Verzamelde werken. Deel 4. Cultuurgeschiedenis 2
(1949)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekendIII. De planctu Naturae und AnticlaudianusAls Dichter zweier berühmten Werke, von denen das eine ganz in Versmass gehalten, das andere mit Versen vermischt ist, schliesst Alanus de Insulis die stattliche Reihe der lateinischen Poeten des zwölften Jahrhunderts ab, in der ihm Baldrich von Bourgueil, Hildebert von Lavardin, Marbod von Rennes, Johann von Salisbury, Walter von Chatillon, und, nach seiner Bedeutung nicht der letzte, der Archipoeta, vorangegangen sind. Sie alle sind ja Abschliesser und kaum Erneuerer zu nennen. Ihre klassizistische Form mag sie äusserlich den späteren Humanisten verwandt erscheinen lassen; ihr wesentlich praegotisches Wesen springt ins Auge, sobald man ihrer Dichtungsart die geschlossene Form des dreizehnten Jahrhunderts, - zum Beispiel das Dies irae oder die Hymnen des Thomas von Aquino -, gegenüberhält. Unter jenen Dichtern des zwölften Jahrhunderts steht Alanus nicht an erster Stelle. Mit Hildebert oder Walter hält er, in Bezug auf die poetische Qualität, den Vergleich nicht aus. Doch hat er durch seine Dichtungen länger und tiefer auf die Nachwelt gewirkt als jene. Nicht in dem Sinn, dass seine Form weiter gepflegt worden wäre, sondern weil sein Stoff und seine Darstellung in zwei der allerwichtigsten Dichtungen des späteren Mittelalters Aufnahme und Weiterbildung fanden: im Roman de la Rose und in der Divina Commedia. Der hohe Ruhm des Anticlaudianus muss sich schon bei Lebzeiten des Alanus durchgesetzt haben. Bald nach seinem Tode, im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, wird das Gedicht von bedeutenden Theologen der Zeit kommentiert. Die Glosse von Wilhelm von Auxerre muss schon um 1210 entstanden sein, die von Radulfus von Longchamp um 1216. Letzterer nennt sich Schüler des Alanus, aus Montpellier; er gibt eigentlich viel mehr als bloss einen Kommentar zum Gedicht, nämlich eine komplete Wissenschaftslehre. Offenbar dient ihm der Anticlaudianus eigentlich als Lockmittel für den Leser. Auch von Robert von Sorbon ist eine Glosse zum Gedicht bekanntGa naar voetnoot1. | |
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Weiter gibt es noch zwei Übersetzungen in französische VerseGa naar voetnoot1, und schliesslich der merkwürdige Ludus super Anticlaudianum von dem Kanoniker Adam de la Bassée aus LilleGa naar voetnoot2. Vor 1285 geschrieben, stellt das Spiel zugleich eine Zusammenfassung und eine Erweiterung des originalen Gedichtes dar, vor allem aber eine Modernisierung im Geschmack des dreizehnten Jahrhunderts. Statt der klassizistischen Form in Hexametern erscheint der Stoff hier in der vierzeiligen durchgereimten Vagantenstrophe, abwechselnd mit geistlichen Liedern. Der musikalische Wert des Werkes ist durchaus nicht an letzter Stelle zu betonen. Vieles darin ist übrigens nicht dem Anticlaudianus, sondern dem De Planctu entlehnt. Die beiden Dichtungen des Alanus bildeten überhaupt sozusagen ein literarisches Doppelgestirn. Ein szenisches Spiel zur Aufführung ist der Ludus nicht; die Strophen werden nicht von handelnden Personen gesprochen. Der Meinung des Herausgebers, dass das Werk in der erneuerten Form gewonnen habe, möchte ich kaum zustimmenGa naar voetnoot3. Zur Zeit als der Kanoniker von Lille seine sonderbare Bearbeitung des Anticlaudianus verfasste, hatte der Roman de la Rose schon wichtige Bestandteile aus der Dichtung des Alanus aufgenommen und weitergebildet. Denn schon der Teil des Guillaume de Lorris scheint einige Bekanntschaft mit den Figuren des Alanus zu verraten. Bedeutender aber ist die Art, wie Jean de Meung den Phantasiegehalt der beiden Dichtungen ausgebeutet, und pervertiert hatGa naar voetnoot4. Hier hat Alanus, zweifellos nicht im Sinne seines frommen Zwecks, die weiteste und nachhaltigste Wirkung seines dichterischen Talentes gefunden. Dieser literarische Zusammenhang war schon dem Mittelalter bekannt. Gerson sagt in seinem Traictié contre le Roumant de la RoseGa naar voetnoot5: ‘Vray est que ceste fiction poetique fut corrumpuement estraite du grant Alain, en son livre qu'il fait De la Plainte Nature, car aussi trés grant partie de tout ce que fait nostre fol amoureux n'est presque fors translacion des diz d'autrui... Je reviens a Alain et di que par personnage quelconque il ne parla onques en telle maniere. A tart l'eust fait. Tant seulement il mauldit et repreuve les vices contre Nature, et a bon droit...’. | |
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Weniger augenfällig als der Einfluss des Alanus auf den Roman de la Rose ist derjenige auf die Divina Commedia. Dennoch ist auch dieser von Eugène Bossard wohl überzeugend nachgewiesen wordenGa naar voetnoot1. Es handelt sich hier hauptsächlich um das Motiv der Begleitung auf der Himmelsreise, bei der in den höheren Regionen die Theologia die Rolle der Ratio übernimmt, so wie Beatrice Vergil ablöst.
Der Liber de planctu NaturaeGa naar voetnoot2 besteht zum weitaus grössten Teil aus Prosa: nur etwa ein Fünftel sind Verse. Diese aus Prosa und Poesie gemischte Form war dem Autor sowohl aus dem Trost der Philosophie des Boethius wie auch aus seinem unmittelbaren Vorbild De mundi universitate von Bernhard Silvestris geläufig. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass Alanus zu dieser Form kam, indem er früher von ihm verfasste Gedichte einem neuen Zweck dienstbar machte und seinem Prosatraktat einfügte. Dafür sprechen folgende Gründe. Die Gedichte zeigen selbständigen Charakter, und scheinen bisweilen etwas lose in den Zusammenhang eingefügtGa naar voetnoot3. Ihre Tendenz wirkt öfters um einige Grade weltlicher als diejenige des Traktates selbst. Dies gilt vor allem für die poetische Beschreibung der Liebe, in 35 Distichen, welche die Natur als Antwort auf die sechste Frage des Alanus gibtGa naar voetnoot4:
Pax odio, fraudique fides, spes juncta timori
Est amor et mistus cum ratione furor...
Die Natur hat selbst dieses Gedicht hinterher zu entschuldigen; sie nennt es eine theatralis oratio joculatoriis evagata lasciviis, welche der puerilitas des Alanus als Speise dargeboten werde; nun aber solle eine reifere Rede zum Gegenstand der Unterhaltung zurückkehren, u.s.w.. Endlich wird durch diese Annahme eine Diskrepanz erklärlich, welche man meistens wenig beachtet hat. De planctu Naturae wird fast immer als eine Schrift gegen die Sodomie bezeichnet. Tatsächlich hebt das Werk mit einer metrischen Klage über dieses Laster an, wie sie in der lateinischen Literatur des zwölften Jahrhunderts nicht | |
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selten istGa naar voetnoot1. Diese Verteidigungen der natürlichen Liebe sind in der Regel jeder religiösen oder christlich-moralischen Inspiration bar. Das gilt auch vom Anfangsgedicht des De planctu Naturae. Gleich nachher aber erweitert sich das Thema zu einer Allegorie über Sünden und Tugenden im allgemeinen, wenn auch die Frage der erlaubten und unerlaubten Liebe im Vordergrunde bleibt. Der Übergang von den geradezu obszönen Anfangsstrophen zur Erscheinung der Natura ist ebenso matt wie unbeholfen und plötzlich. Die Annahme, ein älteres Gedicht sei hier, obwohl es eigentlich nicht ganz passte, doch als brauchbarer Ausgangspunkt benützt worden, könnte hier manches begreiflicher machenGa naar voetnoot2. Die Prosabeschreibung der Natur, ihres Diadems, ihres Kleides, auf dem die ganze Tierwelt abgebildet ist, ihres Wagens und Gespanns, ist in einem Stil verfasst, auf dessen ausserordentliche Buntheit und schimmernde Pracht wir später zurückkommen werden. In einer langen Unterhaltung mit dem Dichter über Gott und Welt, beklagt sich Natur, dass von allen Geschöpfen nur der Mensch ihren Geboten widerstrebe. Nach einer Beschreibung sämtlicher Hauptsünden erscheint Hymenaeus mit vier Tugenden. Er wird von Natura mit einem Brief zu Genius geschickt. Dieser kommt, und vollzieht die Exkommunikation, nicht bloss der Verächter der Venus legitima, sondern aller Sünder überhaupt. Es wird unnötig sein, jedesmal darauf hinzuweisen, wie Jean de Meung diese Motive verwendet, und ihre Tendenz umgebogen hat. Dass De planctu Naturae bedeutend älter sein muss als der Anticlaudianus geht nicht bloss hervor aus der oben erwähnten Tatsache, dass Walter von Chatillon dem ersteren Werk einiges entlehnte, während der Anticlaudianus die Bekanntschaft mit der Alexandreis voraussetzt, sondern auch aus dem ganzen Verhältnis der beiden Werke des Alanus untereinander. Das grosse Gedicht Anticlaudianus mutet an wie eine Wiederaufnahme des früheren Themas in erweiterter Gestalt. De planctu Naturae war doch eigentlich ein Torso geblieben. Der Bannspruch des Genius bildete kaum einen befriedigenden Schluss. Der spezielle Ausgangspunkt der Klage über das eine widernatürliche | |
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Laster war im Laufe des Gedichts schon halb aufgegeben worden. Ausserdem gab ihm die nicht ganz tadellose Harmonie des Prosatextes mit den eingestreuten Versen etwas unbefriedigendes. Zum negativen De Planctu wollte der Dichter jetzt das positive, und episch vollkommen durchdachte Gegenstück geben. Wieder sollte es sich handeln um Natura unter den Tugenden und Lastern. Die Natur hat, wegen der überhandnehmenden Sittenverderbnis beschlossen, einen vollkommenen Menschen hervorzubringen, der diesem Unheil in der Welt Einhalt gebieten soll. Sie beruft die Tugenden in ihren Palast, um sich mit ihnen zu beraten. Weil aber die Natur nur den körperlichen Menschen darstellen kann, nicht aber die Seele, wird Prudentia in den Himmel geschickt, um von Gott eine passende Seele zu erbitten. Die sieben freien Künste bauen einen Wagen für Prudentia, dessen Rosse die fünf Sinne sind. Ratio wird Wagenlenker. Oberhalb der Sphäre der Planeten angelangt, können die Pferde nicht weiter. Theologia erscheint und bietet sich als Führerin an; Ratio und der Wagen werden zurückgelassen, ausser dem zweiten Pferd Gehör, das Prudentia jetzt besteigt. Folgt die weitere Himmelsreise und Himmelsschau. Die Bitte wird von Gott gewährt, Prudentia kehrt mit der reinen Seele zurück. Dann wird der vollkommene Mensch geformt. Die Tugenden schenken ihm ihre Gaben. Als nun aber dieser Mensch, mit alle Herrlichkeiten ausgerüstet, sich anschickt, die verdorbene Welt wieder gut zu machen, fürchtet sich die Hölle. Alecto ruft die Mächte des Bösen auf, und beschliesst den Krieg. Der gerechte Mensch mit den Tugenden siegt. Ein goldenes Zeitalter bricht an. Anticlaudianus heisst bekanntlich das Gedicht als Gegenstück zu Claudians In Rufinum libri II. Die Beziehung ist eigentlich eine ziemlich lose. In Claudians Gedicht ruft Alecto die Geister des Verderbens auf, um den Frieden zu vernichten. Megaera aber bringt, statt einen allgemeinen Krieg zu wagen, einfach den Ausbund alles Lasters, Rufinus (den Feind Stilicho's) an den kaiserlichen Hof, und hat dann das Spiel gewonnen. In diesem satirischen Moment und diesem Parteistandpunkt lag die ganze Begründung der Allegorie Claudians. Ganz anders das Gedicht des Alanus. Der Gegensatz, welcher den Titel Anticlaudianus rechtfertigt, besteht nur in der Gegenüberstellung eines vollkommen guten Menschen zum vollkommen schlechten. Sonst haben beide Werke nur die Figur der Alecto und ihr Heer von Lastern gemein. Anticlaudianus ist eigentlich Alanus selber, nicht der Wider- | |
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sacher, nur der Nachfolger in entgegengesetztem Sinne Claudians; der vollständige Titel des Werkes scheint Anticlaudianus de Antirufino gewesen zu seinGa naar voetnoot1. Stofflich zeigt Alanus mehr Entlehnungen oder Nachahmungen nach Martianus Capella, Boethius, Prudentius und seinem unmittelbaren Vorgänger Bernardus Silvestris, als nach Claudian. Das Thema der Himmelsreise war allgemein geläufig. Von direkt entlehnten poetischen Stellen überwiegen die aus Vergil bei weitem; Bossard zählt deren 37 auf, gegen nur 12 aus ClaudianGa naar voetnoot2. Die Verwendung heidnisch-klassischer Formeln, wie cives superi oder proceres Tonantis für die Engel, numen Olympi für HeiligkeitGa naar voetnoot3, hat bei einem Autor des zwölften Jahrhunderts bekanntlich nichts Auffallendes. Fand er doch Tonans für Gott in seinen Mustern Boethius und Martianus Capella. Besonders naïv ist diese Verquickung von heidnischer Mythologie mit christlichen Vorstellungen in L. VI cap. 7, wo Gott zu Prudentia sagt: wenn ich die Frevel der Menschheit nach Verdienst ahnden wollte, würde ich eine neue Sintflut schicken können, in der das ganze menschliche Geschlecht unterginge -
nec viveret alter
Deucalion, alterque Noe conduceret arcamGa naar voetnoot4.
Obwohl die Prosodie des Alanus begreiflicherweise nicht makellos ist, und er sich im Gebrauch bestimmter Wendungen gerne einige Kunstgriffe erlaubt, die eine strenge klassische Verslehre verpönt hätteGa naar voetnoot5, | |
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liest sich seine Poesie im allgemeinen angenehm und leicht, der Satzbau ist durchgehend klar, die Betonung des Wichtigen im Ausdruck des Gedankens auffallend richtig. Sogar die eben erwähnten nugae poeticae, wie die Anhäufung von Wörtern gleicher Funktion im Satze, die Anaphora, die Wiederholung des SubjektesGa naar voetnoot1, haben bisweilen einen gewissen ornamentalen Wert, wodurch sie im stark malerischen, allegorischen Gebilde nicht als Fehler wirken. |
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