Verzamelde werken. Deel 7. Geschiedwetenschap. Hedendaagsche cultuur
(1950)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekendVerzameld werk VII
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Geistige zusammenarbeit der völkerGa naar voetnoot*Geistige Zusammenarbeit, welche die Grenzen von Staat, Rasse oder Nation überschreitet, ist sicherlich nichts Neues. Im Gegenteil - die meisten wirklich wichtigen Siege der Kultur sind auf den Wegen der ‘intellektuellen Kooperation’ gewonnen worden. Zunächst und vor allem gilt dies vom Christentum. Ebenso war es mit dem bewondernswerten System der Theologie und Philosophie der Fall, das man Scholastik nannte und das ein Produkt der intensivsten Zusammenarbeit italienischer, französischer, deutscher, spanischer und englischer Denker war. Die Kunst entwickelte sich während des ganzen Mittelalters durch eine Art Transfer und durch die Anleihe geistiger Kräfte und künstlerischer Formen aus dem Osten nach dem Westen und aus dem Süden nach dem Norden. Die Bewegungen, die wir unter dem Namen ‘Renaissance und Humanismus’ zusammenfassen, kannten, so vorherrschend der italienische Anteil an ihnen war, kaum irgendwelche Hindernisse politischen Charakters. Im siebzehnten Jahrhundert sproßte üppig die Naturwissenschaft empor in einer fortdauernden freundschaftlichen Zusammenarbeit verschiedener Völker, die unbehindert war, selbst wenn diese Völker miteinander im Kriege lagen. Das vergangene Jahrhundert schließlich trug unendlich viel zu dem Mitteln internationalen Verkehres bei und anscheinend auch zum Geiste eines die Welt umspannenden Zusammenwirkens. Heute aber können wir Europa in einem Tag überfliegen, wir können den halben Erdkreis sprechen hören, wenn wir nur auf einen Knopf drücken. Wie kann da etwas zur vollkommensten Entwicklung und Freiheit jener Kooperation fehlen, von der hier die Rede ist? Es fehlt trotzdem fast alles dazu. Wenn wir ein wenig in die Tiefe der Dinge blicken, müssen wir mit Bitterkeit bekennen, daß es mehr Gründe gibt, von intellektueller Zusammenarbeit als einem verlöschenden Nachglühen einer besseren Welt zu sprechen als von einem empordämmernden Licht, das einer neugeborenen Gesellschaft immer klarer voranleuchtet und sie ihrer Gegebenheiten immer stärker bewußt macht. Die geistige Zusammenarbeit, diese ruhmvolle Macht vergangener Jahrhunderte, so alt wie das Christentum selbst, erscheint heute vom Untergang bedroht und aus unserem sozialen Leben verdrängt durch zwei Kräfte von erstaunlicher Gewalt, den Hypernationalismus und seinen Verbündeten, den Geist der Propaganda. Zum | |
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erstenmal in der Geschichte des Abendlandes wird das Ideal der internationalen Einigkeit vielerorts mit Bewußtsein bekämpft und abgeschworen. Von dem Hypernationalismus, dieser Pestbeule unserer Zeit, wird noch zu reden sein; was den Geist der Propaganda betrifft, so genügen einige Worte. Unter Propaganda verstehen wir die Einprägung von Sätzen in die öffentliche Aufmerksamkeit, welche dazu dienen sollen, die Massen für irgendeine Sache, sei es nun eine Zahnbürste oder eine Weltanschauung, zu gewinnen, jedenfalls für eine Sache, an welcher der Ankündiger Interesse hat. Der Wahrheitsgehalt der Anpreisung braucht nur so groß zu sein, daß er den unkritischen Geist der Masse eben befriedigen kann. Er steht in umgekehrten Verhältnis zu ihrer Leichtgläubigkeit. Der Ursprung der Propaganda liegt mehr im Bereich der Politik als der Wirtschaft, aber ihre Kunst wurde durch die letztere auf die gegenwärtige Höhe gebracht, bis in der allerjüngsten Zeit die Politik wieder Besitz von der Propaganda ergriffen hat, die Wirtschaft im Gebrauch dieser vergifteten Waffe weit übertrumpfend. Politische Propaganda ist ein monströses Geschwür der modernen Zivilisation und der Todfeind jeder internationalen Verständigung.
Was kann angesichts dieser Gegenkräfte eine internationale geistige Zusammenarbeit für die Gestaltung der Gesellschaft noch leisten? Welches Gebiet steht überhaupt für internationale Zusammenarbeit noch offen und welche Mittel stehen ihr zu Diensten, um die Saat eines praktischen Internationalismus auszustreuen? Zunächst ein Wort darüber, was wir unter Internationalismus verstanden sehen wollen. Ungleich früheren Geschlechtern sehen wir heute Internationalismus nicht mehr in einem gestaltlosen System, das allein auf ewigen Prinzipien des Menschheitsideals, der Tugend und des Brudergeistes, beruht. Wenn auch diese Ideale immer das letzte Ziel bilden müssen, jede Bemühung, zu ihnen zu gelangen, kann nur auf dem Wege eines nationalen Ausdruckswillens verfolgt werden. Die Anerkennung der ungeheuren Macht und des unentbehrlichen Wertes der Nationalität als des Trägers des sozialen Lebens und der Kultur steht am Ausgang unseres Begriffes von Internationalismus. Das Wort Internationalismus selbst schließt ja die Wechselbeziehung verschiedener Nationen ein. Internationalismus bedeutet einen Austausch, übertragung von Werten, gegenseitiges Verstehen und gegenseitige Duldung. Jedoch nicht alle nationale Werte lassen sich übertragen. Jedes nationale Sein enthält Elemente, die so ausschließlich ihm eigen sind, daß sie nicht auf andere | |
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Völker übertragenwerden können. Auch Elemente, die allen gemeinsam sind, wie wirtschaftliche, technische, wissenschaftliche Fähigkeiten, sind kein wesentlicher Beitrag zu jener geistigen Zusammenarbeit, von der wir hier sprechen. Ihr ‘Transfer’ bedeutet kein Anwachsen der internationalen Verständigung. Unsere Aufgabe ist es nun, zu erforschen, ob es eine Gruppe ihrem Wesen nach nationaler Werte gibt, die sich dennoch für die Ausfuhr eignen. Leider gelangen wir da zu der Erkenntnis, daß gerade die am wenigsten wertvollen Elemente sich als die beste Exportware erwiesen haben. Ich spreche nicht nur von Narreteien in der Kunst ebenso wie in der Mode und in der Pseudowissenschaft, sondern von Sinnlosigkeiten im allgemeinen. Nonsens kenntkeine Quoten. Wenn auf irgendeinem Unsinn eine ausländische Schutzmarke steht, ist es sicherlich mehr Hilfe als Hindernis für seine Verbreitung.
Aber für den wirklichen Austausch von nationalen Werten müssen vor allem zwei Bedingungen erfüllt sein: zunächst einmal muß das nationale Produkt, das vermittelt werden soll, für das fremde Volk einen Gewinn, eine Entdeckung, eine überraschung bedeuten. Nicht die änlichkeit, sondern der Unterschied ist Trumpf. Die andere Bedingung ist, daß das kulturelle Element keinen nationalen Widerstand auf der andern Seite findet, der den Andrag des Fremden an Stärke übertrifft. Wenn wir nun einen flüchtigen Blick auf die Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit in unseren Tagen werfen, gelangen wir zunächst zur Religion. Wie immer ist das Christentum auch heute der machtvollste Organismus internationaler Aktivität. Es ist zu erwarten, daß der Glaube, wie jedesmal so auch jetzt, durch Verfolgung nur an Kraft gewinnen wird. ökumenische Tendenzen sind heute im religiösen Denken der ganzen Welt stark. Kirchliche Bewegungen verbreiten sich schneller als je zuvor. Inzwischen äfft der Geist der Propaganda selbst die Religion nach, indem er gleichen konfektionierte nationale Glaubensbekenntnisse exportiert. Im echten Glauben, welchen nationalen Stempel er auch immer tragen mag, ist das Problem der intellektuellen Zusammenarbeit gelöst. Wenn wir zur Philosophie und Wissenschaft übergehen, ist das Bild nicht so klar. In Prinzip müßten beide fast widerstandslos in fremde Kulturen eindringen. Von der Naturwissenschaft gilt das im allgemeinen noch ziemlich ungeschwächt. Aber weder Philosophie noch die Geisteswissenschaften sind immun gegen die Gefahr nationaler Befangenheit. Die Philosophie kann sogar gefälscht werden, um nationalen Zielen zu dienen und so die Magd der | |
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Tyrannei zu werden. Die Geisteswissenschaften, so entfernt oder abstrakt ihr Gegenstand sein mag, liegen so sehr in Bereich jeder nationalen Kultur, daß sie in jedem Augenblick leicht von Einflüssen durchsetzt werden können, die ihrem Wesen fremd sind. Nun aber schließlich die politischen Werte, das heißt Theorien und Systeme der Organisation und Verwaltung, können diese von einem Volk zum andern übertragen werden? Es gibt ein einziges großes Beispiel dafür: die parlamentarische Regierungsweise, wie sie durch viele Jahrhunderte im englischen Boden sich eingewurzelt hat. War der Export dieses machtigen Organismus ein Erfolg oder nicht? Manche behaupten, daß andere Völker niemals wirklich die Handhabung dieses Werkzeuges gelernt haben. Großbritannien freilich versteht seine Beherrschung, und vielleicht wird trotz seines scheinbaren Niederganges der Parlamentarismus in der Hand Großbritanniens sich noch als der Rettungsgürtel eines ertrinkenden Europa erweisen. Im allgemeinen kann man sagen: Heute sind die Bestrebungen, fremde Völker vom Werte politischer Ideen zu überzeugen, die in der Heimat triumphieren, lebhafter denn je: aber sie können kaum zur ‘internationalen Zusammenarbeit’ gerechnetwerden. Auf der Suche nach einem Bereich, der nicht durch alle möglichen Hindernisse versperrt wird, wenden wir unseren Blick der Kunst und Literatur zu. Nationale Vorurteile sind hier weniger wirksam als anderswo, eben weil überhaupt, um in die Sphäre ästhetischer Perzeption und Produktion einzudringen, zuerst eine geistige übergabe und Ablegung der Waffen stattzufinden hat. Poesie und Kunst können nur gedeihen in einer Atmosphäre der Sympathie. Diese beiden Tugenden gehören freilich nicht zu denen, die heute in der Welt besonders eifrig geübt werden. Und dennoch müssen sie herrschen, bevor die ganze Arbeit, die wir anstreben, einsetzen kann.
Wir gelangen nun zur Frage, was wir zur Verwirklichung tun können, ein jeder von uns, in seinem kleinen Bezirk? Wie können wir den Boden für eine erneute und geläuterte Kultur vorbereiten? Die Methode als solche schcint leicht genug, aber wie macht man sie wirksam? Wie heilsam wäre es, wenn die Welt die Sitte aller wohlerzogenen Leute annehmen wollte, nicht mit den eigenen Vorzügen zu prahlen. Wenn es bloß als geschmacklos anerkannt würde, die Verdienste seiner eigenen Nation laut zu preisen, hätte die Welt unendlich an der Möglichkeit des Glücks gewonnen. Man schreit doch nicht die Vortrefflichkeit seines Glaubens in die Welt, man lobpreist nicht die Geliebte in | |
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der Öffentlichkeit! Wenn nun dein Volk dir heilig ist wie dein Glaube und du es liebst, warum hebst du dann seine Tugenden mit solch betäubenden Lärm, mit solch unbändigen Stolz hervor? Hypernationalismus mit seiner Variante, dem Bolschewismus, ist der Fluch unseres Zeitalters. Vielleicht werden einmal später diese Verzerrungen der Kultur von der Geschichte in eine Reihe mit den Hexenverbrennungen und den Menschenopfern zusammen genannt werden... Und immer kehrt die Frage wieder: ‘Was soll man tun?’ In den letzten Jahren sind viele Bücher geschrieben worden (ich selbst bekenne, ein solches verfaßt zu haben), die alle dem Gedanken gewidmet sind: ‘Welches ist das Grundübel unserer Kultur?’ Wenn ich solche Betrachtungen nutzlose Arbeit nennen wollte, müßte ich ja die eigene verleugnen. Nein, es ist im Gegenteil überaus notwendig, daß wir wieder und wieder auf den entsetzlichen Umfang unseres moralischen Verfalles hingewiesen werden, daß wir aufmerksam gemacht werden, wie viele wesentliche Werte unsere gegenwärtige westliche Kultur verloren hat, wenn man sie mit den wirklich großen Zeiten menschlicher Geschichte vergleicht. Allen unseren Leiden liegt der schmerzliche Mangel eines höheren Zieles im persönlichen Leben zugrunde. Aber seien wir uns klar darüber, daß es mit dem Schreiben von entweder wissenschaftlichen oder populären Büchern nicht getan ist. Intellektuelle Zusammenarbeit, die den Prozeß der Organisierung der Welt heute beeinflussen und ändern soll, müßte senkrecht, in die Tiefe, gerichtet sein, bevor sie waagerecht, in die Breite, wirken könnte, in die Massen in weitem Sinne, den Ortega y Gasset diesem Wort gab, die zu einem reineren Begriff der Kultur gebracht werden müssen. Das bedeutet, daß die wirkliche Erziehungsarbeit von und in jeder Nation selbst getan werden muß. Und hier werden wir zu einer seltsamen Schlußfolgerung gedrängt: Politische Perversion trägt am meisten schuld an unseren Krankheiten, aber die heilenden Kräfte müssen gerade im politischen Fühlen und Denken einsetzen. Die Massen zu lehren, daß sie jede Übertreibung ihres nationalen Gefühls vermeiden sollen, daß sie die Tyrannei in allen ihren modernen Formen verachten und ihr widerstehen, daß sie Ordnung lieben und Respekt für andere Völker haben sollen, das könnte diese Massen für die Wiedergewinnung wahrer Kultur vorbereiten. Wie immer wir unsere Aufgabe der intellektuellen Zusammenarbeit nehmen - selbst im besten Falle stimmen wir nur die Instrumente, die einmal in mächtigem Vollklang einsetzen werden. |
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