Verzamelde werken. Deel 2. Nederland
(1948)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekend
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Burgund
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ausführlich, zurück.Ga naar voetnoot1 Offenbar hat ihn seine erste Skizze nicht befriedigt, weil er fühlte, daß eine Behandlung, wie sie ihm vorschwebte, doch der ganzen Wucht des ökumenischen Gegenstandes nicht gerecht werde. In die tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen, wie sie neulich Johannes Haller so klar und fesselnd dargestellt hat, schiebt sich die burgundische Episode wie ein ganz unerwarteter großer Akt hinein. Ein Zwischenspiel bloß? ein Intermezzo, nach welchem die vorige Handlung unverändert weitergeht? Beileibe nicht. Denn die Geschichte Europas kommt seitdem vom Verhängnis und Vermächtnis Burgunds nicht wieder los. Der ganze Gegensatz Habsburg-Frankreich hängt daran, das Emporkommen der Niederlande als selbständiger Staat, die jahrhundertelange Funktion Belgiens als Einsatz und Tummelplatz der großen Politik. Seit 1400 stoßen Frankreich und das Deutsche Reich auf dem größeren Teil ihrer ehemaligen Grenze nicht mehr unmittelbar aufeinander. Ihre Beziehungen komplizieren sich. Romanisches und germanisches Wesen, von Luxemburg bis an die Nordsee, begegnen sich fortan in Ländern, die dem direkten und sich stets verschärfenden politischen Gegensatz: Deutschland-Frankreich, entrückt sind. Es ist so leicht sich zu sagen: das alles mußte so kommen, sämtliche geographische, ethnographische, wirtschaftliche Umstände bedingten es. Der nördliche Teil des karolingischen Mittelreiches, das alte Lothringen, war durch seine ganze Lage zum Wiederaufleben vorbestimmt. Schon einmal ja hatte er sich, unter diesem ganz zufälligen Namen Lothringen, den deutschen Stammesherzogtümern angereiht, obwohl ihm die ethnische Grundlage zur Konsolidierung fehlte. Innere Kräfte müssen diese Einheit bedingt haben. Solch ein Glaube an die determinierte Evolution im Geschichtlichen ist aber im Grunde bisweilen nicht viel anderes als ein unbeholfenes Bekenntnis zur Vorsehung oder zum Fatalismus. Gerade für die moderne Geschichtsbetrachtung, die so geneigt ist, sich zur Erklärung großer Zusammenhänge mit einer seichten Entwicklungsvorstellung zufrieden zu geben, tut es not, mit Nachdruck immer wieder auf die gewaltige Bedeutung des Akzidentellen hinzuweisen. Germanisches und romanisches Volkstum in der Geschichte, sie kommen uns vor wie zwei Mächte, die sich wie Himmelskörper durch ihre eigene Schwere unabwendbar zueinander hin oder von- | |
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einander ab bewegen müssen. Und doch läßt es sich keinen Augenblick leugnen: ihre ganze Lage, ihr ganzes Verhältnis zu einander, ist mitbedingt worden durch das Geschick der Burgunderdynastie, durch deren persönlichste Eigenschaften: die Einsicht des ersten Philipp, die heillose Starre Karls des Kühnen. Von Zeit zu Zeit pflege ich, wenn es darauf ankommt, meinen Hörern zu sagen: es gibt für die Geschichtswissenschaft keine nutzlosere Tätigkeit, als sich in unverwirklichte historische Möglichkeiten hineinzudenken. Es kommt nicht einmal etwas Geistreiches dabei heraus. Das hat zum Beispiel der englische Literat bewiesen, der eine Elitetruppe von Schriftstellern, darunter Chesterton, Maurois, Winston Churchill und Emil Ludwig, zur Mitwirkung aufforderte an einem Sammelband mit dem Titel: If it had happened otherwise: Lapses into Imaginary History.Ga naar voetnoot1 Man kann diese ganze Gattung, die einigermaßen Mode wird, ruhig literarisch wertlos und historisch unerfreulich nennen. Schon der Umstand, daß von den elf Mitarbeitern nicht weniger als vier ihre Einbildungskraft an Napoleon versucht haben, sagt genug. Zu einem Zweck jedoch kann so ein historisches ‘Wenn dies oder jenes nicht geschehen wäre...’, ganz lose hingeworfen und gleich wieder vergessen, bisweilen einigen Nutzen haben, nämlich um uns immer wieder davon zu durchdringen, daß in der Geschichte großer Staaten, wie im Leben des einzelnen, jeder Augenblick die Möglichkeit verschiedener Welten in sich trägt. Vergegenwärtigen wir es uns, im Hinblick auf den Fall Burgund, an einigen Beispielen. Schon hat König Johann der Gute von Frankreich, 1363, seinen jüngeren Sohn Philipp, zur Belohnung seines Mutes bei Poitiers, meinte man, mit dem an die Krone zurückgefallenen Herzogtum Burgund ausgestattet. Schon hat 1369 sein Nachfolger, Karl V. von Frankreich, für diesen Philipp, seinen Bruder, die Heirat mit Margarete von Flandern bewirkt, die dem Burgunder, und damit Frankreich, schien es, in der Zukunft den Besitz Flanderns, Artois und der Freigrafschaft sicherte. Da braucht nur die männliche Nachkommenschaft des Königs und der älteren Brüder zu fehlen, und dieser Philipp der Kühne von Burgund und Flandern wird selber König von Frankreich... Werden da nicht sämtliche Niederlande restlos Frankreich anheimfallen? Aber schon ist die Tragweite unseres imaginären Falles wieder zu Ende. Weiter als bis zur allernächsten historischen Konsequenz reicht unser Blick nicht. | |
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Oder: es ist 1416. Noch hat sich Burgund nicht ganz von Frankreich losgerissen, die europäische Lage ist überaus unklar: die Engländer haben eben bei Azincourt gesiegt, in Konstanz tagt das Konzil, König Sigmund tritt seine große diplomatische Reise nach Westen an. Die schwächlichen Söhne des irrsinnigen Karl VI. und der Isabella von Bayern sterben der eine nach dem andern: einer von ihnen heißt Johann von Touraine, er wird Dauphin durch den Tod des nächstälteren Bruders, stirbt aber wenige Monate später selbst: 5. April 1417. Von diesem Johann von Touraine nehmen wir einen Augenblick an, er sei am Leben geblieben. Seine Braut ist Jakoba von Bayern, die Erbtochter von Hennegau, Holland, Seeland und Friesland. Er wird also König von Frankreich, und mit seinem neuen Besitz, dem adligmilitärischen Hennegau, dem schiffs- und handelstüchtigen Holland, umklammert er das burgundische Flandern, und hält es fest an Frankreich. So hat man es sich damals in Frankreich selbst gedacht: Hennegau in französischer Hand sollte den Frieden des Königtums mit Burgund wiederherstellen.Ga naar voetnoot1 Dritte hypothetische Möglichkeit: Karl der Kühne stirbt, ehe ihn sein Unglück erfaßt (‘et jà le conduisait son malheur’, sagt Commines) und hinterläßt einen Sohn, der unter guten Ratgebern aufwächst. Die burgundische Erbschaft kommt also nicht an Habsburg, usw. Sie sehen, ich wähle absichtlich nur einfache Kontingenzen des Lebens und Sterbens, deren unmittelbare politische Folgen sich genau feststellen lassen. Weiter reichen unsere retrospektiven Prophezeiungen nicht. Aber jedesmal enthüllt sich uns die unbestimmte Wahrscheinlichkeit einer ganz anders ausfallenden Konsolidierung der germanisch-romanischen Staats- und Kulturgrenzen. Als Burgund-Flandern sich von der Krone entzweit, statt in diese aufzugehen, und als Hennegau-Holland in die Netze Burgunds gerät, statt französisch zu werden, bedeutet die tatsächlich eingetretene Wendung beidesmal das Scheitern von Frankreichs Hoffnungen auf die Einbeziehung ganz Niederlothringens (im alten Sinne) in seinen Machtkreis, eine Abwendung also des Vordringens französischer Übermacht gen Norden hin. Im dritten Zeitpunkt, an dem wir die Möglichkeit anderer Wendungen illustrierten, also als das Haus Burgund selbst untergeht, scheint abermals Frankreich seinem politischen Ziel nahe. Und dann | |
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geschieht das ganz Merkwürdige: der Torso Burgund lebt, das Werk der Herzöge behauptet sich in der Hand Habsburgs: die unvollendete Zusammenfassung der Niederlande in einen zwitterhaften Staat. Im selben Augenblick aber hat sich, durch die Heirat Maximilians mit Maria, die burgundische Frage erst recht zu einer europäischen erweitert; bald wird sie es noch mehr durch die spanische Verbindung. Wieder also resultiert die politische Lage Europas aus einer Reihe von Vermählungen und Todesfällen. Wenden wir uns aber von der Musterung der Kontingenzen, also von unserer indeterministischen Einstellung, zur ebenso unausweichlichen deterministischen, also zur Überzeugung, daß gewisse Tendenzen von allgemeiner, sei es ethnischer, wirtschaftlicher oder politischer Art, sich, unabhängig von Personenwechsel oder individuellen Betätigungen, durchsetzen mußten, wie sieht dann der Fall Burgund aûs? Die ‘Ganzheiten’, um die es sich handelt, heißen Germanentum und Romanentum, oder wenn man sie positiver fassen will, Deutsches Reich und Frankreich. Sind das einfache Größen? Das Reich und Frankreich können als solche gelten, so lange man die Fragen, die man stellen will, aufs rein Politische beschränkt. Das rein Politische aber, in seinem Ablauf betrachtet, führt gleich wieder hinein ins Akzidentelle und Persönliche. Wie sich nach 1477 Frankreich des Herzogtums Burgund sogleich wieder bemächtigt, der Freigrafschaft aber nicht, wie es sich eindrängt in Lothringen, jedoch die wallonischen Provinzen der Niederlande, Artois, Hennegau usw., sämtlich noch in habsburgischer Hand lassen muß, - wie anderseits der dynastischen Politik Habsburgs gemäß, der burgundische Kreis fast gänzlich vom Reiche getrennt wird, das alles läßt sich, ohne von den Personen Maximilian und Karl V. und ihren ganz individuellen Betätigungen und Geschick zu reden, weder anschauen noch darstellen. Unser historisches Bedürfnis jedoch fragt: Wie aber, wenn sich hinter den faktischen Ereignissen, welche die Form der Staaten bestimmt haben, dennoch das unabwendbare Los der germanischen und romanischen Welt wie eine selbständig erkennbare Historie erhöbe? Da aber zeigt sich, wie auch diese Begriffe Germanentum und Romanentum, sobald man sie auf die Besonderheit des tatsächlich Geschehenen bezieht, ihren Charakter von eindeutigen Größen sogleich verlieren. Vom Verhältnis Germanentum-Romanentum als solches (sagen wir: vom 15. bis ins 18. Jahrhundert) läßt sich nur | |
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ganz Allgemeines aussagen. Zum Beispiel, daß das Romanische während all dieser Zeit politisch und kulturell noch vorzudringen scheint, bis im 18. Jahrhundert die große geistige und materielle Gegenbewegung, aus England wie aus Deutschland, einsetzt, deren Tragweite wir, im 20., noch nicht absehen können. Schon die anscheinend noch ganz allgemeine Fragestellung: wie haben Verlauf und Ausgang der Burgunderherrschaft das romanisch-germanische Verhältnis modifiziert? zwingt uns sofort, innerhalb dieses Gegensatzes wieder zu differenzieren. Denn nicht alle Faktoren, welche dieses komplizierte Stück Geschichte ausmachen, sind einfach auf den Nenner Germanisch-Romanisch zurückzuführen. Allerhand andere Tendenzen als germanischer Widerstand gegen französisches Übergewicht sind mit im Spiele. Faßt man sie alle unter diesen Begriff Germanisch zusammen, so raubt man nicht bloß dem Bild des Geschehenen jede Farbe, sondern entkleidet zu gleicher Zeit diesen Begriff des Germanischen jeder Prägnanz und Fülle. Der moderne Beobachter mit seiner stark ethnisch-nationalen Einstellung möchte wohl erwarten, daß dort im lebenstrotzenden Flandern und Brabant des 15. Jahrhunderts, wo sich die Burgunderherzöge wie im gelobten Lande niedergelassen hatten, germanisches und romanisches Wesen wie gleichwertige Kräfte gerungen hätten: einheimische deutsche Art gegen welschen Kulturimport. Das trifft aber gar nicht zu. Man kann ruhig sagen, daß weder die Herzöge noch die Bewohner der Niederlande sich eines nationalen Gegensatzes dieser Art bewußt gewesen sind. Für die Herzöge war der französische Charakter ihrer Herrschaft, auch nachdem sie sich ganz von Frankreich abgewandt hatten, gar keine Frage. Die Tatsache, daß weitaus der bedeutendere Teil ihres Gebiets niederdeutsch war, hatte für sie nicht einmal die Tragweite einer nationalen Minderheitenfrage. Sie bauen ihre Herrschaft weiter auf aus germanischem Stoffe, ohne sich von dessen Eigenart Rechenschaft geben zu müssen. Das thiois, die Sprache der Mehrzahl ihrer Untertanen, gilt den burgundischen Hofkreisen meistens nur als ein bäuerisches und lächerliches Patois.Ga naar voetnoot1 Auch dem Hoch- | |
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deutschen gegenüber ist ihr Überlegenheitsgefühl grenzenlos. Man höre, wie Chastellain, selbst übrigens geborener Flamländer, den Empfang eines kaiserlichen Abgesandten am herzoglichen Hofe in Hesdin beschreibt. Der Mann, - den Namen kennt er gar nicht - begrüßte im Namen des Kaisers den Herzog en gros haut allemant, tellement qu'à peine nul ne le savoit entendre, fors que mot ci, mot là, obwohl er sich viel Mühe gab, deutlich zu sprechen. Nach Übergabe seines Beglaubigungsschreibens hielt er nochmals eine Ansprache, ‘aber seine Sprache war so grob, nach der Natur des Landes, daß man ihn kaum verstehen konnte’. Der Herr von Lannoy und der Ammann von Brüssel hatten die größte Mühe, seine Anrede zu übersetzen.Ga naar voetnoot1 Karl der Kühne hat sich, im Gegensatz zu seinem Vater Philipp, nicht mehr als Franzose gefühlt. ‘Estoit devenu tout autre nature que françoise et tout à sa cause.’Ga naar voetnoot2 Man würde hiernach vielleicht erwarten, daß er die niederdeutsche Art seiner Länder begriffen hätte, sich ihres Volkstums angenommen, und es als Waffe gegen Frankreich verwandt hätte. Davon gibt es aber keine Spur. Wenn Karl seine Entfremdung von Frankreich akzentuieren will, so spricht er english oder nennt sich einen PortugiesenGa naar voetnoot3, nach der Herkunft seiner Mutter Isabella. Gegen das Sippengefühl, das ihn mit Portugal und England verbindet, kommt ein politisch-nationales Zugehörigkeitsgefühl, das ihn zum Niederländer gemacht hätte, noch nicht auf. Wieviel stärker hätte er, nach modernen politischen Ansichten, gestanden, wenn er sich, Frankreich zum Trotz, nach Brabant, nach dem alten Herzogtum ‘Lothrijk’, dessen Titel er noch führte, bezeichnet hätte, statt sich einen Portugiesen zu nennen. Daß hier, im Norden, in ihren niederländischen Besitzungen, der Schwerpunkt ihrer Macht lag, wußten die Herzöge längst. In Burgund selbst verweilten sie nur selten. Es verging oft eine Reihe von Jahren, ehe sie es besuchten, und einmal dort, riefen die Staatsgeschäfte sie bald wieder nach Brüssel oder Lille zurück. Der | |
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junge Charolais ist seit seinem ersten Jahre bis 1461 nicht mehr in Dijon gewesen. Gerade aber diese getrennte Natur der Burgunderherrschaft, die sich geographisch auf zwei weitauseinanderliegende Gebiete verteilte, hat den Gedanken eines nationalen Zusammenhanges des neuen Staates schwer aufkommen lassen. Man hatte eigentlich keinen Namen dafür, weder für das Ganze, noch für die Niederlande an sich. Die Bezeichnung Pays bas, Niederlande, kommt eben in dieser Zeit erst auf, und hat noch eine sehr vage Bedeutung. Es gab, um das Ganze zu benennen, nur den dynastischen Gesichtspunkt: es waren les pays du duc. Aber zu gleicher Zeit war es doch den Zeitgenossen bewußt, daß sich hier ein Länderkomplex durch seine Eigenart gegen Frankreich sowie gegen das Reich abhob. Was diese Länder in den Augen der Zeitgenossen unterscheidet, das ist vor allem ihr Reichtum und ihre Ruhe. ‘Seit tausend Jahren, sagt Chastellain, sind diese Länder die volkreichsten des Abendlandes gewesen, die bestgebauten mit Festungen und Städten, die mit Gesetzen bestversehenen und versicherten, die am meisten dem Recht unterworfenen, die am meisten an den Handel gewöhnten usw.’ ‘Terres de promission’, nennt sie Commines, ‘comblés de richesses et en grand repos.’ ‘C'est en ce monde ung paradis terrestre,’ sagt Molinet.Ga naar voetnoot1 Unwiderstehlich steigt der Fürst dieser reichen Länder über seine Stellung als Lehensträger der Krone Frankreichs und des Heiligen Reiches hinaus. Eine Haltung, die man nicht anders als imperialistisch nennen kann, wird von der Kanzlei und den Hofchronisten geflissentlich kultiviert. ‘Non roy, mais de courage empereur’, nennt Chastellain einmal Philipp den Guten.Ga naar voetnoot2 Es hieß in den burgundischen Kreisen, Herzog Philipp habe dreimal die Kaiserwürde abgelehnt.Ga naar voetnoot3 In den Monographien zu den Königswahlen dieser Zeit, die mir zur Verfügung standen, findet sich darüber nichts, selbst nicht von einer Kandidatur des Burgunders.Ga naar voetnoot4 Ebenso hieß es, er habe die Herrschaft | |
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über Mailand, Epinal, Metz und Genua angeboten bekommen, aber abgewiesen.Ga naar voetnoot1 ‘Herzog von Gottes Gnaden’ nennt er sich. Auf dem Konzil von Basel fordert er für seine Vertreter den Vorrang vor den Kurfürsten.Ga naar voetnoot2 Nichts kränkt ihn peinlicher als die Versuche von seiten der französischen Krone, die Gerichtsbarkeit des Parlements von Paris über ihn und seine Untertanen zu behaupten.Ga naar voetnoot3 Niemand, sagte der Herzog, würde es wagen, das Gehege seiner Macht zu überschreiten, wenn er es nur mit einem dünnen seidenen Faden umzäune.Ga naar voetnoot4 Der besondere Nachdruck, mit welchem Herzog Philipp sich wie den berufenen Vorkämpfer der bedrängten Christenheit hinstellte, der Reklamename le grand duc du ponant, der, wie die Hofhistoriographen behauptenGa naar voetnoot5 für ihn im Orient galt, das alles soll dazu dienen, um die Stellung Burgunds als neue selbständige Macht in Europa zu akzentuieren. Es ist allgemein bekannt, daß man zweimal versucht hat, die Ansprüche der burgundischen Dynastie auf Souveränität in einen richtigen Königstitel umzusetzen. Beide Male ohne Erfolg. Das erste Mal, um 1447, kam es nicht weiter als zu diplomatischen Verhandlungen zwischen Brüssel und Wien, das zweite Mal scheiterte die Sache fast dramatisch in der berühmten Zusammenkunft von Trier, 1473. Was an diesen Krönungsplänen für unser Thema besonders wichtig ist, ist die Frage, wie man sich die Zusammenstellung und den Namen des neuen Königreiches gedacht hat.Ga naar voetnoot6 Bei den Verhandlungen von 1447 sollte es Königtum Brabant heißen. Von Reichslehen sollte es das Herzogtum Brabant selbst, Friesland, Hennegau, Holland, Seeland und Namur umfassen, daneben aber sollten noch eine ganze Menge von Reichslehen dieser neuen Krone untertan sein: Geldern, Jülich, Kleve, | |
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Mark, Berg, Mörs, Lothringen und Bar usw. Die herzogliche Diplomatie hatte also damals offenbar eine großartige Beraubung des Reiches im Sinne, die einer Liquidation des letzteren gleichkam. Dazu jedoch war, begreiflicherweise, Kaiser Friedrich III. nicht bereit. Zu bemerken ist weiter, daß bei diesen Verhandlungen die Stellung Flanderns zur neuen Krone gar nicht erwähnt wird. Das ist natürlich, denn diese Frage ging nur für einen geringen Teil das Reich an. Die Tatsache aber, daß Philipps Königreich den Namen Brabant tragen sollte, nicht Flandern oder gar Burgund, beweist, daß er sich der Oberhoheit der französischen Krone für das - an sich doch bedeutendere - Flandern noch nicht zu entziehen wagte. Über die geheimen Besprechungen von 1473 in Trier ist nie volle Klarheit geworden. Allem Anschein nach ist die Rede gewesen von einer Auflösung der burgundischen Länder in zwei Königreiche. Das eine sollte Burgund heißen, und sich ausdehnen über das Herzogtum des Namens, die Freigrafschaft, Luxemburg, Artois, Flandern, und die Bistümer Chalon, Toul und Verdun. Also diesmal sollten Kronund Reichslehen ohne Unterschied zusammengefügt werden. Für das andere Königreich, das Brabant, Limburg, Namur, Hennegau, Geldern, Holland, Seeland, Friesland, und die Bistümer Lüttich, Cambray und Utrecht in sich aufnehmen sollte, war der Name Friesland ausersehen. Also der alte Name, der noch immer als einer der 14 oder 17 Königreiche Europas galt, und der am besten die Sonderstellung der nördlichen Niederlande dem übrigen Deutschland gegenüber ausdrückte. Es war ein kühner Gedanke: Brabant, dessen Herzöge noch den Titel des alten Niederlothringens führten, und Hennegau, das rein wallonische Adelsland, sollten sich dem Namen des alten Seevolkes von Fischern, Bauern und Seefahrern unterstellen! Offenbar kam es darauf an, einen alten, von der Überlieferung geheiligten Königstitel wiederaufleben zu lassen. Dazu taugte Burgund, dazu taugte Friesland, nicht Flandern, nicht Brabant. Als König von Burgund und Friesland beschwor Karl der Kühne gegen die französische Krone das frühe Mittelalter wieder herauf. Es mag uns befremden, daß man, um alte historische Tendenzen wieder aufleben zu lassen, sich bei diesen Plänen nicht lieber auf das alte Stammesherzogtum Niederlothringen, oder auf das Karolingische Mittelreich, oder gar auf Austrasien berufen hat. Ist dem Hause Burgund denn nicht bewußt gewesen, daß es im Begriff stand, dieses Mittelreich zwischen Deutschland und Frankreich auferstehen zu las- | |
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sen, und lag nicht die stärkste Begründung seines Strebens eben in dieser Erneuerung eines schon Dagewesenen? - Die Antwort lautet: erstens sind damals die Vorstellungen von der karolingischen und merowingischen Vergangenheit, sowie von der frühen deutschen Kaiserzeit, äußerst verschwommen und phantastisch gewesen. Sie waren außerstande, einen politischen Gedanken historisch zu befruchten. Zweitens aber liegt die Erklärung schon im Vorhergesagten: der Name Lothringen als Königreich hatte zu schwache Wurzeln in der Überlieferung, um als historischer Titel brauchbar zu sein, und als Stammesherzogtum kam es dazu nicht in Frage. Dagegen erinnerte man sich an burgundische und friesische Könige, ob auch aus grauer Vorzeit. Der Plan eines burgundisch-friesischen Königreiches ist also ganz folgerichtig und in einem historischen Sinne gefaßt worden. Daß man sich bei dieser Teilung um ethnisch-nationale Gesichtspunkte nicht gekümmert hat, braucht kaum erwähnt zu werden. Sprachgrenzen spielten damals in der Politik noch keine Rolle, und Fragen von nationalen Minderheiten gab es nicht. Und doch war ein scharfer Gegensatz von deutschem und welschem Wesen seit Jahrhunderten lebendig, so wie er aufgeflammt war in der flämischen Erhebung von 1302, als man in Brügge die Franzosen die Wörter schild en vriend aussprechen ließ. Es waren spontane Regungen des Gefühls, sie wirkten unter der Oberfläche; als wichtige soziale und politische Faktoren hatte man sie noch nicht erkannt, und trug ihnen keine Rechnung. Während sich in dem Geschick Karls des Kühnen das Los des germanisch-romanischen Zusammenlebens in Europa auf Jahrhunderte entschied, haben sich die Zeitgenossen von dieser ethnischen Seite des großen Geschehens noch gar keine Rechenschaft geben können. Immer wieder drängt sich die Frage auf: wie, wenn die Sachen ein klein wenig anders gelegen hätten? Und wir kommen abermals nicht los von der Überzeugung, daß der ganze Verlauf an den persönlichen Eigenschaften der handelnden Figuren gehangen hat. An Karl dem Kühnen selbst, aber an ihm nicht allein. Nimm beliebig welchen Mitspieler im großen Drama heraus, zum Beispiel den Nikolaus von Diesbach, den Berner Diplomaten, der zuerst begriffen hat, daß die Eidgenossen sich mit Frankreich verstehen müßtenGa naar voetnoot1, - und Karl findet | |
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keine geschlossene Gegnerschaft in der Schweiz, kein Grandson und Murten. Aber immer wieder zeigt sich auch gleich die Sterilität solcher hypothetischen und retrospektiven Geschichtskorrektionen: was sich, bei Wegfall auch nur des geringsten Gliedes in der Verkettung, dann wohl ereignet hätte, das bleibt für uns in absolute Finsternis verhüllt. Wie haben eigentlich im Kopfe Karls des Kühnen die großen Herrschaftsträume, bei deren Verfolgung er gefallen ist, ausgesehen? Man kann sich das Ganze so leicht als einen geschlossenen politischen und diplomatischen Plan zurechtlegen. Mit der Karte Europas vor uns, und mit der ganzen Geschichte vor und nach seiner Zeit im Gedächtnis, sieht die Politik Karls des Kühnen, wenn auch vermessen, wie es ihm die Nachwelt in seinem Beinamen Temerarius aufgedrückt hat, im Grunde doch sehr folgerichtig aus. Sein Reich war ein politisches Monstrum. Nicht weil es sich aus romanischen und germanischen Teilen zusammensetzte, sondern weil es sich weder aus Frankreich noch aus dem Reiche gelöst hatte, und weil Länder der Krone wie des Reiches die Niederlande vom eigentlichen Burgund trennten. Es konnte nicht leben, wenn sich nicht eine geschlossene Verbindung zwischen diesen beiden Landesteilen herstellen ließ. Der Feind, der der Verwirklichung einer solchen Verbindung entgegensteht, heißt Frankreich. Damit waren zwei Objekte der burgundischen Politik gegeben, das negative antifranzösische, und das positive der Gewinnung sämtlicher Maas- und Moselterritorien. Beide haben die Herzöge in völliger Bewußtheit verfolgt. Schon Philipp dem Guten war es gelungen, das Herzogtum Luxemburg zu erwerben. Karls erste Jahre brachten ihm die Macht über das Bistum Lüttich. Als Abschluß gen Norden fehlten ihm noch Geldern und das uneroberte Friesland, von denen er ersteres gewann. Um Frankreich lahmzulegen, geht Karl Bündnisse ein mit dem Hause Aragon, in Spanien und in Neapel. Herzog Sigmund hat ihm die österreichischen Besitzungen im Ober-Elsaß verpfändet. Ende 1473 hat er sich vom Herzog von Lothringen die Festungen dieses Landes ausliefern und den freien Durchzug gewähren lassen. Dann ruft er die englische Gefahr gegen Frankreich auf. Unter den Ländern, die ihm sein Vertrag mit Eduard IV. verspricht, sind Bar und Champagne, frei von jeder Oberhoheit der französischen Krone. In Savoyen ist er Meister. Scheint da nicht das große Mittelreich von der Nordsee bis Italien im Begriff zu erstehen? Es bedarf nur einiges Talent im Felde, ein kühles Abwarten des rich- | |
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tigen Augenblicks, ein wenig Glück, und alles muß Karl gelingen! Da aber sitzt er, während die Engländer in Frankreich stehen, vor Neuß, und verpaßt diesen Augenblick. Angesichts eines so unbegreiflichen Fehlers fragt es sich, ob Karl die große Aufgabe des burgundischen Mittelreiches je in voller Klarheit gesehen hat. Es ist zu bezweifeln. Als wohlerwogenes, politisches Endziel anscheinend nicht. Die Zeitgenossen wissen nicht davon. Sie wissen von Karls Bewunderung der antiken Helden, die er nachzuahmen wünscht, von seiner hohen Ruhmsucht. ‘Car rien ne lui estoit trop grand, ne trop pesant.’Ga naar voetnoot1 Olivier de la Marche erzählt, Karl habe ihm selbst gesagt, sein Endziel sei, wie das seines Vaters, gegen die Ungläubigen zu ziehen, ‘als Führer der anderen Fürsten, denn er wollte Niemandem Untertan sein’.Ga naar voetnoot2 In seinen Bündnissen mit den Mittelmeermächten ist tatsächlich immer vom Türkenkrieg die Rede.Ga naar voetnoot3 Sehr wahrscheinlich hat sein politischer Lebenszweck in seinem Bewußtsein nur diese bildhaften Formen angenommen: der Ruhm Alexanders und Hannibals, die Ehre seines Geschlechts in der Rache gegen Ludwig XI., das Herrschaftsideal, nicht mehr Lehnsfürst zu sein, das heilige Ritterideal Jerusalem. Aber aus diesen vier Motiven hätte er beinahe ein anderes Europa gebaut. Zum Bauen war er nicht geeignet. Seine Leidenschaft reißt ihn fort, stolpernd von Fall zu Fall, am Ende geistesverwirrt und sich jählings in sein Verderben stürzend. Nicht der bewußte Gedanke einer politischen Mission, nur sein Stolz hat ihn geführt. Wir mögen vorgeben, die pragmatische Geschichtsbetrachtung überwunden zu haben, immer noch haftet an jeder wahrhaft wichtigen historischen Figur etwas vom Exempel. Karl der Kühne ist der Hohes wollende Herrscher, der sein eignes Reich verdirbt und an dessen Schicksal das Los von Staaten und Nationen der Folgezeit hängt. Seine historische Figur stellt sich in eine Reihe mit jenem anderen Karl, dem XII. von Schweden, mit dem er mehr als einen Zug gemein hat. Schon für die Geister des endenden 15. Jahrhunderts hat Karls Bild diesen Zug des Beispielhaften angenommen. Und zugleich auch einen gewissen elegischen Zug. Mit all seinen Fehlern und trotz all dem Unglück, das er über seine Länder gebracht hatte, blieb er dort im Gedächtnis ‘comme le vrai et hardi champion de la chose publique’.Ga naar voetnoot4 Man hatte auch lange Zeit an seinen Tod nicht glauben wollen. Viele | |
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Wallfahrer und Reisende wollten ihn gesehen haben: in Metz, in Rom, in Jerusalem, in Portugal oder in England.Ga naar voetnoot1 Noch 1482 hieß es, er lebe als Büßer in Bruchsal in Schwaben.Ga naar voetnoot2 Man kaufte und verkaufte auf die Frist seiner Wiederkehr.Ga naar voetnoot3 Der Feind selbst, der ihn bezwungen hatte, Herzog René von Lothringen, setzte ihm in Nancy die Grabschrift, darin es heißt:
O tibi qui terras quaesisti Karole coelum
det Deus et spretas antea pacis opes!Ga naar voetnoot4
‘Von Dichtern und Novellisten verwüstet’ nennt Burckhardt in dem vorhin erwähnten Briefentwurf die Geschichte Karls des Kühnen. Sein Bild ist der romantischen Interpretation anheimgefallen, nicht bloß bei Dichtern und Novellisten, auch bei den Historikern selbst. Und doch ließ sich aus den alten Chronisten der Burgunderzeit, ungeachtet vieler geistigen Anomalien, eigentlich ein überzeugendes Bild dieses Menschen ablesen. Den äußerlichen Typus hat er von seinen portugiesischen Vorfahren: dunkle Hautfarbe, schwarze Haare, starken Bartwuchs. Er ist nicht groß, mit gedrungenen Schultern, wohlbeleibt, im Gehen etwas vornübergebeugt, der Blick ist zum Boden gewandt. Aber die Augen sind ‘hell und lachend und engelklar’, ‘vairs et rians et angéliquement clairs’. Er spricht gut, kann aber bisweilen nicht anfangen. Als Knabe war er überaus sanft und gefällig, pflichtgetreu und ernst, lernte gut.Ga naar voetnoot5 ‘Oncques l'aignel qui paist au pré,
ne fut plus doux que Charollois.’Ga naar voetnoot6
Er ist sehr musikalisch, obwohl er eine schlechte Stimme hat, und macht selbst Chansons und Motette.Ga naar voetnoot7 Er liebt Schiffe und Meeres- | |
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fahrten, besonders bei Sturm.Ga naar voetnoot1 Er beschenkt jeden Armen, ist zu jedem leutselig. Er ist wahrheitsliebend und offenherzig. Er flucht nicht, und hält seiner heißgeliebten Gemahlin Isabella von Bourbon die eheliche Treue.Ga naar voetnoot2 Er hat eine ganz außerordentliche Arbeitskraft und Arbeitslust, kennt keine Ermüdung.Ga naar voetnoot3 Er war furchtlos und gewandt, trotzdem war er dem Kriege und allem, was damit zusammenhängt, anfänglich ganz abgeneigt.Ga naar voetnoot4 Bei all diesen vortrefflichen Eigenschaften fehlt ihm aber das geistige Gleichgewicht. Von seiner Mutter hat er sein bedenklich argwöhnisches Wesen.Ga naar voetnoot5 Schon früh verfällt er bisweilen in fast krankhafte SchwermutGa naar voetnoot6 und niemand kann ihn von einem gefaßten Entschluß abbringen. Er hört auf keinen Rat.Ga naar voetnoot7 Was ihm fehlt, ist Urteil und Klugheit, Commines hat es richtig gesehen.Ga naar voetnoot8 Er fordert in allem eine strenge und peinliche Ordnung, in seinem Hofstaat und in seinem Dienst.Ga naar voetnoot9 Er wird von einem Wahn fürstlicher Hoheit getragen, eng verbunden mit einem unglaublichen Starrsinn. Sein hochmütiges Wollen schiebt sich sozusagen vor seine Vernunft, und zwingt ihn zum Handeln ohne Einsicht oder Überlegung. So wird er zum Mann, ‘den sein Unglück führt’Ga naar voetnoot10, - ins Verderben. Man hat den Eindruck, als ob nur eine leichte Entgleisung des Wesens ins Pathologische Karl den Kühnen verhindert hat, einer der großen Staatenvollender der Geschichte zu sein.
Burckhardts unvollendetes Programm zu einer Geschichte Karls des Kühnen endete mit den Worten: ‘die Lücke, welche der burgundische Hof und Staat als solche ließ’. Da bricht der Brief ab. Über diese Lücke ist Burckhardt am späten Abend ins Nachsinnen geraten, und da hat ihm plötzlich die eben niedergeschriebene Skizze nicht mehr gefallen... Sinnen wir unsererseits noch ein kleines Stück weiter darüber nach. Was für eine Lücke kann Burckhardt gemeint haben? Was war es, | |
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das mit dem Tode Karls des Kühnen gestürzt, verschwunden ist? - Die Möglichkeit des großen, selbständigen Mittelreiches romanisch-germanischen Volkstums, von der Nordsee bis an die Alpen, zwischen Deutschland und Frankreich. Es läßt sich kaum leugnen, daß diese Wendung des Schicksals Europas als Möglichkeit in der Hand des Burgunders gelegen hat. Es macht im Grunde nur einen metaphysischen Unterschied, ob man urteilt: sie konnte sich nicht verwirklichen, oder: sie hat sich nicht verwirklicht. Aber mit dem Fall des Hauses Burgund fällt nicht sein ganzes Werk. Von dem stolzen Bau, der vor genau einem Jahrhundert emporgeschossen war, wird nur das Herzogtum Burgund, - wenn man will Eckstein, aber nicht Zentrum - abgerissen. Als neues Burgund, dem die Freigrafschaft nunmehr nur ein Außenwerk bedeutet, stehen die Niederlande da: in romanisch-germanischer Zusammensetzung, zwischen Deutschland und Frankreich. Kann man hier von einer Lücke reden, ist es nicht vielmehr das Gegenteil? Unmittelbar jedoch nach Karls Tod entscheidet sich die Heirat der burgundischen Erbtochter Maria mit dem Sohne des Kaisers, Maximilian. Diese neue Wendung, - auch diese ja nur eine aus vielen möglichen, es waren Freier genug da, - hat für den weiteren Verlauf der romanisch-germanischen Beziehungen unabsehbare Bedeutung gehabt. ‘Ein Ereignis, - sagt Johannes Haller in dem schon erwähnten Buche, - von weltgeschichtlicher Tragweite, diese burgundisch-österreichische Heirat. Am Ende des 17. Jahrhunderts hat man es gewußt und ausgesprochen (hier ist eine Stelle in Pierre Bayles Dictionnaire historique gemeint), daß alle Kriege, von denen Europa seit mehr als 200 Jahren wie ein Kranker vom Wechselfieber geschüttelt wurde, dort ihren Anfang genommen haben. Wir aber dürfen weiter gehen: in ununterbrochener Verkettung von Ursachen und Wirkungen erstrecken sich ihre Folgen bis auf den heutigen Tag, und noch ist das Ende nicht abzusehen. Das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland hat sich seitdem nach und nach gründlich verändert, der Same der deutsch-französischen Erbfeindschaft ist im Jahre 1477 gestreut worden.’Ga naar voetnoot1 Ein Unglück für die Welt also, die Heirat Maximilians mit Maria? Wieder gebietet uns Klio selbst das Schweigen: wir wissen ja nichts von dem, was andere Lösungen gebracht haben könnten; das Ungeschehene ist Leere und Finsternis. Höchstens mag man sich vorstellen, | |
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daß jede andere Wahl eines Gatten für die Erbtochter Burgunds Frankreich das Spiel leichter gemacht hätte. In den letzten zwanzig Jahren des 15. Jahrhunderts hat sich in den Niederlanden ein vorher noch nicht gewesenes gemeinsames Vaterlandsgefühl geregt, das sich nach Burgund benannte. Zu gleicher Zeit wird der germanische Teil des Landes: Brabant, Flandern, Holland, Seeland, sich seines Übergewichts einigermaßen bewußt, aber ohne es als einen Gegensatz zum französischen Charakter der Regierung zu empfinden. Endlich findet man, wenigstens in den Hofkreisen, eine neue Begeisterung für das deutsche Reich, dem man schon so lange gründlich entfremdet war. Der Pikardier Jean Molinet, Nachfolger Chastellains als burgundischer Hofhistoriograph, ist der Exponent dieser Gefühle. ‘Le très sainct aigle impérial’ gesellt sich für ihn als Symbol zu dem burgundischen Kreuze und dem Löwen.Ga naar voetnoot1 Molinet ist vielleicht der erste gewesen, der eine Ahnung gehabt hat von einer nationalen Frage, welche hieß: Eintracht und Einverständnis zwischen ‘Dietsch’ und ‘Walsch’, als Vorbedingung zum Siege der burgundischen Sache. ‘Et se Walons sont unys aux Flamens,
Par bonne amour, âme ne leur peult nuyre.’Ga naar voetnoot2
Oder mit einem Anflug von humanistischer Ausdrucksweise, hier nicht ohne Bedeutung: ‘Dieu qui garde soir et main
Et Francigene et Germain.’Ga naar voetnoot3
Unter den Ehrennamen, die er dem gefallenen Karl dem Kühnen gibt, ist auch le resveil de GermanieGa naar voetnoot4. Das war, vom burgundischen Standpunkte aus, merkwürdig falsch gesehen, denn wenn der Herzog Deutschland aufgeweckt hatte, so tat er dies gegen sich selbst. Aber es zeigt, daß Molinet doch das dunkle Gefühl hatte, daß seit der Katastrophe von Nancy etwas von einer germanischen Gegenströmung im Gange war, die dem burgundischen Staatskörper in seinem Kampfe | |
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gegen Frankreich neue Kräfte lieh. Das neue Burgund in der Hand Maximilians, das von 1477 bis 1559 die Bürde der Abwehr Frankreichs im Norden trägt, und sich gänzlich von der Krone lossagt, steht unter dem Glanze des heiligen Reiches.
Hier erweitert sich die Frage, welche wir bisher auf das Politische beschränkt haben, zu einer kulturhistorischen. Was hat die Burgunderherrschaft in den Niederlanden für die Entwicklung der Kultur bedeutet: und zwar der französischen, der niederländischen, der deutschen, der abendländischen im allgemeinen? Hat dieses Burgund, außer staatlichem, auch kulturell Eigenes geschaffen? Selbstverständlich hat nicht die Dynastie als solche Kultur geschaffen, aber ihre Macht und ihr Glanz haben kulturelle Tendenzen konzentriert und zum Ausdruck verholfen. Das Kulturleben des Burgunderreiches von etwa 1400 bis 1550 zeigt ganz zweifellos ein eigenes Gesicht. Wir versuchen diejenigen Züge hervorzuheben, wo sich die Korrelation der staatlichen Zusammenfassung mit der kulturellen Entfaltung am deutlichsten verrät. Da kann man vielleicht zwei Ergebnisse allgemeiner Art vorwegnehmen. Das eine heißt: niemals und nirgends hat sich seit dem Ende des Mittelalters germanischer und romanischer Geist wieder so innig verbunden wie in diesen Niederlanden des Hauses Burgund, wo urwüchsige niederdeutsche Kraft in französischer Form Ausdruck fand, und umgekehrt ein germanisches Volksgebiet durch die enge Berührung mit romanischer Kultur seine Prägung erhielt. Die andere allgemeine Feststellung ist folgende: von allen Ländern des damaligen Europas haben die burgundischen Niederlande am folgerichtigsten und stilvollsten die mittelalterliche Kultur zu Ende geführt. Aus den zur Neige gehenden Formen des Mittelalters hat sich hier noch einmal ein geschlossener Lebensstil gebildet, der auf kurze Zeit für Deutschland, für England und für Spanien - am wenigsten für Frankreich -, vorbildlich wurde. Wie sah denn diese burgundische Kultur, dieser burgundische Lebensstil aus? Die Formen sind altertümlich, archaisierend. Das geistige Bestreben bedeutet Repristination, Wiederherstellung eines alten Ideals. Es laufen klassische Aspirationen hindurch, aber im Grunde gilt es dem Wiedererleben eines phantastischen Mittelalters selbst. Man wäre versucht, es eine düstere Renaissance und eine primitive Romantik zu nennen. Man hält krampfhaft fest an allem, was | |
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noch vom schwindenden Zeitalter des spätgotischen Geistes zu halten schien. Man bannt das Leben in eine Illusion überkommener Formen.Ga naar voetnoot1 In dieser Sphäre nun gibt der Hof ganz bestimmt den Ton an. Der steife Ernst, die majestätische Würde, das pompöse Zeremoniell, wie sie uns aus den beiden Klassikern der Hofetikette, Alienor de Poitiers und Olivier de la Marche entgegenklingen (letzterer beschrieb den Hofstaat für den englischen König), es ist alles das Haus Burgund selbst. Das Ideal fand den vollsten und wichtigsten Ausdruck im Orden des Goldenen Vließes. Konnte auch für die Zeitgenossen die politische Absicht dabei noch so durchsichtig sein, die Stiftung des Ordens bedeutet doch an erster Stelle die Formgebung eines höfischen, dynastischen, staatlichen und sozialen Ideals, in dem sich ritterlich-romantische, kirchliche und antike Motive seltsam durchdringen. Vließorden und Kreuzzugsidee, der Anspruch auf den Ruhm, Retter der Christenheit zu sein, das ist das Programm Burgunds. Behalten wir im Auge: der Fürst, der zweimal mit dem Kreuzzug Ernst machen wird, ist nicht Philipp der Gute, sondern Karl V., der letzte Burgunder, wenn er auch nach Österreich hieß. Orden und ritterliche Gelübde, Turniere und Hoffeste, das sind die Herrlichkeiten, die fremde Edelleute von überall her sich anzusehen und womöglich mitzuspielen kommen, wie der gute Böhme Leo von Rozmital und der schwäbische Ritter Jörg von Ehingen. Stilvoller Sport und schöne Phantasie! Aber die Perle der Pastiche des fahrenden Rittertums, Jacques de Lalaing, wird von einer Kanonenkugel hinweggerafft. All dies, wird man sagen, ist aber nicht das wirklich bedeutende der burgundischen Kultur. ‘Pompes et beubans’, eitler Prunk und schlimme Verschwendung, sagen kopfschüttelnd die Zeitgenossen selbst.Ga naar voetnoot2 Ganz richtig, aber es zeigt uns eine Tendenz, einen Ton, welche für das Verständnis dieser Kultureinheit wichtig sind. Es fragt sich, ob diese Einheit der Kultur durch eine ganz flüchtige Betrachtung von Kunst und Literatur sich noch einigermaßen näher | |
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bestimmen läßt. Sprechen wir also noch eine Weile vom Stil als solchen, und von der Stimmung dieser Kultur. Stilisierung des Lebens und seiner Ausdrucksformen, im Aesthetischen wie im Ethischen und Intellektuellen, ist die Signatur des ganzen Mittelalters, vor allem des 13. Jahrhunderts, in welchem die mittelalterliche Kultur auf allen Gebieten ihren Gipfelpunkt erreicht. Im 15. Jahrhundert wiederholt sich dieser Prozeß der Stilisierung in einer abgeleiteten und verspäteten Form, und ganz auffallend konzentriert in den burgundischen Niederlanden. Nebst den schon erwähnten Betätigungen in Ordensstiftungen usw. kann man diesen Prozeß außerhalb des ästhetischen Gebietes wiederfinden in der Devotio moderna als Stilisierung der religiösen Innigkeit, und vielleicht auch in den typisch burgundischen Kollegialbehörden des Regierungssystems, die nach einer verbreiteten wenn auch umstrittenen Ansicht für die anderen habsburgischen Länder vorbildlich gewesen sind.Ga naar voetnoot1 Den Übergang von der sozialen zur ästhetischen Stilisierung bilden die Rhetorikerkammern, diese überaus typische Form der geistig-geselligen Stilisierung, gewiß nicht Produkt der burgundischen Staatskunst oder des burgundischen Hofes, aber heimisch eben in diesem Gebiet, das Burgund zusammenschweißte, Burgund, das selbst gewissermaßen eine politische Stilisierung darstellte, mit seinem Rachemotiv gegen das französische Königshaus, und seiner Pflege des Ideals vom Schutze der Christenheit. Das staatliche Verhältnis dieser Länder war in hohem Grade geeignet, den allgemeinen Trieb zur sozialen Stilisierung zu aktivieren. Wohlfahrt und Ruhe waren hier während beinahe hundert Jahren größer als irgendwo sonst. Die mittelalterliche Tendenz zur Ordnung und Formgebung aller Verhältnisse in Orden, Kollegien und Bruderschaften konnte sich hier noch einmal ungestört auswirken. Hier spielt, mehr als irgendwo sonst, der letzte Akt des Mittelalters. Wie ein geschlossenes Stück Kulturleben steht die reiche Entfaltung von Kunst und Literatur in den burgundischen Niederlanden von Philipp dem Guten bis Karl V. vor unserem Auge. Fragen wir uns: wie soll die Stileinheit heißen, in der sich Dichtkunst, Malerei, Skulptur, Musik und Baukunst des Zeitalters verbinden? Auf welchen Nenner läßt sich die gemeinsame Eigenart dieser Leistungen bringen? Wer das Gesamtbild dieser Kulturentfaltung aufrufen will, erweckt | |
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in seinen Hörern wohl allererst die Vorstellung der Malerei, von den Van Eyck bis zu Breughel und Quinten Massys. Eben hat diese Kunst unter den Händen des hochverdienten und feinsinnigen Meisters Max Friedländer ihre monumentale, und vorläufig wohl abschließende Darstellung und Deutung gefunden. Auf unsere Frage jedoch erklingt die Antwort nicht am deutlichsten aus der Malerei. Das Stilprinzip der burgundischen KunstGa naar voetnoot1 spricht viel eindeutiger und klarer aus der Architektur, der Musik und der Literatur als aus den im engeren Sinne bildenden Künsten. Das rührt daher, wenn ich es richtig sehe, daß dieses Stilprinzip vorwiegend ornamentaler Natur ist. Diese Kunst entfaltet ihren Stil nicht dort am vollsten, wo sie, wie in der Malerei, Wirklichkeit abzubilden oder phantastisch Geschautes auszudrücken hat, sondern wo sie, Spätkunst wie sie ist, das reiche Spiel mit Motiv und Ornament zu spielen hat, das ihr Musik und Baukunst, aber auch die Poesie und die Prosa erlauben. Einfassung eines einfachen Gedankens in einen ornamentalen Rahmen, Rhythmisierung der Rede, mit Wiederholung und Verschlingung, das Wort, welches sich wie ein architektonisches oder musikalisches Motiv durch die Rede rankt, mit Wort- und Klangspiel, das ist burgundische Literatur. Die schwere, funkelnde Prosa eines Chastellain wirkt ganz wie Brokat. Weihevoll und gravitätisch, ein vollendeter Hofstil, feierlich und oratorisch klingt seine Sprache. Ob die schönen Reden, die er seinen Personen in den Mund legt, den Umständen angemessen sind, kommt kaum in Frage. Die Königin von England, Margarete, auf ihrer Flucht im Walde, rührt den Straßenräuber durch eine Anrede von mehreren Seiten. ‘O homme né de bonne heure, si tu, après tant de maux que tu peux avoir faits, te convertir puisses à faire un bien dont par tous siècles sera mémoire.’ Auf diesem Thema ‘O homme’ ist die ganze Rede, wie eine musikalische Komposition, aufgebaut.Ga naar voetnoot2 Mit den Mitteln des Wortspiels und der Wiederholung, die in den Wettgedichten der braven Rhetoriker zur fadesten und holperigsten Künstelei verdorrten, wußte ein Dichter wie Jean Lemaire de Belges rein formelle Schönheit von tadelloser Vollendung und fast elegischem Tone zu schaffen. | |
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Wir sollten hier von der Musik reden, aber ich wage darüber nur einige ganz allgemeine Worte zu sagen, weil mir jede technische Kenntnis dazu fehlt. Die Frage inwieweit man früher die Bedeutung dieser sog. altniederländischen Musik für die Erneuerung der Kunst überhaupt überschätzt hat, kann hier auf sich beruhen bleiben. Was die Benennung Altniederländer anbetrifft, so kann man diese ruhig beibehalten, wenn man nur nicht vergißt, daß ‘Niederlande’ im 15. Jahrhundert, wo das Wort allgemein gebräuchlich wurde, gar nicht eine deutschsprachliche Einheit bezeichnete, sondern ebensogut Artois, Hennegau, Lüttich, Luxemburg umfaßte wie Flandern und Holland. Die Tatsache also, daß es unter den bekannten Meistern mehr Wallonen als ‘Dietsche’ gibt: hier Okeghem, Obrecht, Willaert, dort Binchois, Dufay, Busnois, des Prés, Clemens non papa, Orlandus Lassus, Goudimel - verbietet uns keineswegs, sie alle Niederländer zu nennen. Noch richtiger wäre es vielleicht, diese Musik nach Burgund zu benennen, wenn auch unter ihren Vertretern kein einziger echter Bourguignon aus dem Herzogtum oder der Freigrafschaft gewesen ist. Denn sie entsteht nicht nur im Reiche Burgunds, sondern das Haus Burgund hat sie großgezogen. Sie kam in den reichen und lebendigen Städten von Arras bis Utrecht auf. Dann aber zog der herzogliche Hof in Brüssel, Lille oder Hesdin sie mächtig heran, und wirkte organisierend und konzentrierend. Die kirchlich-weltliche Musik brauchte damals, und noch lange Zeit, einen Hof als Pflegestätte. Die Gunst der Herzöge hat die niederländischen Sänger und Komponisten überall berühmt und gesucht gemacht. Musikalischer Ruhm wird von allen Künsten am leichtesten international; der Verbreitung des musikalisch Schönen sind keine Schranken gezogen; bis nach Portugal und Rom wanderten die ‘Flamands’ aus. Diese Musik dürfte auch deshalb nach Burgund heißen, weil ihr Stil am allerklarsten das Gepräge dieser Formeneinheit trägt, die wir im speziellen Sinne, den wir zu umschreiben versuchten, burgundisch zu nennen wagen. In der endlosen Wiederholung der Themen, der Überladung des musikalischen Ornaments, der Verschränkung aller Motive, in dem strengen Bau sowie in der tändelnden Spielerei offenbart sich der ganze Geist dieses Spätstiles des Mittelalters, dem Burgund den Rahmen lieh. Auffallend verwandt mit der Musik ist in unserem Falle die Architektur. Nur hat hier der Hof und die Dynastie viel weniger anregend gewirkt als sowohl für die Musik wie auch für die Skulptur. Große | |
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Bauherren sind die Burgunderherzöge eigentlich nicht gewesen, und gerade ihre hervorragendsten Bauten sind nicht, oder nur sehr dürftig bewahrt geblieben. Die zahlreichen blühenden Städte sind die Pflegestätten der Baukunst gewesen, mehr oder jedenfalls typischer noch in ihren Rathäusern als in ihren Kirchen. Die Rathäuser in Gent, Middelburg, Brügge, Löwen sind alle Spätkunst. Namentlich das Rathaus in Löwen, mehr Reliquienschrein als Bauwerk, mehr Juweliersarbeit als Architektur, steht in seiner kaum mehr architektonisch wirkenden Geziertheit einer musikalischen Komposition der Zeit sehr nahe. Einmal jedoch hat das Herzogshaus selbst dem Baustil der Epoche den vollendetsten Ausdruck verliehen: in dem Mausoleum von Brou. Der Mannesstamm Burgund war damals schon längst erloschen. Margarete war es, die Tochter Maximilians und der Maria von Burgund, die es zum Gedächtnis ihres Gemahles, Philibert von Savoyen, weit weg von den Niederlanden bauen ließ. Margarete selbst könnte die Verkörperung des Begriffs Burgund genannt werden. Sie war es, die, da sie als verschmähte Königsbraut aus Frankreich in die Niederlande heimkehrte, den Bürgern von Valenciennes, die sie begrüßten, sagte: ‘Ne criez pas Noel, mais Vive Bourgogne!’Ga naar voetnoot1 Die Embleme des Hauses, das Andreaskreuz, die Vließkette mit dem Feuerschlag, haben den Baumeistern von Brou als die immer wiederkehrenden Motive gedient, um diese Stilsprache Burgunds in Stein reden zu lassen. In der Kirche von Brou trägt dieser Stil in seiner Spätzeit die reifsten Früchte. Was läßt sich nun in diesem Zusammenhang über Malerei und Skulptur noch sagen? - Beide, vor allem die Malerei, sprechen zum heutigen Geschlecht viel deutlicher und vernehmlicher als die Musik, die man nur selten zu Gehör bekommt, als die Literatur, welche nur der Fachmann liest, sogar als die Architektur, deren Denkmäler nicht überzahlreich sind. Sozial betrachtet, ist die Malerei weniger von der Burgunderherrschaft als solcher beeinflußt worden, als dies mit der Musik der Fall war. Wenn auch die Herzöge Gönner und Auftraggeber der Van Eyck und Rogier van der Weyden gewesen sind, und ebenso die großen Hofbeamten wie ein Rolin, Chevrot oder Pieter Bladelijn, so kann man doch zum Verständnis dieser Malerei vom Einfluß des Fürstenhofes leichter abstrahieren als es für die Musik oder selbst für die Literatur möglich ist. Hofkunst ist diese Malerei nicht geworden. | |
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Sie blieb, was sie in ihren Anfängen gewesen war, städtische Kunst, die selbst bürgerlich zu nennen ist, wenn auch oft Adlige Auftraggeber waren. Sie trat, als Ausdruck eines Zeitgeistes, nicht in den Bann der herzoglichen, französischen Hofgesellschaft. Damit ist zugleich gesagt, daß ethnographisch besehen bei der Malerei und Skulptur das umgekehrte Verhältnis vorherrscht als wir bei der Musik antrafen. Die Malkunst ist entschieden nördlich und überwiegend vom germanischen Elemente getragen. Neben Robert Campin, Simon Marmion, vielleicht Roger de la Pasture als Wallonen, stehen massenhaft die ‘dietschen’ Namen, Jan van Eyck an der Spitze, der auch im Hofdienst seinen flämischen Wahlspruch ‘Als ic can’ nicht aufgibt. Ästhetisch betrachtet, stellt uns die Malerei die Frage, ob ihre Stilqualitäten sich nahe genug mit denen der anderen Künste berühren, um sie ohne Vorbehalt auf diesen Nenner Burgund zu bringen, in dem Sinne, den wir diesem Worte geben möchten, und in welchem wir es zu fixieren versuchen. Vergleicht man sie mit der gleichzeitigen italienischen Malerei des Quattrocento, so stellen sich genug negative Merkmale heraus, um ihr abweichendes Wesen reden zu lassen. Die Steifheit, die Buntheit, die Altertümlichkeit, die Feierlichkeit und Schwere, welche ihr eigen sind, stempeln sie, meiner Ansicht nach, ohne weiteres zu Spätmittelalter und nicht zu Renaissance. Damit ist aber ihr eigentlicher Stilcharakter noch nicht angegeben. Das formale Stilprinzip der anderen Künste findet sich, scheint es mir, nur in beschränktem Maße wieder. Warum dies so sein mußte, haben wir schon mit einem Wort angedeutet: es liegt in der Aufgabe der Malerei und im Entwicklungsgrade ihrer Technik. Die Malerei konnte sich nicht nach Belieben in der Lösung ornamentaler Aufgaben ergeben wie die Musik und die Architektur. Sie hatte Kreuzabnahme und Verspottung, Drei Könige und Verkündigung darzustellen, und dazu Menschengesichter, in einfacher Naturtreue. Formale Stiltendenzen konnte sie dabei nur nebenbei verwenden. Nun war aber ihr technisches Können und ihre visuelle Begabung ungleich höher entwickelt als ihr Stilgefühl. Die Anordnung des Stoffes, die Form der Erzählung bleiben mangelhaft. Diese Disproportion ist es im Grunde, welche dieser altniederländischen Malerei ihren eigentlichsten Typus verleiht. Sie hat aber diese Eigenschaften weitgehend mit der oberdeutschen Malerei des Zeitalters gemeinsam. Burgundisch in unserem Sinne ist | |
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an ihr nur dasjenige, was neben Üppigkeit, Buntheit, Solennität, ihre Ornamentalität ausmacht. Diese wächst mit der Zeit, die spätesten Meister haben den Stil am vollständigsten durchgebildet. An der Skulptur gehe ich mit einem Wort vorüber, um mit der Malerei von der Betrachtung des Stiles zu derjenigen der Stimmung überzugehen. Claus Sluter ist unendlich wichtig, aber er steht zu einsam da, und sein Werk ist zu spärlich überliefert, um an ihm die Deutung eines ganzen Zeitstiles vornehmen zu dürfen. Und dennoch: was wäre, stilmäßig betrachtet, burgundischer, im Sinne, in dem wir das Wort hier verstehen, als die Propheten des Mosesbrunnens, und die Plourants an den Herzogssärgen? Eine Stimmung verbindet sämtliche Leistungen dieser Kunst und Literatur, so weit sie für den Stil, der ihnen eigen ist, repräsentativ heißen können: die Stimmung der Schwermut. Wirklich heiter ist diese Kunst nur in seltener Ausnahme. Nicht bloß die Passionsszenen und die Martyrien der Heiligen, auch die Porträts und die weltlichen Gegenstände haben etwas freudloses, das in der gleichzeitigen Literatur exakt wiedergespiegelt wird. Lachen sieht man auf diesen Gemälden nur die Schergen der Verfolger. Diese Schwermut hat ihre Nuancen; sie ist schaurig in Hugo van der Goes, elegisch in Gerard David, kränklich in Lucas van Leyden, titanisch in Pieter Breughel. Noch durchgehender erklingt dieser düstere Ton aus der Literatur: Chastellain, La Marche, Antoine de la Salle, melancholisch sind sie alle. Wenn denn diese Kulturentfaltung des endenden Mittelalters in den burgundischen Niederlanden durchaus eine nördliche Renaissance heißen soll, wie es so viele wollen, so sollte man hinzufügen: eine Renaissance in B-Moll. In ihrem gedämpften Ton, in ihrer würdigen Schwere und steifen Solennität ist diese Kultur unfranzösisch. Soll man hier von romanischer Form durchtränkt von germanischem Geist reden? Aber erstens ist die Form nicht rein romanisch, und zweitens ist, was man auch in dieser Hinsicht den Holländern nachsagen will, die flämische und brabantische Art niemals düster gewesen. Mit so einfachen chemisch-ethnographischen Metaphern erklärt man keine Kulturgeschichte. Wichtiger ist die Beobachtung der Tatsache, daß diese burgundische Kultur in der gleichzeitigen innerfranzösischen wenig Widerhall findet. Selbstverständlich stehen sich damals französische und burgundische Kultur nicht wie zwei isolierte Größen gegenüber. Dennoch ziehen die beiden feindlichen Mächte: der französische Staat und | |
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das Reich Burgund, die nationalen Kräfte seltsam auseinander. Das burgundische Muster fand in der französischen Literatur, um nur von dieser zu reden, wenig Nachahmung. Es bedeutete für Frankreich provinziellen Archaismus. Frankreich wandte sich dem herrlich strahlenden Italien zu, und empfand diesen burgundischen Prunkstil bewußt als das Veraltete, das Überwundene, wobei die politische Abneigung gegen alles, was jetzt Burgund hieß, also nach Verrat klang, das Ihrige getan haben mag. Die französische Literatur des 16. Jahrhunderts setzt keine burgundische Linie fort; weder Rabelais, noch Clément Marot, Marguerite de Navarre oder Ronsard wurzeln in burgundischer Tradition. Es ist, als hätte der französische Geist, in seinem Gegensatz zu dem abtrünnigen Burgund seine rein lateinischen Züge wieder akzentuiert. Die französische Kultur des Burgundererbes war doch zu stark brabantisiert, um noch als heimisch empfunden zu werden. Ihre Zukunft lag dort, wo sie sich gebildet hatte: in den Niederlanden selbst, in Rubens. Die Heirat Philipps des Schönen mit Johanna von Aragon hat gegen 1500 Habsburg-Burgund mit Spanien zusammengeführt, und zwar enger als sich bei dieser Eheschließung noch voraussehen ließ. In Karl V. ersteht noch einmal der vollendete Vertreter des burgundischen Prinzips, mit seinen altertümlichen Idealen und seinem schweren Geist.Ga naar voetnoot1 Die Spanier müssen doch von diesem burgundischen Wesen wenigstens einen Teil gut verstanden haben. Während des ganzen 16. Jahrhunderts haftete der Name Burgund noch an den Niederlanden. Wolfgang Keller in Münster hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß die Zeilen in King Lear: ‘the vines of France and milk of Burgundy’, und: ‘not all the dukes of waterish Burgundy’Ga naar voetnoot2 nur verständlich sind, wenn man bedenkt, daß für Shakespeare der Name Burgund die Niederlande bedeutete. Für die Niederländer selbst war es mehr als bloß ein Name. Ein neues, eigenes Vaterlandsgefühl, das romanische und germanische Volksteile umschloß, hatte sich unter dem Glanz und der Tradition des Hauses Burgund gebildet. Noch unvollkommen, zweisprachig, aber weder mehr französisch, noch reichsdeutsch, fühlte sich diese Nation | |
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in sich vereint. Im Namen dieses neuen Vaterlandes erhob sie sich gegen den Spanier. Im Kampfe brach die junge Einheit entzwei, nicht nach Sprach- oder Kulturgrenzen sondern wie es das Kriegs- und Staatsgeschick entschieden. Die Republik der Vereinigten Provinzen stand als ein wieder rein germanischer Staatskörper da. Die Freiheit und Selbständigkeit, die sie sich erkämpft hatte, wurde erst vor einem Jahrhundert auch Belgien zuteil. Im Norden war damals die burgundische Tradition schon längst ganz verschwundenGa naar voetnoot1, in Belgien aber regt sie sich bisweilen noch. War es doch gewissermaßen ein wiedererstandenes Burgund, dieses neue Belgien. Es ist kein Zufall, daß sich die jungen belgischen Nationalisten bisweilen auf Karl den Kühnen als ihren Helden berufen. Aber heutzutage erhebt sich gegen burgundische Tendenzen unumgänglich das Sprach- und Stammproblem. Das germanisch-romanische Verhältnis steht dort in offener Krise wie nie zuvor.
Mit dem Namen Burckhardt, mit dem ich begonnen habe, will ich auch schließen. Diesmal aber handelt es sich nicht um den großen Jacob. Im Anzeiger für schweizerische Altertumskunde veröffentlichte 1931 Rudolf F. Burckhardt eine Studie ‘Über vier Kleinodien Karls des Kühnen’. Aus der Beute von Grandson gelangten sie an die Stadt Basel; sie trugen alle einen Namen: die wisse rosen, die drye brueder, das federlin, das gurttelin. Die Stadt ließ von den vier Schmuckstücken farbige Miniaturen in Originalgröße anfertigen, und die einzelnen Edelsteine von Sachverständigen untersuchen, beschreiben und schätzen, um die kostbaren Juwelen nach auswärts anbieten zu können, ohne sie selbst aus dem Rathausgewölbe entfernen zu müssen. Der Käufer blieb nicht aus. Es war Jacob Fugger, der Reiche, mit seinen Brüdern. 1504 wurde der Kauf abgeschlossen, der Preis war 40200 Gulden. Die Fugger hatten eine Spekulation im Sinn, die auf die Prachtliebe Habsburgs abgesehen war, aber fehlschlug. Die ‘drei Brüder’ wurden 1543 an Heinrich VIII. von England verkauft. Jetzt sind die Kleinodien alle spurlos verschwunden, wohl in ihre Bestandteile aufgelöst und verschollen. Die genauen Abbildungen kann man sich beim Artikel Rudolf | |
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Burckhardts oder im Basler Museum selbst ansehen. Perlen, Diamanten und bleiche Rubine, sog. Balais, von 2 bis 3 Zoll Größe. Die Einfassung hat Stil, aber einen schwerfälligen. Das Ganze ist prachtvoll, plump und ein wenig protzig. ‘Pompes et beubans’ eitel Gepränge und Glorie, würde der Höfling Olivier de la Marche gesagt haben. Diese großen Juwelen wirken wie symbolisch für das Haus Burgund: für sein schnelles Wachstum als Parvenü unter den Fürsten Europas, für seinen Reichtum, für seinen Stil, und für seinen Fall. Wenn Grandson nicht verloren wäre, wo wären sie jetzt? Habent sua fata... nicht bloß die Bücher, auch die Kleinodien und auch die Reiche. |
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