Verzamelde werken. Deel 4. Cultuurgeschiedenis 2
(1949)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekendII. Alanus als ScholastikerÜber die theologische und philosophische Bedeutung des Alanus gehen die Meinungen auseinander. Das ist begreiflich, weil seine geistige Figur schwer zu erfassen ist. Sie ermangelt der Einheitlichkeit. Alanus ist eklektisch und synkretistisch; man wirft ihm Widersprüche zwischen mystischer Einkleidung und rationaler Tendenz seiner Gedanken vor, sowie Inkonsequenz seiner Psychologie. Baumgartner urteilt ziemlich streng über ihn. Er spricht ihm die Kraft des produktiven Schaffens eines Gilbert, Abaelard, Hugo von St. Viktor, die Gabe des spekulativen Denkens eines Bernhard von Chartres, Wilhelm von Conches ab. ‘Er nimmt von allen Richtungen und huldigt keiner ausschliesslich.’ Seine Philosophie trete uns nicht als ein geschlossenes, konsequent durchgeführtes System entgegen, sie sei vielmehr eine Art Überschau, die Zusammenfassung eines Materiales von Jahrhunderten, ein seltsam gemischtes Gemenge, kurz ein Mosaikbild. ‘Alanus erscheint als ein durch und durch receptiver ...Geist, der mehr die Gedanken anderer auf sich wirken lässt, als eine selbständige Lösung anstrebt.’ In der dichterischen Verarbeitung, wie auch der geschickten dialektischen Verwertung eines vorge- | |
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fundenen Stoffes sieht Baumgartner das Hauptverdienst des AlanusGa naar voetnoot1. Wesentlich günstiger beurteilt ihn Grabmann, der ihn einen vielseitig gebildeten Autor nennt, ‘der die Erfahrungen der praktischen Theologie mit einem achtenswerten Mass spekulativer Denkkraft in sich eint, der in der nüchternen Ausdrucksweise streng wissenschaftlicher Gedankengänge sich ebenso wie in phantasievoller Darstellungsform heimisch fühlt’. Namentlich den Regulae de sacra theologia erkennt Grabmann eine nicht geringe Bedeutung zu, inhaltlich wie methodisch. Er findet darin ‘jenes Ringen und Streben nach einer geschlossenen Theologie’, das für die Zeitwende um 1200 charakteristisch istGa naar voetnoot2. Die Stellung des Alanus zu platonischen und aristotelischen Einflüssen wird später zur Sprache kommen. Etwas Originelles und Überraschendes in seinem Ausdruck ist ihm jedenfalls eigen. So sagt er zum Beispiel, in der Schrift De fide catholica contra haereticos, von der ‘auctoritas’, sie habe eine wächserne Nase, die in verschiedenem Sinn gedreht werden könne, weshalb es nötig sei, eine Wahrheit nicht bloss mit ‘auctoritates’ sondern auch mit ‘rationes’ zu begründenGa naar voetnoot3. Alanus bleibt bis auf weiteres der erste, bei dem der berühmte Satz: Deus est sphaera intelligibilis cuius centrum ubique circumferentia nusquam in seinem vollen Wortlaut zu finden istGa naar voetnoot4. Gerade in jüngster Zeit ist die Weise, wie dieser Ausspruch im späteren Mittelalter und im Zeitalter der Renaissance weitergegeben worden ist, bis ihn Pascal der Neuzeit übermitteln sollte, Gegenstand mehrfacher Erörterung gewesenGa naar voetnoot5. Man findet das Wort im dreizehnten Jahrhundert zuerst im Liber XXIV philosophorumGa naar voetnoot6, zusammen mit jenem anderen, das bei Alanus an derselben Stelle vorkommt: Deus est monas, monadem gignens, in se suum reflectens ardoremGa naar voetnoot7. Darauf kommt es vor bei Alexander Halensis, Bartholomaeus Anglicus, Vincenz von Beauvais, Bonaventura | |
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und Thomas von Aquino, während Jean de Meung es im Ros enroman wiederzugeben versucht. Im vierzehnten Jahrhundert haben es Meister Eckhart und Seuse, im fünfzehnten Gerson, Nikolaus von Cusa und Marsilius Ficinus. Im sechzehnten wird es aufgenommen von Symphorien Champier, Marguerite de Navarre und Rabelais, schliesslich gelangt es durch Mlle de Gournay zu Pascal. Als ursprüngliche Autorität gilt für die Scholastiker entweder Hermes Trismegistus oder Empedokles; tatsächlich ist im griechischen und lateinischen Altertum wohl die Vergleichung der Gottheit mit einer Kugel, nicht aber die Ausführung des Gedankens bezeugt. Es wäre also immerhin möglich, dass diese von Alanus stammte, der sich für diese Regel nicht ausdrücklich auf einen Meister beruftGa naar voetnoot1. Wahrscheinlicher aber ist es, dass er den Ausspruch irgendeiner neupythagoräisch gefärbten Quelle entlieh. Jedenfalls ist es Alanus gewesen, aus dem die späteren Autoren ihn gekannt haben; auf Alanus berufen sich sowohl Thomas wie Albertus MagnusGa naar voetnoot2. Trotz der nachhaltigen Wirkung, welche die Schriften des Alanus zweifellos auf die Späteren ausgeübt haben, hat Baumgartner darin gewiss recht, dass wir ihn im Ganzen als Abschliesser einer Epoche zu betrachten haben. Die ganze Figur, jedenfalls des Dichters, aber auch des Theologen und Philosophen, hat in ihrer schimmernden, unfesten Gestalt etwas prae-scholastischesGa naar voetnoot3. Es ist Geist des unruhig und leidenschaftlich suchenden zwölften Jahrhunderts, der aus den Schriften des Alanus spricht. In den oben schon zitierten Worten, mit | |
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denen er sich selbst zeichnete: ille quem constat nunquam scisse vel isse viam, ist für das Verständnis seiner Person Wichtiges enthalten. |
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