Verzamelde werken. Deel 2. Nederland
(1948)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekend
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Die Mittlerstellung der Niederlande zwischen West- und MitteleuropaGa naar voetnoot*Von den Themen, die mir die Deutsche Hochschule für Politik für meine Gastvorlesung vorgeschlagen hat, sagte mir sogleich das eine zu: Die Mittlerstellung der Niederlande zwischen West- und Mitteleuropa. Ich möchte freilich dieses Problem mehr historisch-kulturell als im strengen Sinne politisch-praktisch behandeln, denn es ist ein Gegenstand, der zu gleicher Zeit unmittelbar aktuell und tief in der Geschichte begründet ist, eine Frage, deren Wichtigkeit jedem von vornherein klar sein wird, außerdem ein Stoff, der mir aus meinen Studien vertraut ist und mir am Herzen liegt. Sobald ich jedoch daran ging, mir zu überlegen, wie denn diese Frage anzufassen sei, sind mir schwere Bedenken gekommen. Anscheinend enthält der Titel: ‘Die Mittlerstellung der Niederlande zwischen West- und Mitteleuropa’, für jedermann sofort verständlich, bloß feststehende und wohlumschriebene Begriffe, von denen man wie von gegebenen Größen ausgehen kann. Bei näherem Nachdenken ergibt sich aber, daß von den vier Termini keiner ganz feststeht. Nicht bloß West- und Mitteleuropa sind schwankende Begriffe, sondern - jedenfalls historisch betrachtet - auch die Niederlande und am meisten von allen die Mittlerstellung, so daß im ganzen Titel eigentlich nur das Wort ‘zwischen’ unzweideutig ist. Da heißt es also vor allem, den Sinn, in welchem wir unser Thema verstehen wollen, etwas näher zu bestimmen. Selbst in dem Fall, daß dieser Versuch der Begriffsbestimmung an einigen Punkten etwas negativ ausfiele, würde auch in diesem Ergebnis dennoch eine Antwort auf die Frage enthalten sein. Also zuerst die Frage: In welchem Sinn und mit welcher Begrenzung verstehen wir hier die Begriffe West- und Mitteleuropa? Der Ausgangspunkt ist rein geographisch. Nur als Meridianfrage betrachtet ist die Sache ziemlich einfach. Im Handatlas kann man unseren Weltteil | |
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in hübschen Farben säuberlich in West-, Mittel- und Osteuropa geschieden finden. Aber dieser Gesichtspunkt genügt eigentlich nur für den Eisenbahnfahrplan, und sogar da stellen sich Schwierigkeiten ein. Es versteht sich, daß wir in diesen Trennungen einen volleren Sinn suchen als bloß den einer Gruppierung nach der geographischen Länge. Die politische Geographie muß hier die Antwort geben. West- oder Mitteleuropa soll für uns eine entweder in politischer oder in wirtschaftlicher oder in historisch-kultureller Hinsicht zusammenhängende Einheit darstellen. Die politische Geographie ist aber ein überaus gefährliches Fach. Sie wirkt in der Wahl ihrer Argumente oft äußerst selektiv, ihre Begriffe sind lose und weit, die Gefahr des Hineindeutens ist naheliegend, und nur zu oft spielen in der Aufstellung ihrer Kategorien außerwissenschaftliche Wünsche, Stimmungen oder Interessen mit hinein. Merkwürdig ist folgende Tatsache: In Bezug auf einen Unterschied zwischen Nord- und Südeuropa hat uns die Natur selbst eindeutige Grenzen vorgezeichnet. Südeuropa, das sind ohne weiteres die drei großen Halbinseln des Mittelmeeres. Nordeuropa, das sind die drei skandinavischen Länder mit Finnland und Nordrußland. Zwischen diesem Norden und Süden liegt auch ein Mitteleuropa. Es leuchtet aber ein, daß es sich nicht nur in unserem Zusammenhang nicht um dieses Mitteleuropa handeln kann, sondern daß der Begriff überhaupt nur im west-östlichen Sinne in Betracht kommt. Geben wir uns jetzt erst davon Rechenschaft, was wir unter Westeuropa zu verstehen pflegen: unzweifelhaft eine, wenn auch noch so lose Gemeinschaft der Kultur, der Wirtschaft und des Verkehrs. Selbstverständlich gehört dazu England, ganz entschieden auch Frankreich. Aber weiter: Spanien, Dänemark, Norwegen? - Ja, wenn man will. Es wird aber sofort klar sein, daß für Spanien das Moment Süden und für Dänemark und Norwegen das Moment Norden so stark überwiegt, daß es den Gedanken der Einbeziehung in eine Kategorie ‘Westeuropa’ eigentlich kaum aufkommen läßt. Es bleiben also übrig: Belgien und die Niederlande. Hier läßt sich gleich die Bemerkung vorwegnehmen, daß sich die Niederländer - von den Belgiern nicht zu reden - im allgemeinen ohne irgendeinen Zweifel ganz entschieden als Westeuropäer fühlen. Ich bin überzeugt, daß eine Enquête (ich werde sie nicht stellen), in welcher an tausend gebildete Niederländer unvermittelt die Frage gestellt würde: ‘Fühlen Sie sich als West- oder Mitteleuropäer?’ nur eine verschwindend kleine | |
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Anzahl Entscheidungen für Mitteleuropa hervorrufen würde. Und das mit Recht. Denn die Faktoren, die ein solches Urteil bestimmen, weisen alle nach Westen. Unsere ganze Volks- und Staatsgeschichte ist, mit wenig Ausnahmen, westeuropäische Geschichte. Unsere westlichen Beziehungen haben unsere Selbständigkeit als Volk und als Staat bedingt. Frankreich und England, sei es als Freunde, sei es als Feinde, haben uns groß gezogen. Unser nationaler Blick ist zum Meer und weit über das Meer hin gerichtet. Der Schwerpunkt unseres nationalen Bestehens liegt kaum im Lande selbst, sondern in einem virtuellen Punkt des Meeres. Nur als westlich orientiertes Gebiet haben die Niederlande ihre Bedeutung und ihre eigene Funktion. Lassen wir nun einen Augenblick die Stellung der Niederlande beiseite und fragen wir: Wenn eine Idee Westeuropa als Kulturgemeinschaft überhaupt einen Sinn hat, worin prägt sich dann der westeuropäische Charakter aus, was bedeutet, kulturell genommen, westeuropäisch? - Die Antwort kann selbstverständlich nur eine sehr flüchtige sein, eigentlich handelt es sich hier ja auch mehr um allgemein bekannte Anschauungen als um scharf zu beleuchtende Tatsachen. Die Züge, welche hier in Betracht kommen, wären etwa Parlamentarismus oder jedenfalls politische Freiheit von mindestens hundert Jahren Geltung, überseeische Verbindungen von mindestens dreihundert Jahren, starke und schon alte Durchsetzung der Kultur mit kapitalistischen Formen, hohe und schon frühe Entwicklung eines freien und gebildeten Bürgertums. Sobald man mehr zu bestimmen versucht, tritt schon der Gegensatz zwischen französischer und englischer Kultur störend hinein und droht die Idee einer wirklichen westeuropäischen Einheit zu sprengen. Wie man diese auch bestimmen will, Westeuropa bleibt ein vager und schwankender Begriff, dessen Bedeutung immer wieder nur auf das rein Geographische hinauszulaufen scheint. Steht es besser um den Begriff Mitteleuropa? - Ich glaube, bedeutend schlechter. Dies mag auf den ersten Blick befremden, weil ja Mitteleuropa als geographische Bezeichnung älteren Ursprungs ist und viel häufiger gebraucht wird als Westeuropa, das sich als Artikel im Konversationslexikon nicht einmal finden läßt. Das Wort ‘Mitteleuropa’ ist im Deutschen seit mehr als hundert Jahren gebräuchlich. Als Grund für den Begriff ‘Mitteleuropa’ gelten in der Geographie Bestimmungen, welche recht betrachtet nicht viel anderes besagen, als daß Mitteleuropa eben in der Mitte liegt, z.B. daß es den Übergang | |
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formt zwischen dem ozeanischen West- und dem kontinentalen Osteuropa. Die Begrenzung des Gebietes ist aber von Anfang an schwankend. Der Erfolg des Wortes liegt außerhalb der wissenschaftlichen Geographie. Schon Friedrich List hat es in seinen großzügigen Wirtschaftsbestrebungen zum politischen Schlagwort gemacht. So gebraucht es auch die Zeit von 1848: als solches erklingt es wieder in den Jahren des Weltkrieges, vor allem durch Friedrich Naumanns vielgenanntes Buch. Das war 1915. Heute steht der Gebrauch und die Bedeutung des Wortes ‘Mitteleuropa’ oder ‘Europe Centrale’ durchaus im Banne der wirtschaftspolitischen Ansicht und des nationalen Präferenzurteils. Auf französischer und tschechoslowakischer Seite wird gerade in den letzten Jahren mit besonderem Eifer eine Auffassung des Begriffes ‘Europe Centrale’ vertreten, die mehr oder weniger auf eine Propaganda für die Donauföderation hinausläuft. Dieses ‘Europe Centrale’ sollte außer Österreich und der Tschechoslowakei Ungarn, Südslawien und Rumänien, vielleicht sogar Polen und Italien umschließen. Dagegen wird begreiflicherweise von deutschen Publizisten die ältere Vorstellung eines Mitteleuropa aufrechterhalten, welches, wie es sich auch sonst zusammensetzen mag, jedenfalls Deutschland und Österreich umfaßt. Ich möchte weder den Anschluß noch die Zollunion erörtern, auch nicht wirtschaftspolitische Gegenwartsfragen anschneiden, sondern mich möglichst auf das Historisch-Kulturelle beschränken. In den ‘Europäischen Gesprächen’ hat neulich Harald E. Roos die Frage ‘Mitteleuropa’ aufs neue behandeltGa naar voetnoot1. Man muß ihm unbedingt folgendes zugeben: Wie man auch immer den Begriff Mitteleuropa fassen mag, eine Einbeziehung des transleithanischen und transsavischen Südostens hat keinen Sinn. Ein Südosteuropa zeichnet sich so deutlich als kultureller Gegensatz gegen Nordwesten hin ab, daß in dieser Hinsicht der Begriff ‘Mitteleuropa’ seine volle Berechtigung und seinen klaren Sinn hat. In Bezug auf seine Westgrenze jedoch erhält dieser Begriff seinen Anspruch auf Geltung meistens erst von einer bestimmten wirtschaftspolitischen Ansicht her, ohne daß von vornherein feststeht, ob sich hier angenommene Wirtschaftsinteressen und tatsächliches Kulturempfinden decken. ‘Der Begriff “Mitteleuropa”’, sagt Harald Roos in dem eben erwähnten Artikel, ‘darf nicht zu eng begrenzt verstanden werden; außer Deutschland, Österreich, der Schweiz, der Tschechoslowakei müßten auch Holland und Belgien, ja auch die nordeuro- | |
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päischen Ostseeländer einbezogen sein.’ Ich halte es für überaus möglich - beurteilen kann ich es nicht -, daß ein solcher Wirtschaftsblock Zukunft haben könnte. Es fragt sich aber: Warum denn in diesem Falle eine Bezeichnung ‘Mitteleuropa’ beibehalten, wenn von neun einbegriffenen Ländern zwei entschieden westlich und drie nördlich und nordwestlich orientiert sind? Ich will damit nicht über Wirtschaftsfragen diskutieren, sondern nur andeuten, wie schwach der Begriff ‘Mitteleuropa’ auch in der politischen und kulturellen Lage der Gegenwart fixiert ist. Vorläufig - wäre man fast versucht zu sagen - hat er seine greifbarste Existenz im Schlaf- und Speisewagen, mit ihrer beredten Aufschrift ‘Mitropa’, dieser gelungenen Neubildung, und, wie schon gesagt, im Fahrplan, der uns angibt, wo und wann wir unsere Uhren neu zu stellen haben. Das ist aber gar nicht ohne Bedeutung: es erinnert uns daran, daß heutzutage der Verkehr den Ton angibt. Schon die Formulierung des Themas erlaubt mir, die Niederlande weder als West- noch als Mitteleuropa aufzufassen. Auch der Fahrplan gibt mir dazu ein Recht: Wir haben ja unsere eigene Amsterdamer Zeit. Allerdings muß ich hinzufügen, daß die holländischen Astronomen gerade vor ein oder zwei Monaten ein Gesuch eingereicht haben, man möchte doch auf dieses Eigenbrödlertum verzichten und zur westeuropäischen Zeit zurückkehren, nach der wir uns früher schon einmal gerichtet haben. Objektivere Beurteilung der Lage als die der Astronomen kann man doch wohl nicht wünschen! So kommen wir zum dritten Wort unseres Titels, das näherer Bestimmung bedarf. Was sollen wir unter der Bezeichnung ‘Niederlande’ verstehen? Zunächst meint man damit das Königreich, das in Deutschland gewöhnlich - wie übrigens auch von uns selber - Holland genannt wird. Sofern ich aber versuchen werde, seine Mittlerstellung auch historisch zu begreifen, muß ich die Niederlande in ihrem weiteren historischen Sinn auffassen, nämlich einschließlich Belgiens. Jedoch auch dort, wo ich mich für die neuere Zeit auf die heutigen Niederlande beschränken werde, ist die Definition dieses Staatswesens nicht so eindeutig, wie man vielleicht meinen könnte. Holland, so kann es heißen, ist ein kleines Land an der Nordsee, mit etwa acht Millionen Einwohnern. Das Königreich der Niederlande - kann ich aber auch sagen - ist ein kleiner europäischer Staat und zu gleicher Zeit einer der zirkumpazifischen Staaten, mit über 60 Millionen Einwohnern. Auch mit dieser letzteren Beschaffenheit | |
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hängt die Art seiner Mittlerstellung zusammen. Japan, die Vereinigten Staaten, Australien, Britisch- und Französisch-Hinterindien, schließlich auch Venezuela, sind unsere Nachbarn, ebenso gut wie Deutschland und Belgien. Das muß man immer wieder bedenken, wenn man von unserer Situation in der heutigen Welt spricht. Und dieser Gedanke führt uns gleich zur vierten Frage hinüber: Was für einen Inhalt kann in der heutigen Welt das Wort ‘Mittlerstellung’ haben, und trifft es zu, daß die Niederlande eine solche Stellung einnehmen und diese Funktion erfüllen könnten? Da möchte man bei der heutigen Weltlage bitterlich seufzen: ‘Ach, wären wir wirklich zu einer Mittlerrolle, wenn auch noch so bescheidener Art, nicht nur berufen, sondern auch tatsächlich fähig!’ Es scheint doch, daß die Wirklichkeit nicht viel Raum dazu läßt. Verwickelte Fragen der internationalen Finanz, Häkeleien mit den nächsten Nachbarn über Einfuhr und Ausfuhr, Neigung der Großmächte, die wichtigen Sachen untereinander abzutun, das sind so die Züge der internationalen Politik, welche wir täglich zu sehen bekommen. Gibt es da überhaupt noch die Möglichkeit einer richtigen Mittlerschaft irgendeines Staates oder Volkes? Man möchte von vornherein daran verzweifeln. Vielleicht bietet die Geschichte einen Trost, wenn man sie fragt, ob es nicht früher Völker oder Staaten gegeben hat, die in Europa eine Mittlerrolle mit Erfolg gespielt haben, sei es vorwiegend kulturell, wirtschaftlich oder politisch. Es müßten dann jedenfalls Staaten gewesen sein, die nicht zu den großen, aus sich selbst Kultur spendenden oder Macht entfaltenden nationalen Gebilden zu zählen gewesen wären. Frankreich im 12. oder im 17. Jahrhundert, Italien während der Renaissance zeigen nicht das Bild einer eigentlichen Vermittlung zwischen den Nationen. Von der Schweiz könnte es höchstens sehr vorübergehend gegen 1500 gelten, von Dänemark ließe sich einige Vermittlung zwischen Deutschland und Schweden behaupten. Andere Völker kommen, soviel ich sehe, nicht in Betracht. So kehrt bei dieser flüchtigen Umschau der Blick alsbald wieder zu den Niederlanden zurück. Wir nehmen jetzt vorläufig diesen Namen in seiner weitesten, geschichtlichen Fassung, also einschließlich Belgiens. Die Funktion der Vermittlung materieller und geistiger Kultur, welche diese Länder tatsächlich erfüllt haben, ist mit der ganzen Geschichte ihres Aufkommens als gesonderte Volks- und Staatswezen verschlungen. Wir wollen diesen wichtigen Prozeß, den ich mehrmals | |
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von der einen oder der anderen Seite zu beleuchten versucht habe, ganz kurz ins Auge fassen. Über die älteren Zeiten will ich nur wenig sagen, ganz beiseite lassen kann ich sie nicht, denn bei jeder Betrachtung der internationalen Funktion der Niederlande erhebt sich gleich am Anfang die Frage: Inwieweit waren die politische Sonderstellung und die nationale Eigenart, welche diese Länder zur internationalen Funktion befähigt haben, in ihrer geographischen Lage und ihren ethnischen Verhältnissen begründet, vielleicht gar vorbestimmt? Eine solche Frage läßt sich grundsätzlich nicht endgültig lösen. Man kann höchstens auf gewisse Bedingungen hinweisen, welche uns den tatsächlich eingetretenen Zustand begreiflich machen. Die geographische Lage als Rhein-, Maas- und Scheldedelta erklärt ganz gewiß eine wirtschaftliche Mittlerrolle, wie sie die Niederlande seit sehr alten Zeiten erfüllt haben. Bei den Römern galt ja als Caput Germaniae das Lugdunum Batavorum, das den Brückenkopf gen Britannien gebildet hat und wo auf der Peutingerkarte die Wege vom Nordseegebiet nach den Alpen beginnen. Als nach der Völkerwanderung wieder Handelsstädte zu blühen beginnen, behauptet zuerst Dorestad während etwa einem Jahrhundert die Stellung eines Emporiums, später wird es Brügge, dann gegen Ende des Mittelalters Antwerpen, endlich in der Neuzeit Amsterdam. Rein wirtschaftlich betrachtet ist hier eine Mittlerstellung durch die Lage an dem unteren Lauf großer Ströme ohne Zweifel gegeben. Ein ebenso allgemeines Moment zur Erklärung einer Mittlerstellung ergibt sich aus der sprachlichen Beschaffenheit der Niederlande. Die romanisch-germanische Sprachgrenze läuft, was ihre wallonisch-niederländische Strecke betrifft, von altersher mitten durch Belgien. Die germanische und die romanische Welt stießen hier aufeinander in einem Gebiet, das die Berührung leichter, die Wechselbeziehungen mannigfacher gemacht hat, als es Vogesen oder Ardennen erlaubten. Diesen Umstand hat Pirenne in seinem berühmten Geschichtswerke als Erklärung für eine belgische Nationalität in voller Tragweite geltend gemacht. Er sieht gerade in dieser Mittel- und Mittlerstellung, welche Flandern, Hennegau, Brabant, Lüttich, Limburg und Luxemburg zum Austauschgebiet deutscher und französischer Kultur geeignet machten, die Ursache für das Aufkommen einer selbständigen, wenn auch zweisprachigen, belgischen Nation. Wir müssen die Berechtigung der Pirenneschen These hier dahingestellt sein lassen. Die Tatsache dieses Kulturaustausches ist für das Mittelalter mit vielen | |
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Beispielen reichlich zu belegen. Erinnern Sie sich an Heinrich von Veldeke und Herzog Jan von Brabant, an das Luxemburger Kaiserhaus mit seinen deutschen und französischen Beziehungen oder an den kleinen Zug aus dem mittelhochdeutschen Meier Helmbrecht, wo der junge Bauer flämisch spricht, um sich ritterlich zu gebärden. Diese kulturelle Potentialität der Sprachgrenze hat jedoch auf den nördlichen Teil der Niederlande keine Beziehung. Diese Gegenden sind nie Berührungsgebiet romanischen und germanischen Wesens gewesen. Dafür haben wir aber hier ein ethnisches Moment anderer Art und nicht geringerer Bedeutung. Das niederländische Küstenland, also unsere heutigen Provinzen Nord- und Südholland, Zeeland, Utrecht, Friesland und Groningen, hat während des ganzen Mittelalters bei allen fremden Völkern, einschließlich der anderen Stämme des Deutschen Reiches, dem sie angehörten, den Namen Friesland getragen. Die Friesen aber bildeten, wie bekannt, einen eigenen Zweig der großen westgermanischen Völkergruppe. Sie sind, beiläufig gesagt, die einzigen Germanen außerhalb Skandinaviens, die sich mit ihrem ältest bekannten Namen an ihrem ältest bekannten Sitz, wenn nicht Ursitz, behauptet haben. Die Friesen haben in der germanischen Welt, seitdem sich ihr Gebiet im Norden mit dem der Dänen, östlich und südlich mit dem der Niedersachsen, westlich über das Meer hin mit dem der verwandten Angelsachsen berührte, eine ethnische Mittelstellung tatsächlich eingenommen. Doch sie haben nicht nur eine Mittel-, sondern schon frühzeitig eine Mittlerstellung innegehabt. Sie sind Seefahrer und Kaufleute gewesen, soweit unsere geschichtlichen Kenntnisse zurückreichen, und die vorgeschichtlichen Funde lassen diese wirtschaftlich-kulturelle Mittlerrolle in stets weitere Fernen zurückverfolgen. Es bleibt hierbei zu bedenken, daß der Name Friesland für das ganze niederländische Küstengebiet nicht zu streng zu nehmen ist. Wenn sich auch die ‘sieben Friesischen Seelande’ nach den alten Friesischen Gesetzen von der Weser bis zum Zwin, d.h. bis Flandern, erstrecken, so will das nicht sagen, daß diese sämtlichen Gegenden jemals sprachlich rein friesisch gewesen sind. Außer den spärlichen Spuren friesischer Sprache, die wir in Ortsnamen, Personennamen und Rechtsdenkmälern finden, wissen wir nichts davon, wie die friesische Oberherrschaft über dieses ganze Gebiet in der Merowinger- und frühen Karolingerzeit ausgesehen hat. Friesische, niedersäch- | |
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sische und niederfränkische Bestandteile haben sich im Aufbau des holländischen Volkes unauflöslich vermischt. Die spätere politische Selbständigkeit der Niederlande und ihre Trennung sowohl vom Reiche als auch von Frankreich wurde weder durch die geographische Lage im allgemeinen, noch durch die romanisch-germanische Zusammensetzung der südlichen Niederlande, noch durch die friesische Dominante des Nordens vorherbestimmt. Diese Selbständigkeit, zuerst während kurzer Zeit als eine Nation, die sich ihres Daseins als solche erst eben bewußt wird, nämlich als burgundische Niederlande in der Hand Karls V., dann zerrissen in eine freie und eine spanische Hälfte, schließlich zwei europäische Staaten bildend, - diese doppelte Selbständigkeit ist das Endergebnis einer langen Reihe von historischen Ereignissen und Verhängnissen, die sich durch die Jahrhunderte hinzieht. Eine gewisse Entfremdung vom Reiche setzt schon früh ein. Waren noch im 11. und 12. Jahrhundert drei deutsche Kaiser auf niederländischem Boden gestorben: Konrad II., Heinrich IV. und Heinrich V., und hatte noch ein wichtiger Akt der deutschen Kaisergeschichte, wie die Verdammung Gregors VII., Ostern 1076, im Dom zu Utrecht stattgefunden, so stehen schon im 13. Jahrhundert diese Territorien in viel regeren politischen Beziehungen zu Frankreich und zu England als zum Reiche, dessen Angesicht nach Süden gewendet schien. Um 1340 baut sich Edward III. aus dem Bündnis mit einem unbotmäßigen Flandern und der Gefolgschaft der niederrheinischen Fürsten sein politisches Gerüst für den Krieg gegen Frankreich. Dennoch haben diese Verbundingen keineswegs eine endgültige Lostrennung vom Reiche bedingt oder auch nur vorbereitet. Dann aber erscheint das Haus Burgund. Erst die Staatsmannskunst und das Glück dieser Herzöge französischen Geblüts hat die Länder zu einem Ganzen vereinigt, das sich dauerhafter zeigen sollte als ihre Bande selbst mit Frankreich und mit dem Reiche. Erst Burgund hat mit dem Glanz seines Aufstiegs, mit der dramatischen Peripetie seines Glückes unter Karl dem Kühnen und mit der Einmündung seines Loses in das Geschick Habsburgs die Konfiguration des neuzeitlichen West-europa besiegelt und die Richting seiner Geschichte für Jahrhunderte bestimmt. Es war nicht das persönliche Verdienst der Herzöge, daß sich die Länder dieser neuen Einheit fähig zeigten. Was entstand, war eine noch sehr mangelhafte Einheit, die schwerlich eine Einigkeit genannt | |
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werden konnte. Sie hatte noch kaum einen Namen. Niederlande kommt als Gesamtname damals erst eben auf. Meistens nennt sich das neue Staatsgefühl noch nach Burgund, wenn auch das Haus im Mannesstamm längst erloschen war. Die treffende Tatsache bleibt: Es ist nicht bloß Staatsgefühl, sondern Vaterlandsgefühl, was diese Niederlande Karls V. einigt und beseelt; beseelt zur Treue erst und dann zum Widerstand. Denn im Namen dieser neuen Idee eines Vaterlandes erheben sie sich gegen die Regierung Philipps II. Im Wilhelmus von Nassauen verschlingen sich die Motive des Vaterlandsgefühls, der Freiheit und des Glaubens zu einer Melodie von hinreißender Kraft. Wir begehen dieses Jahr die Jahrhundertfeier der Geburt des großen Oraniers. Wenn wir uns, eindringlicher als gewöhnlich, auf seine Bedeutung, seine Größe, seinen Geist und sein Ziel besinnen, werden wir uns staunend bewußt, daß er im Namen dieses neuen Vaterlandes, das noch eben Burgund hieß, gegen das Haus, das sich noch immer gerne nach Burgund nannte, die Fahne des Aufstands erhob. Er rächt die ursprüngliche Tradition des Herzogshauses an dem spanischen Königshaus, das seine burgundische Erbschaft nicht zu verwalten verstand, er rächt den Staat Burgund an dem Hause Burgund. An ihm selbst aber rächt sich die Verwegenheit dieses Unternehmens. In den ganz besonderen Wechselfällen eines anscheinend hoffnungslosen Kampfes gegen den mächtigsten König der Christenheit entsteht statt eines Staatswesens der 17 Provinzen, unter welchen das alte, reiche Flandern, Brabant, Hennegau und Artois dominiert hätten, die kleine Republik der sieben, das entlegene Land von Seefahrern, Händlern und Fischern. Zum zweiten Mal bleibt der Staat, der sich seit dem Ende des Mittelalters zwischen Deutschland und Frankreich gelegt hat, das Werk Burgunds, ein Torso. Unter Karl dem Kühnen hatte die Entstehung eines Mittelreiches von der Nordsee bis an die Alpen in nächster Zukunft möglich geschienen. Dieses großburgundische Ideal sank 1477 mit dem Tode des Herzogs ins Grab. Gerade 100 Jahre später, als Wilhelm von Oranien in der Pazifikation von Gent sämtliche Provinzen gegen den Spanier geeinigt hat, scheint wenigstens der romanisch-germanische Staat der burgundischen Niederlande, also von Friesland bis zur Pikardie und Lothringen, seine Selbständigkeit zu behaupten. Bis an seinen Tod, in der verzweifeltsten Lage, hat der Oranier daran geglaubt. Es sollte anders kommen. Was aber tatsächlich aus der trüben Zeit hervorkam, war wunderbarer als | |
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ein großes Reich aller Niederlande: die kleine Republik, die bald ihre Machtstellung über See, ihre unerhörte Wirtschaftsblüte und auch ihre glänzende Kulturtätigkeit in Europa siegreich antrat. Fragt man nun, inwieweit diese Niederlande bis dahin, während ihrer Entstehungsgeschichte als neues Gebilde im Völkerleben Europas, also zunächst einschließlich Belgiens, eine wirklich vermittelnde Rolle zwischen ihren Nachbarn gespielt hatten, so muß man diesen Begriff einer Mittlerschaft scharf fassen. Man kann ganz bestimmt von einer Mittlerschaft reden, sofern die Niederlande im Mittelalter tatsächlich zur Verbreitung der feudalen und höfischen Formen in den deutschen Ländern beigetragen haben, denn diese Elemente waren ihnen selbst aus Frankreich zugeflossen. Handelt es sich aber um die Übertragung von Kulturgut oder Kulturkraft, welche in den Niederlanden selbst ihren Ursprung hatten, so kann von Übermittlung im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein. Das gilt also vom Anteil der Niederländer in der nord- und ostdeutschen Kolonisation des 12. Jahrhunderts, ebenso von der sogenannten Devotio moderna, dieser Bewegung einer neuen Laienfrömmigkeit, welcher wir das Buch von der Nachfolge Christi verdanken. Auch der Einfluß der Malerschule Van Eycks auf die Kölner und die oberdeutsche Malerei gehört hierher. Es sind alles Einflüsse, aber keine Vermittlung. Binnendeutsches Kulturgut, das durch Vermittlung der Niederlande im Mittelalter nach Frankreich oder England gekommen wäre, wüßte ich kaum zu nennen, und außer dem schon genannten Import höfischer Sitten und Ideen gibt es auch umgekehrt sehr wenig. Falls Maximilian wirklich für die österreichische Verwaltung die burgundischen Staatsbehörden aus den Niederlanden zum Muster genommen hat, so läge hier wohl ein Fall tatsächlicher Vermittlung vor. Aber die Frage ist umstritten. Bis etwa 1500 beschränkt sich die Mittlerrolle der Niederlande der Hauptsache nach auf das rein Wirtschaftliche, durch ihre Frachtfahrt und als Durchgangsland. Diese Art der Vermittlung durch Aufzählung von Waren und Handelsbeziehungen zu belegen gehört in die Wirtschaftsgeschichte, hier ist nur die Tatsache ganz allgemein zu erwähnen. Aus dieser wirtschaftlichen Mittlerstellung erwächst von selbst eine allgemeinere, sobald sich die fremden Nationen auf niederländischem Boden begegnen, kennenlernen und mit Gütern auch Gedanken austauschen. So war es in Brügge vor 1500 und noch viel mehr in Antwerpen um und nach 1500. Die zentrale und internatio- | |
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nale Stellung Antwerpens im 16. Jahrhundert, nicht bloß auf dem Weltmarkt, sondern auch im Kulturleben, läßt sich nur mit derjenigen Venedigs vergleichen. Das Antwerpen, wo Albrecht Dürer verweilte und Thomas Morus seine Utopia konzipierte, hat als Zentralstelle der damaligen Kultur nur seine Parallele in der ebenso internationalen persönlichen Stellung des Erasmus in der Welt des Geistes. Erasmus mit seinem riesigen Briefverkehr mit Freunden und Verehrern aus Spanien und England, bis Polen und Ungarn, Erasmus, der Friedrich dem Weisen Ratschläge gibt, wie er in der Sache Luthers verfahren soll, der die Könige zum Frieden ermahnt (wenn auch ohne Erfolg), auf dessen Wort das gebildete Europa hört wie auf den Ausspruch eines Orakels; man zweifelt, ob nicht in ihm die Funktion des Mittlers die des geistigen Führers überwiegt. Und obwohl er nur lateinisch schrieb und seine holländische Heimat wenig schätzte, war Erasmus im Grund ein echterer Repräsentant niederländischen Wesens, als er selbst ahnte. Sobald wir zum 17. Jahrhundert kommen, zieht sich unsere Fragestellung auf den nördlichen Teil der Niederlande, also auf Holland zusammen. Der südliche Teil scheidet trotz Rubens und Van Dijck für die Welt während zweier Jahrhunderte als Kultursubjekt aus und wird Schlachtfeld oder Faustpfand. Aber für die glorreiche Republik der Vereinigten Niederlande bricht jetzt die Zeit ihrer höchsten Kraftentfaltung, ihrer glänzendsten Kulturblüte und damit auch ihres effektivsten Mittlertums an. Wir erwähnen wieder nur pro memoria die außerordentliche wirtschaftliche Höhe durch Frachtfahrt, Überseeverkehr und Kolonisation, Geld- und Warenhandel, Technik und Industrie, weil all diese Sachen, obwohl eminent vermittelnd als Funktion, für unser Thema eigentlich keine Frage enthalten. Ebenso streifen wir nur im Vorübergehen Einflüsse, die, aus Holland selbst entspringend, auf die Fremde einwirken, wie in England auf dem Gebiet des Gartenbaus, der Landwirtschaft, der Eindeichung und Trockenlegung und auch auf dem Gebiete der Malerei, oder in Dänemark in der Architektur, in Schweden im Bergbau, in Rußland in der Schiffahrt. Es handelt sich da um Import, nicht um Vermittlung im eigentlichen Sinne. Wirklich vermittelnd hat das Holland des 17. Jahrhunderts in die Politik und in das Geistesleben eingegriffen. Die Republik brauchte für ihre Wohlfahrt im allgemeinen den Frieden Europas. Jeder Krieg störte ihre freie Fahrt, wenn er auch zeitweilig den einzelnen hohe | |
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Gewinnchancen bieten könnte. Das Gleichgewicht Europas und seiner Teilgebiete war für Holland Lebensbedingung. So erklärt sich das Eingreifen der Republik in die nordischen Verwicklungen, zugunsten Schwedens 1644, zugunsten Dänemarks 1658. Es ist wenig bekannt, daß im 17. Jahrhundert im Norden, sogar im Verkehr mit England, das Holländische öfters als diplomatische Sprache gedient hat. Der Grundsatz der Politik Johann de Witts und seiner Nachfolger ist, wenn auch nicht rein vermittelnd, doch stets die der Wahrung des europäischen Friedens gewesen. Gegenüber dem herrschsüchtigen Frankreich Ludwigs XIV. wird daraus von selbst eine Politik der Allianzen und Koalitionen, wie die Triple-Allianz von 1668 und das große Bündnis von 1689. Damit soll nicht gesagt sein, daß diese Begebenheiten der europäischen Geschichte bloß den Tendenzen der holländischen Politik entsprochen hätten. Es spricht doch aber ganz deutlich für die anerkannte Mittlerstellung Hollands, daß die drei großen Friedensschlüsse von 1678, 1697 und 1713 sämtlich auf holländischem Boden zustandegekommen sind: Nijmwegen, Rijswijk und Utrecht. Wenn je von einer politischen Mittlerstellung Hollands die Rede hat sein können, so war dies um 1700. Auch seine geistige Mittlerstellung behauptete damals das Land noch unversehrt. Worauf beruhte diese und wie weit erstreckte sie sich? Hier gilt abermals das, was wir schon von einer früheren Periode bemerkt haben. Wenn die Leistungen der holländischen Kultur des 17. Jahrhunderts im Auslande bekannt wurden, Einfluß ausübten und sogar nachgeahmt wurden, so bedeutet das an sich keine Vermittlung in dem Sinne, den wir hier festhalten möchten. Der Weltruhm Grotius' machte ihn nicht zum Kulturvermittler im eigentlichen Sinne, wenn er auch den späteren Teil seines Lebens in Frankreich zubringen mußte. Christian Huygens, der Physiker, steht, wie andere Gelehrte seiner Zeit, mit Engländern, Deutschen, Franzosen und Italienern in Korrespondenz und wohnt in Paris; zum Mittler, wie wir es hier verstehen, macht ihn das nicht. Eine richtige Mittlerstellung zwischen westlichen und östlichen, nördlichen und südlichen Nachbarn nahm Holland vor allem durch seine Universitäten ein. Hier haben sich die Leute, die Bücher und die Ideen aus verschiedenen Ländern in einem geistigen Austausch zusammengefunden, wie er anderswo in diesem Zeitalter nicht verwirklicht war. Selbstverständlich beschränkt er sich, was die Studierenden und Dozierenden anbelangt, auf Gebiete oder Gruppen protestantischer Kultur, insbesondere des reformierten | |
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Bekenntnisses. Die Sprache, welche jetzt bei uns einer massenhaften Zuwanderung fremder Studenten im Wege steht, bot damals keine Schwierigkeiten; sie war ja die lateinische, die überall heimisch war. Während des ganzen 17. und eines guten Teiles des 18. Jahrhunderts haben in Leiden, Franeker, Groningen und Utrecht zahlreiche Engländer, Franzosen, Schotten, Dänen, Schweden, Polen und Ungarn studiert, in weitaus größerer Zahl aber Reichsdeutsche. Anfangs sind unter den Professoren, besonders in Leiden, viele Franzosen gewesen, darunter Namen wie der jüngere Scaliger und Salmasius. Viel zahlreicher aber wurden deutsche Professoren durch die holländischen Universitäten zugezogen. An der Universität Groningen kamen im 17. Jahrhundert auf eine Gesamtzahl von 52 Professoren 27 Reichsdeutsche, in Leiden und Utrecht etwa einer auf sechs. Wenn auch die meisten dieser Fremden nicht wieder in die Heimat zurückkehrten, so kann man hier doch mit Recht von einer fortwährenden, tiefgehenden Mittlertätigkeit Hollands reden. Eine gewisse Mittlerschaft ist weiter überall dort, wo das Land auch außerhalb der Universitätssphäre fremde Besucher oder Verbannte, zeitweilig oder bleibend, aufnimmt oder Verfolgten Schutz gewährt. Descartes, der in Holland gewohnt hat, gehört dazu, aber ebenso gut im Anfang des 18. Jahrhunderts die Mennoniten, die aus Bern vertrieben, und die Lutheraner, die aus Salzburg verjagt wurden. Diese Mittlertätigkeit gilt vor allem bei der starken Einwanderung französischer Protestanten in der Zeit der Aufhebung des Edikts von Nantes. Die Zusammensetzung des hugenottischen Volksteiles in Frankreich brachte es mit sich, daß diese ‘Réfugiés’ um 1685 nächst Händlern oder Handwerkern, vorwiegend Intellektuelle waren. Sie haben Holland nicht wieder verlassen, sind dort bald heimisch geworden, aber bewahrten ihre französische Kultur. Der berühmteste unter ihnen war Pierre Bayle, der skeptische Philosoph und Lexikograph, der Sachwalter der Aufklärung. An seinen Namen, sowie an die von Jean Leclerc und der beiden Basnage, knüpft sich die kulturgeschichtlich sehr wichtige Tatsache der französischen Schriftstellerei in den Niederlanden und damit eng verbunden die der Herausgabe französischer Bücher in Holland. In der Geschichte der Aufklärung und ihrer internationalen Verbreitung nimmt Holland insofern einen wichtigen Platz ein, als es, wenn es auch fremde Geister waren, die dachten und schrieben, ihnen die Möglichkeit bot, sich frei zu äußern. Die Wirkung dieser Schriften ist international. Bayle's Nouvelles de la | |
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République des lettres, Leclerc's Bibliothèque universelle, die Haager Zeitschriften Journal littéraire und Mémoires littéraires de la Grande Bretagne haben im höchsten Grade vermittelnd gewirkt. Mancher englische Gedanke ist in jener Zeit über Holland in französischen Kleidern nach Deutschland und der Schweiz gewandert. Allerdings ist, wie gesagt, die Mittlerrolle Hollands in dieser Expansion der europäischen Kultur eine durchaus passive. Diese Literatur wird nicht durch Holländer hervorgebracht. Das Land als solches bietet aber dazu etwas Kostbares, nämlich die Freiheit. Von der Zeit um 1700 können wir jetzt ohne Umschweife zur Gegenwart übergehen. Der weitere Verlauf des 18. Jahrhunderts bedeutet für unsere Frage nur, daß Holland seine Großmachtstellung fast ebenso plötzlich verliert, wie es sie gewonnen hatte, und auch seine Kulturtätigkeit aufhört, gebend zu sein und fast gänzlich empfangend wird. Holland, das immer schon für fremde Kultur leicht zugänglich war, öffnet jetzt, wo der Humanismus nicht mehr wie früher eine Art internationaler Kultur schafft, seine Türen weiter als je zuvor dem Einströmen fremder Nationalkulturen. Dabei gilt, wie überhaupt für den Aufschwung der neuzeitlichen Kultur, daß der bisher vorwiegend französische Einfluß, ohne nachzulassen, seit 1700 mehr und mehr von einem zuerst englischen und dann deutschen abgelöst und aufgewogen wird. Diese große Wendung im europäischen Geistesleben, die Zurückdrängung des einseitig romanischen Einflusses zugunsten eines überwiegend germanischen, läßt sich nirgends besser beobachten als in dem von altersher allem Fremden unbefangen offenstehenden Holland. Wenn wir also jetzt zum 20. Jahrhundert und zu der Lage von heute kommen, so muß ich wiederholen, daß ich mich nicht auf das Gebiet der Wirtschaftspolitik begeben werde. Man wird von mir auch wohl kein Rezept zur Lösung verzweifelter Ein- und Ausfuhrschwierigkeiten erwarten. (Wenn man mich zwingen wollte, eines vorzuschreiben, so würde es in einem Wort enthalten sein: Freiheit.) Ich will nur als Historiker urteilen. Als Kulturhistoriker aber würde ich zur heutigen Wirtschaftspolitik doch dies eine zu bemerken haben, daß sie in viel größerem Maße, als sie selbst weiß, oft von Gefühlsgründen diktiert wird. Jeder, der über wirtschaftspolitische Möglichkeiten schreibt, glaubt immer, daß die wirtschaftlichen Interessen, wie er sie sieht, etwas rein Zweckmäßiges, Selbstverständliches und objektiv zu Bestimmendes von zwingender Konsequenz seien, während tat- | |
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sächlich bisweilen ein ganz naiver Wunsch gefühlsmäßiger Art der Vater des Gedankens ist. Für unsere weitere Betrachtung der Mittlerstellung der Niederlande in der Gegenwart scheidet nun Belgien ganz aus. Seine internationale politische Lage sowie seine inneren Probleme sind heutzutage ganz anderer Art, als daß ich es mit Holland zusammen in meine Fragestellung einbeziehen könnte. Wir werden also noch festzustellen versuchen, inwieweit das Königreich der Niederlande tatsächlich eine Mittlerstellung einnimmt oder einnehmen kann, und ob die Stellung, soweit vorhanden, mehr kultureller oder politischer Natur ist. Von der politisch-geographischen Lage dieses Staates kann man mit gutem Grunde behaupten, daß sie sich im Laufe der Zeit von einer ganz peripherischen in eine eminent zentrale geändert hat. Im alten Europa, das dem Mittelmeer zugewandt lag, waren die Niederlande ein äußerst entlegenes Gebiet. Im atlantischen Europa der Neuzeit seit 1500 waren sie entschieden westlich orientiert und ihrer Lage nach schon zentral. In der atlantisch-pazifischen Welt von heute sind sie im höchsten Grade zentral. Das bedeutet an sich noch keine Fähigkeit zum Vermitteln zwischen anderen Mächten dieser Welt. Diese Lage aber hat weitgehend das politische Verhalten des Landes bestimmt. Holland hat, rein politisch, von keiner Macht in der Welt etwas zu erwarten oder zu hoffen. So lange sich die heutige Welt in ihren Fugen hält, braucht es nirgends Schutz oder Anlehnung zu suchen, weil sämtliche Großmächte ein Interesse daran haben, es nicht anzugreifen. Sollte aber die Welt nochmals aus ihren Fugen gehen in einem neuen, allgemeinen Kriege, so würde es ohne Bedeutung sein, falls Holland nicht abermals seine Neutralität behaupten könnte, ob es sich dem einen oder dem anderen in die Arme würfe, weil es dann mit der abendländischen Kultur doch wohl jedenfalls zu Ende wäre. Diesem Unerwünschtsein der Parteinahme entspricht eine wirkliche, internationale Unparteilichkeit des Volkes, ohne daß diese Gesinnung Gleichgültigkeit zu nennen wäre. Die politischen Ereignisse in fremden Staaten werden vielleicht in keiner nationalen Tagespresse so eingehend, so genau und so gleichmäßig referiert und kommentiert wie in der holländischen. Der gebildete Zeitungsleser interessiert sich mehr oder weniger für deutsche, englische, französische und amerikanische Politik. Von irgendeiner besonderen Sympathie für das eine oder das andere Land ist dabei, seit dem Ausgang des Welt- | |
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krieges, nicht mehr die Rede. Schon deshalb nicht, weil sich die Kenntnisse, welche man von den verschiedenen Nationen hat, und somit das Verständnis für ihre Bestrebungen ungefähr aufwiegen. Die politische Haltung dem Ausland gegenüber und die kulturellen Beziehungen zu den verschiedenen Nationen hängen hier unmittelbar zusammen. Es gibt vielleicht kein anderes Land auf der Welt, das fremder Kultur von verschiedener Seite so leicht zugänglich wäre wie das heutige Holland. Gerade in dieser leichten Empfänglichkeit liegt ein Moment, wodurch es, auch ohne fremdes Kulturgut direkt von Westen nach der Mitte oder umgekehrt zu übertragen, in hohem Grade vermittelnd wirken kann. Schon durch das Aufnehmen, Verarbeiten, Ausgleichen und Weitergeben übt ein Land die Funktion eines Mittlers aus. Diese leichte Zugänglichkeit für fremde Kultur liegt schon in der ganzen Geschichte des niederländischen Volkes begründet. Kulturelle Beziehungen zu den großen Nachbarvölkern hatten die Niederlande seit St. Amandus aus Aquitanien und St. Willebrord aus England kamen, um hier das Christentum zu verbreiten. Auch durch wiederholte Kriege ist das Verhältnis zu Frankreich oder England nie das einer Erbfeindschaft geworden. Mit dem Deutschen Reiche hat Holland sich niemals im Kriegszustand befunden, und mit deutschen Territorien nur einmal: 1672 mit Münster und Köln. Seit dem 19. Jahrhundert wird die Aufnahme der drei Nachbarkulturen vor allem gefördert durch eine ziemlich weit verbreitete, leidlich gute Kenntnis der drei Nachbarsprachen, die jedenfalls zum Lesen und Verstehen ausreicht. Englische, deutsche und französische Literatur wird von weiten Kreisen massenhaft im Original gelesen. Die Ausbildung von Sprachlehrern für die mittleren Schulen wird sehr gewissenhaft betrieben. Der Holländer bildet sich auf seine Fähigkeit auch deutsch, englisch und französisch zu sprechen, meistens etwas mehr ein, als billig ist. Doch darf nicht vergessen werden, daß das Lautsystem der holländischen Sprache es uns leichter macht, die Aussprache jeder dieser drei fremden Sprachen annähernd richtig nachzuahmen, als es für die drei genannten Völker untereinander möglich ist. Die leichte Zugänglichkeit des modernen Kleinstaates für fremde Kultur hat ihre bedenkliche Seite. Man kann es ertragen, daß wir keine bedeutende eigene Film- oder Automobilindustrie haben. Wir | |
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trösten uns damit, daß wir Schiffe aller Art, Brücken usw. noch immer sehr gut bauen. Es ist auch noch erträglich, daß das illustrierte Wochenblatt sich bei uns wegen zu geringen Absatzes nicht über ein niedriges Niveau erheben kann. Es könnte aber bedenklich werden, wenn ein einseitiger Kulturimport die einheimische geistige Produktion zu überfluten oder zu ersticken drohte. Davon jedoch braucht weder auf dem Gebiet der Kunst und Literatur noch in der Wissenschaft die Rede zu sein. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß der gebildete Holländer oft die Neigung hat, auch wenn er durchaus national fühlt, zugunsten der fremden Literaturen die eigene zu vernachlässigen. Insofern sich aber, wo nicht in ein und derselben Person, so doch in der Bildung im allgemeinen, die fremden Einflüsse ungefähr die Waage halten, stellt sich doch am Ende ein gewisses Gleichgewicht heraus, welches die Mittlerfunktion, von welcher wir jetzt sprechen, bedingt und ermöglicht. Der holländische Geist ist durch seine Stammverwandschaft mit dem deutschen Wesen, durch die Gleichartigkeit seines Geschickes mit demjenigen des englischen Volkes und durch seine alten Beziehungen zur französischen Bildung für alle drei Kulturen aufnahmefähig. In diesem Prozeß einer weitgehenden Kulturverarbeitung ist ihm der Besitz einer eigenen Sprache eine kostbare Gewähr. Auf den ersten Blick hin könnte das unrichtig scheinen. Man wäre versucht zu meinen, ein zweisprachiges Gebiet, wie das der Schweiz, das an zwei großen Kulturen unmittelbar teilhat, wäre für die Funktion der Kulturvermittlung viel mehr geeignet. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Der Schweizer muß, je nachdem seine individuelle Muttersprache deutsch oder französisch ist, geistig nach einer der beiden Seiten seinen Schwerpunkt haben, während Holland, gerade weil es ein eigenes altes Erbe und Symbol nationaler Sonderstellung und Selbständigkeit zu wahren hat, die fremden Einflüsse gleichmäßig, unabhängig und in freier Wahl verarbeiten kann. Wenn auch der Holländer in seiner eigenen Sprache von der Welt nicht gehört wird, so gibt ihm diese Selbständigkeit den Vorzug, besser als vielleicht ein anderes Volk in Europa den Geist der drei großen Nachbarn verstehen zu können. Ohne eigene Sprache wäre Holland zur Vermittlung viel weniger befähigt. Ich will hier im Vorübergehen an einen Fall erinnern, bei welchem diese Vermittlung sehr direkt und sehr fruchtbar gewesen ist. Als unmittelbar nach dem Weltkrieg die wissenschaftlichen Beziehungen | |
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zwischen den verfeindeten Mächten ganz daniederlagen und die englische und amerikanische Welt noch kaum mit den während des Krieges entstandenen Produkten der deutschen Wissenschaft Fühlung nehmen wollten, da war es der Leidener Astronom, mein alter Freund De Sitter, welcher seine englischen Freunde zuerst mit deutschen Gelehrten in Berührung gebracht und damit die Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden großen Völkern ganz bedeutend gefördert hat. So scharf zeichnet sich unsere Mittlerrolle nur ganz selten ab, aber in tausend anderen Fällen, auf vielerlei Gebiet, ist ohne Zweifel von Holland eine ähnliche Wirkung ausgegangen. Das Land hat in der Nachkriegszeit mit der Intensivierung des Weltorganismus in jeder Hinsicht doch wohl mehr und mehr die Position einer Zentralstelle eingenommen. Wir haben für Genf und Basel, mit Locarno und Lausanne, nur den Haag mit dem internationalen Gerichtshof. Will das heißen, daß die Schweiz als solche als Vermittlerin zwischen West- und Mitteleuropa mehr gilt als Holland? - Ich glaube, nein. Eine Mittlerstellung im Sinne unseres Themas liegt nicht in einer Stimme in den Verhandlungen der Großmächte, die wir ja nicht haben, noch in einer Stimme im Völkerbond, deren wir uns mit vielen anderen erfreuen. Eine solche Stellung ist mehr oder weniger latent verwirklicht in der ganzen Lage und Beschaffenheit eines Staates und eines Volkes. Daß in diesem allgemeinen und schwer konkret faßbaren Sinne von einer Mittlerstellung der Niederlande zwischen West- und Mitteleuropa die Rede sein darf, hoffe ich gezeigt zu haben. Der nationale Charakterzug, dessen uns andere Völker und auch wir selbst gerne zeihen unter dem Namen Nüchternheit, Phlegma oder Mangel an Phantasie, bedeutet doch auch ein gewisses geistiges Gleichgewicht, eine nicht nur negative Kühlheit und Ruhe der Geister. Diese Atmosphäre macht Holland zur skeptischen Kritik von Bestrebungen oder Theorien irgendwelcher Art, aber auch zur Pflege hoffnungsvoller internationaler Gedanken geeignet. Nicht im Sinne eines bodenlosen Kosmopolitismus oder Universalismus pflegen wir diese. Gerade weil wir durch unsere vielfachen Beziehungen zu verschiedenen nationalen Kulturen den unverlierbaren Wert jeder einzelnen lebendig empfinden, ist es uns klar, daß besseres Verständnis und größere Harmonie unter den Völkern der Welt weder aus voreiliger Zusammenkettung des Ungleichen und Widerstrebenden noch aus grundloser Verneinung sehr reeller Gegensätze hervorgehen können. Anerken- | |
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nung des Fremden, das doch Fremdes bleibt, Einfühlung in dessen Geist, während man den eigenen behauptet, das sind die Fähigkeiten, welche sämtliche Nationen der Welt noch in einer langen Schulzeit zu üben haben werden. Wenn ich mit einigem Recht meinen darf, daß ein günstiges Geschick dem niederländischen Volke in dieser Schule der Kultur einen bescheidenen Fortschritt leichter gemacht habe als anderen größeren Nationen, so ist vielleicht in dieser Fähigkeit die Befugnis der Niederlande zur Mittlerstellung zwischen West- und Mitteleuropa am deutlichsten enthalten. |
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