zu halten. Dazu ist, wie wir zur Genüge gesehen haben, das Gedicht allzu innig mit den religiösen Grundanschauungen des Dichters verwoben. |
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