Die Servatiusbruchstücke
(1992)–J.J. Goossens– Auteursrechtelijk beschermdMit einer Untersuchung und Edition der Fragmente Cgm 5249/18, 1b der Bayerischen Staatsbibliothek München
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1. Das Veldekeproblem, die Veldekeausgaben und die Servatius-bruchstückeDen Anfang der wissenschaftlichen Veldekephilologie kann man - nach Ansätzen von mehr als einem Jahrhundert - mit der Ausgabe der Lieder und der ‘Eneide’ durch Ettmüller (1852) markieren. Was war zu diesem Zeitpunkt über den Dichter bekannt, und welche seiner Werke kannte man? Man wußte, daß er die folgenden vier Dichtungen verfaßt hatte: 1. Eine Reihe von Liedern. Diese waren bereits alle ediert, zwar nicht in einer eigenen Veldekeausgabe, wohl aber in Abdrucken der drei südwestlichen mhd. Liedersammelhandschriften, in denen sie jedesmal einen kleinen Teil des Gesamtbestandes bilden. Es handelt sich um die große Heidelberger oder Manessische (damals Pariser), die von Bodmer und Breitinger (1758-1759), die Weingartner, die von Pfeiffer und Fellner (1843) und die, was Veldeke betrifft, weniger ergiebige, aber änigmatische kleine Heidelberger Handschrift, die ebenfalls von Pfeiffer (1844) ediert worden war. Außerdem hatte von der Hagen (1838) eine große Liedersammlung herausgebracht, die ebenfalls Veldekes Lieder enthält (HMS). 2. Ein Gedicht mit der Legende des heiligen Servatius. Dies war bekannt durch die Aufzählung einer Reihe mittelalterlicher literarischer Werke im sog. ‘Ehrenbrief’ des bayerischen Landrichters Jacob Püterich von Reichertshausen. Die erste Hälfte der 114. Strophe lautet hier: Sannct Servassius legenndt / Ein bischof zu Mastricht / Hat woll und schan bekhent / Hainrich von Veldeckh bracht zu heilgem ticht. Erst vier Jahre nach Ettmüllers Ausgabe wurde im belgischen Aubel, wenige Kilometer südöstlich von Maastricht und nordöstlich von Lüttich, eine vollständige Servatiushandschrift entdeckt, die vom Lütticher Philologen Bormans ediert werden sollte. Ettmüller konnte also noch nichts Konkretes über die Sprache des ‘Servatius’ wissen. 3. Ein ausführliches Versepos über die Erlebnisse des Eneas. Ettmüller kannte vier Handschriften dieser Dichtung. Eine davon war bereits 70 Jahre früher, 1783, allerdings sehr fehlerhaft, ediert worden von Müller, nachdem wieder mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor Gottsched von ihr eine Abschrift angefertigt und 1745 ein lateinisches Programm über sie veröffentlicht hatte. Die vier Handschriften, die Ettmüller kannte, haben eine hochdeutsche Sprachgestalt; sie stammen aus Thüringen, der Maingegend und der Steiermark. Später hat man noch drei weitere vollständige Handschriften und Fragmente aus fünf anderen kennengelernt, die ebenfalls alle hochdeutsch sind, aber beweisen, daß die Rezeption des Werkes sich nicht auf den Osten und Südosten des mhd. Raumes beschränkte; sie erstreckte sich im Gegenteil bis ins Elsaß. Limburgische oder niederrheinische Handschriften oder Bruchstücke fehlen aber - trotz der bekannten Mitteilung im Epilog, daß Veldeke das Exemplar, das den zu etwa 4/5 vollendeten Text enthielt, in Kleve, also in | |
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dieser Gegend, gestohlen wurde und daß er es neun Jahre später in Thüringen wiedererlangte. Aus den sich teilweise widersprechenden Einzelheiten in den Handschriften wird nicht klar, wie die vollständige endgültige Fassung, die den Ausgangspunkt der (hochdeutschen) Überlieferung bildete, zustandegekommen ist und was ihre sprachliche Gestalt war. 4. In der Ritternovelle ‘Moriz von Craûn’ vergleicht der anonyme Dichter das Bett, auf dem er seinen Helden ruhen läßt, mit jenem kostbaren Bett Salomons, das von Veldeken Heinrich beschrieben habe (vv. 1158-1172). Diese Dichtung Veldekes, über die viel spekuliert worden ist, ist aber nie entdeckt worden. Wir brauchen sie deshalb nicht weiter zu berücksichtigen.Ga naar voetnoot1 Ettmüller kannte also zwei Werke Veldekes, das eine, das Corpus der erhaltenen Lieder, in einer westlichen, das andere, den Eneasroman, in einer östlichen mhd. Überlieferung. Über das Leben des Dichters wußte er nicht mehr als das, was der Eneas-Epilog enthält, doch kannte er eine Mitteilung von Mone (1830) mit einem Zitat aus dem Manuale (dem ‘Hausbuch’) der Abtei von Sint-Truiden, in dem ‘Abt Wilhelm im Jahre 1253 einem domino Henrico de Veldeke, militi, ein jener Kirche gehöriges Grundstück bei Spalbeke als Lehen übertrug’, und nahm an, daß somit ‘die Heimat des Geschlechtes nachgewiesen [sei], dem der Dichter ohne Zweifel angehörte’ (S. XIII). Diese Annahme mit der historischen Existenz einer Servatiusdichtung und mit dem Klever Diebstahl verbindend kam er zu dem Schluß, Veldeke habe seine Werke ‘ursprünglich in niederrheinischer Sprache, [...] in einer der mittelniederländischen nahe verwandten Mundart’ geschrieben (S. V). Für diese These nannte er auch Argumente aus seiner Analyse der Sprache der Texte, darunter, ‘daß in der ganzen Eneide auch nicht ein Reim sich findet, der nur oberdeutsch richtig, nach niederrheinischem Lautgesetze aber unrichtig wäre’ (S. VII). Bei den Liedern postulierte er eine noch viel stärkere niederrheinische Färbung (hier sind, wie bekannt, eine Reihe nordwestlicher Elemente auch wirklich augenfällig), jedoch ohne diesen Gedanken zu präzisieren. Für seine Ausgabe fand er die folgende Lösung: Den Eneasroman druckte er in einer Sprachform ab, die diese Dichtung seiner Meinung nach ‘in Thüringen erhielt’, nicht weil er beabsichtigte, eine Ausgabe letzter Hand zu besorgen, sondern weil er sich ange- | |
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sichts der Textüberlieferung nicht befähigt fühlte, einen limburgisch-niederrheinischen Text zu rekonstruieren. Er benutzte die Berliner Handschrift, die er für thüringisch hielt (obwohl sie auch oberdeutsche Züge aufweist), als Basistext. Bei den Liedern hat er jedoch versucht, was er ‘bei der Eneide nicht wagen durfte, nämlich diese Lieder so wiederzugeben, wie sie Heinrich ohne Zweifel sang: in niederrheinischer Sprache’. Dieses Niederrheinische (Ettmüller hat zweifellos seine Aufgabe unterschätzt und teilt übrigens nicht mit, auf welcher sprachwissenschaftlichen Grundlage er seine Transkription durchgeführt hat) macht einen ziemlich heterogenen Eindruck, doch braucht seine konkrete Gestalt uns im Rahmen der Zielsetzung nicht länger zu beschäftigen. Fünf Jahre später erschien die erste Ausgabe von ‘Des Minnesangs Frühling’ (MF). Diese Edition war von Lachmann, der 1851 starb, vorbereitet, jedoch nicht vollendet worden; schließlich wurde sie von Haupt abgeschlossen. In der Vorrede von MF (1857) verantwortete dieser, der inzwischen wußte, daß eine Servatiushandschrift entdeckt worden war, das normalisierte mhd. sprachliche Gewand bei einem einzigen der 21 Dichter: Veldeke (Her Heinrich von Veldegge): ‘treuer als unbedingtes streben nach dem echten es geduldet hätte ist die überlieferung in den liedern Heinrichs von Veldeke befolgt worden. aber die geringe kunst (!) sie in eine gleichförmige niederdeutsche mundart umzuschreiben, habe ich so wenig als Lachmann üben wollen, da sichere gewähr solcher gleichmässigkeit fehlte. vielleicht sind aus dem vor kurzem aufgefundenen Servatius festere bestimmungen der mundart des dichters zu gewinnen; dass er aber der sprache seiner heimat in der fremde durchgängig treu geblieben sei wird sich schwerlich erweisen lassen’ (S. VII f.). Auf diese Weise wurde eine Gegenposition zu Ettmüller eingenommen, und es begann eine Kontroverse um die Dichtersprache Veldekes, die auch durch die Edition des Servatiustextes von Bormans nicht beseitigt werden konnte.Ga naar voetnoot2 Diese erschien ein Jahr später, 1858. Die von Bormans nicht sehr sorgfältig herausgegebene Handschrift erwies sich als eine junge Abschrift. Deschamps (1958) hat präzisieren können, daß sie um 1470 im Maastrichter Begardenkloster geschrieben worden ist. Es liegen also etwa drei Jahrhunderte zwischen | |
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dem Original und dem überlieferten Text. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in diesem Zeitraum eine wirtschaftliche und kulturelle Umorientierung des Maaslandes - mit eingreifenden Folgen für den Sprachgebrauch - stattgefunden hatte: Nicht mehr Köln, sondern der brabantisch-flämische Westen war nun tonangebend geworden. Die Sprache der jungen Servatiushandschrift ist zwar noch überdeutlich limburgisch, aber dieses Limburgisch ist klar erkennbar jünger als jenes aus Veldekes Zeit, und es ist eindeutig mit westlichen Elementen übertüncht. Darüber hinaus weist der Text als poetisches Dokument auffällige Degenerierungserscheinungen auf, die einer Zeit eigen sind, in der die Prosa dominiert und ältere Verstexte in Prosa umgeschrieben werden: Viele Reime stimmen nicht mehr, und zahlreiche Verse sind unter dem Aspekt des Rhythmus viel unregelmäßiger als zu erwarten wäre, was dem Wegfall einer regelmäßigen Kontrolle ihrer Länge zuzuschreiben ist. Das alles konnte Bormans noch nicht in aller Deutlichkeit sehen, aber er hat doch erkannt, daß es zwischen dem überlieferten und dem originalen Servatiustext zahlreiche Unterschiede gegeben haben muß. Bormans konnte auch neue Argumente für die These nennen, daß auf der Grenze zwischen den belgisch-limburgischen Dörfern Kermt und Spalbeek im Mittelalter ein Geschlecht derer von Veldeke seßhaft war. Die Sprache der jungen Servatiushandschrift hat offenbar deutsche Literarhistoriker vor unüberwindbare Schwierigkeiten gestellt, wie die sich widersprechenden krassen Fehlurteile in den beiden folgenden Zitaten zeigen mögen: ‘Veldekes Sprache im Servatius und in der Eneide ist nicht der Dialekt seiner heimischen, niederländischen Maastrichter Mundart, sondern die mittelfränkische Literatursprache, wie sie in den rheinischen Dichtungen vor ihm ausgebildet war’ (Ehrismann 1927, S. 81f.) und: ‘die einzige vollständige Handschrift [...] setzt die Sprache des limburgisch-niederrheinischen Werkes in westholländische Formen um’ (De Boor, 1974 S. 41f.). Die beiden Lager in der Kontroverse um das Veldekeproblem werden seit der Ausgabe von Bormans durch einen unterschiedlichen Glauben getrennt. Das eine stützt sich auf die Überlieferung des Eneasromans und der Lieder, hält die im Eneasepilog mitgeteilten Fakten über die Ereignisse in Kleve im Zusammenhang mit der kontrollierbaren Textüberlieferung für wenig relevant und betrachtet den ‘Servatius’ als ein weniger bedeutendes Werk mit einer beschränkten regionalen Rezeption. Für diese Gruppe ist die Frage: Welchem hochdeutschen Publikum paßte sich Veldeke in seinem Sprachgebrauch an? Oder, wenn man diese sprachliche Wende nicht Veldeke selbst zuschreiben will: Welchem hochdeutschen Publikum paßte(n) der oder die Umschreiber und Vollender der Eneasfassung, die am Anfang der ersten hochdeutschen Rezeptionsphase steht, sich an? Für die Befürworter dieser Auffassung war die Entdeckung von Fragmenten einer sehr alten Servatiushandschrift seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine verhältnismäßig unwichtige Angelegenheit, war doch der ‘Servatius’ als solcher weniger wichtig. Das zweite Lager | |
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geht von der - auch vom ersten nicht bestrittenen - Annahme,Ga naar voetnoot3 daß Veldeke aus einem Looner Geschlecht stamme, sowie von der limburgischen Überlieferung des ‘Servatius’ aus. Es sieht im Eneasepilog und in den nordwestlichen sprachlichen Elementen der Lieder Argumente für seine Auffassung, daß es von diesen beiden Werken limburgische Fassungen gegeben habe, deren Rekonstruktion es als ein philologisches Ideal betrachtet. Für diese Gruppe war die Entdeckung der alten Servatiusfragmente außerordentlich wichtig, sind diese doch ebenso wie die junge Handschrift limburgisch und stammen sie doch aus der Zeit um 1200, als der Dichter selbst vielleicht noch lebte. Da ihre Sprache also jener des Originals sehr nahe stehen muß, kann sie in dieser Auffassung als Basis für die Rekonstruktion des Gesamtwerks Veldekes gelten. Beide Gruppen haben ihre Auffassungen in Studien dargelegt, aber die zweite hat doch fast alle Textausgaben zustande gebracht. In den folgenden Editionen von MF durch Wilmanns (1875) und nachher durch Vogt (1882 und 1885) erscheinen Veldekes Lieder zwar noch in der Gestalt, die sie bei Lachmann-Haupt bekommen hatten, und das gleiche gilt für eine Auswahl aus diesen Liedern in der ersten Auflage der wiederholt nachgedruckten Sammlung ‘Deutsche Liederdichter des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts’, die von Bartsch herausgegeben wurde. Doch teilt Bartsch (1878) im Vorwort der zweiten Auflage mit: ‘Otto Behaghel, der uns hoffentlich bald eine kritische Ausgabe der Eneide geben wird, hat die Lieder Heinrichs von Veldeke in ihrer ursprünglichen Mundart herzustellen übernommen’ (S. V). Die Grundlage der Umschrift dieser zwanzig Strophen wird nicht verdeutlicht, aber in der Einleitung seiner limburgischen Eneideausgabe rechtfertigt Behaghel (1882) sein Verfahren ausführlich. Er zählt seine Quellen auf und schließt eine Grammatik sowie eine metrische und stilistische Untersuchung von insgesamt mehr als hundert Seiten an. Die metrisch-stilistische Studie hat die junge Servatiushandschrift als Grundlage. Für seine Grammatik jedoch gilt diese ihm als unzuverlässig: ‘Direct verwendbar ist für uns nur, was sich aus den Reimen und aus dem innern Bau des Verses ergibt; denn die Mundart der Handschrift ist nicht die von Maestricht’ (S. XXXVII). Anders ausgedrückt: Behaghel war noch nicht in der Lage, in dem Text der Handschrift historische Sprachschichten zu unterscheiden bzw. zu erkennen. Sein sonstiges Quellenmaterial ist unbefriedigend. Er hielt nur mittelalterliche Texte aus Maastricht selbst sowie Beschreibungen der modernen Maastrichter Mundart für geeignet und beschränkte sich auf diese. Die Zahl der benutzten Texte ist jedoch zu gering, sie sind zu jung, zu schlecht ediert und im allgemeinen zu ergebnisarm, während die modernen Dialektquellen sich auf einige Textproben und eine unzulängliche Beschreibung beschränken. Das alles konnte keine ordentliche Basis für | |
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eine Rekonstruktion bilden. Behaghels Ausgabe ist ein Denkmal der Gelehrsamkeit, aber sie ist mißlungen, auch wenn man sich auf den Standpunkt stellt, eine Umschrift des Eneasromans ins Altlimburgische sei ein erstrebenswertes philologisches Ziel. Um die gleiche Zeit, in der Behaghels Ausgabe erschien, wurden in der Bayerischen Staatsbibliothek in München die ersten Bruchstücke der sehr alten Servatiushandschrift entdeckt. Sie enthalten mehr oder weniger vollständig 54 Verse aus der zweiten Hälfte der Legende. Sie wurden ein Jahr später von Meyer (1883) ediert. Wieder sieben Jahre später veröffentlichte Schulze (1890) neue Fragmente aus der gleichen Handschrift, die er in Leipzig in der Bibliothek des Reichsgerichts entdeckt hatte. Und noch einmal neun Jahre später teilte Scharpé (1899) mit, er habe bei einem Besuch in Leipzig festgestellt, daß die von Schulze edierten Bruchstücke im Einband einer Inkunabel festgeklebt seien; Schulze habe nur die Textpartien auf der Vorderseite dieser Fragmente herausgegeben. Nachdem man sie gelöst hatte, konnte Scharpé auch die Rückseiten lesen. Er edierte alle bis dahin bekannten Fragmente - auch die Münchener - mit Faksimiles. Die Leipziger Bruchstücke umfassen 101 ganz oder teilweise erhaltene Verse, alle aus dem ersten Teil der Dichtung. Die Kurzkommentare, die die Editionen von Meyer und Schulze begleiten, enthalten keine Betrachtungen über die philologische Bedeutung der Fragmente; der erste, der diesbezüglich eine gewisse Einsicht zu haben scheint, ist Scharpé. In gewisser Weise ein Anachronismus war die Ausgabe der Lieder und des ‘Servatius’ durch Piper (vermutlich 1892, das Buch trägt keine Jahreszahl). Piper bietet eine limburgische Umschrift ‘mit Berücksichtigung der neueren Forschungen, besonders der Arbeiten von Behaghel, Meyer, Schulte (sic), Lambel’ (S. 80), die er jedoch nicht genauer rechtfertigt. Er hat eindeutig nach dem Muster Behaghels, aber mit weniger Sorgfalt gearbeitet. Die Fragmente von Meyer und Schulze haben bei der Umschrift kaum eine Rolle gespielt. Um die Jahrhundertwende ist also das gesamte überlieferte Werk Veldekes ins Altlimburgisch-Niederrheinische transkribiert und ediert: die hochdeutschen Lieder von Ettmüller, Behaghel und Piper, die hochdeutsche ‘Eneide’ von Behaghel, der junglimburgische ‘Servatius’ von Piper, aber bei alledem ist der Einfluß der 155 bis dahin bekannten Verse aus der alten Servatiushandschrift unbedeutend gewesen. Daneben gibt es zu diesem Zeitpunkt diplomatische und kritische (hochdeutsche) Editionen der Lieder sowie eine kritische hochdeutsche Ausgabe des Eneasromans und eine mehr oder weniger diplomatische junglimburgische des ‘Servatius’. Die beiden Positionen in der Veldekeproblematik blieben im 20. Jahrhundert bestehen, aber in den Editionen war die limburgische Auffassung noch lange vorherrschend; dabei sollten jetzt die Servatiusfragmente eine zentrale Rolle spielen. Man fing ganz vorsichtig an. Vogt besorgte 1911 eine neue Aus- | |
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gabe von MF. Er berief sich auf die Ergebnisse der Studien von Braune (1873), der eine limburgische ‘Eneide’ postuliert hatte, von Behaghel (1882) und von Kraus, der (Kraus 1899, S. 164) angenommen hatte, ‘dass der Dichter sich in seiner Lyrik von der Rücksichtnahme auf das hochdeutsche Publikum, die seine Epik in so hohem Grade zeigt, in keiner Weise leiten liess, sondern dass er hier seiner heimatlichen Sprache durchaus freie Entfaltung gönnte.’ Doch wagte er es nicht, die Resultate der Analysen dieser Gelehrten als Grundlage für eine neue Transkription der Lieder zu benutzen: ‘Gleichwohl habe ich die Rückübersetzung in eine keineswegs in jeder Einzelheit festgestellte Sprache nicht ohne Widerstreben vorgenommen und mich lieber zu eng an die alten Servatiusfragmente angeschlossen als ganz den Boden älterer schriftlicher Überlieferung zu verlassen.’ Eine erste Umschrift auf der Grundlage dieser Fragmente also, aber keine Zufriedenheit wegen der Existenz einer soliden Basis, sondern vielmehr ein Seufzer, weil es nichts Brauchbareres gab. Vogt schloß die explizite Mitteilung an, daß er unten auf den Seiten den Text von Lachmann-Haupt abdrucke und die Varianten (‘Abweichungen’) der Handschriften - die er offenbar für weniger wichtig als den Text jener Fassung hielt - in Klammern hinzufüge. Zwanzig Jahre später brachte der Nimwegener Historiker Rogier (l93l) unter einem Titel mit einer Namenrekonstruktion, ‘Henric van Veldeken’, eine populäre, aber gelungene ‘inleiding tot den dichter en zijn werk met bloemlezing’ heraus. Diese ‘Blütenlese’ enthält sowohl Stücke aus dem ‘Servatius’ und dem Eneasroman wie eine Anzahl von Liedern. In den Auszügen aus dem ‘Servatius’ hat Rogier die Sprachform der jungen Handschrift beibehalten; in jenen aus der ‘Eneide’ und in den Liedern ist er auf Rat des limburgischen Philologen J.H. Kern, der ihm übrigens bei der Umschrift Hilfe geleistet hat, von den Ausgaben von Behaghel und Vogt ausgegangen. Diese Texte hat er ‘genormaliseerd’ ‘naar de helaas al te kleine, doch waardevolle Leipziger en Münchener Servaasfragmenten’ und sie von solchen Formen gereinigt, ‘welke zeker foutief zijn’. Nachdem durch Vogts Eingriff die Lieder Veldekes in MF in einem leidlich akzeptablen Altlimburgisch und durch die Arbeit Rogiers nicht nur dreizehn Lieder, sondern auch Teile des Eneasromans in einer noch besser gelungenen maasländischen Sprachform gelesen werden konnten, folgten neue Entdeckungen von Fragmenten der alten Servatiushandschrift. Thoma (1935) publizierte den Text zweier kleiner Pergamentstreifen aus dem Nachlaß seines Großvaters, deren Ursprung er nach eigener Aussage nicht mehr hatte klären können. Nach Gysseling (1980, S. 287) waren diese Fragmente noch im Privatbesitz Thomas in London, doch sind sie bereits 1976 von der Bayerischen Staatsbibliothek erworben worden, wo sie jetzt unter der Signatur Cgm 5249/18, 1c in derselben Mappe wie die neuen Bruchstücke aufbewahrt werden. Sie enthalten ganz oder teilweise 37 Verse aus dem ersten Teil der Legende. Und noch einmal | |
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wurden neue Fragmente aus derselben Handschrift, die in der Universitätsbibliothek München entdeckt worden waren, von Lehmann/Glauning (1940) ediert. Sie stammen teilweise aus dem ersten, teilweise aus dem zweiten Teil der Legende: aus dem ersten 85 Verse, von denen meistens nur kleine Reste erhalten sind, aus dem zweiten 65, meistens vollständige Verse. Sie sind im zweiten Weltkrieg verbrannt. Durch die neuen Funde stieg die Gesamtzahl der ganz oder teilweise erhaltenen Verse aus der alten limburgischen Handschrift auf 342. Zum Vergleich: In der jungen Handschrift enthält das Gedicht 3254 + 2975 = 6229 Verse. Auf der Grundlage dieser ärmlichen Reste, deren Sprache sie für identisch mit jener des Originals erklärten, und mit einer gründlichen sprachhistorischen und sprachgeographischen Kenntnis des Deutschen und des Niederländischen gerüstet, haben dann Theodor Frings und Gabriele Schieb eine beeindruckende, aber umstrittene philologische Leistung erbracht: Sie haben das gesamte Werk Veldekes ins Altlimburgische umgeschrieben. Es begann 1940 mit einer neuen Ausgabe von MF durch Carl von Kraus. Sie enthält eine neue Transkription von Veldekes Liedern durch Frings, die in einer beträchtlichen Reihe von Einzelheiten von der Vogtschen Bearbeitung abweicht. Es folgte eine Edition der Lieder mit einem ausführlichen Kommentar (Frings/Schieb 1947), die nur in Kleinigkeiten von der Ausgabe in MF (1940) differiert. Vorher hatten Frings/Schieb (1945) bereits eine neue Edition aller Servatiusbruchstücke, einschließlich der Thoma-Fragmente, mit einer ausführlichen sprachlichen Analyse herausgegeben. Die Fragmente von Lehmann/Glauning waren ihnen also zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. In den folgenden Jahren veröffentlichten Frings und Schieb noch eine Reihe von anderen Veldekestudien, darunter einige, die Auszüge aus der Rekonstruktion des ‘Servatius’ enthalten (Frings/Schieb 1948a, 1948b, 1949; Schieb 1952), an der sie zu der Zeit arbeiteten. Der Zufall hat es gewollt, daß die letzten drei Fragmente von Lehmann/Glauning aus dem zweiten Epilog des ‘Servatius’ stammen, also aus einem Teil der Dichtung, deren Rekonstruktion Frings/Schieb (1948b und 1949) veröffentlicht hatten, bevor sie diese Bruchstücke kennenlernten. Es war deswegen möglich, auf der schmalen Basis eines kurzen Textauszuges zu überprüfen, inwieweit es Frings und Schieb gelungen war, den Text des originalen ‘Servatius’ oder doch wenigstens der alten Handschrift zu rekonstruieren. Dies ist in Goossens (1969) geschehen; ich komme nachher auf diese Problematik zurück. Frings/Schieb (1952) gaben die Fragmente von Lehmann/Glauning, die sie inzwischen kennengelernt hatten, mit einem ausführlichen sprachlichen Kommentar neu heraus. Selbstverständlich haben sie diese bei ihrer weiteren Arbeit an der Rekonstruktion des ‘Servatius’ benutzt, die vier Jahre später erschien (Frings/Schieb 1956). Diese Edition fällt, von der Sprachform abgesehen, durch die Hypothese zahlreicher Einschübe in den Text der jungen Handschrift auf. Nicht weniger als | |
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534 Verse sind aus dem Text entfernt und in einen Anhang aufgenommen worden, weil sie für jüngere Hinzufügungen von Kopisten gehalten wurden. Außerdem werden im Text der eigentlichen Ausgabe noch einmal 312 Verse in Klammern abgedruckt. Diese Verse sind zum Teil ins Altlimburgische transkribiert worden (die vermeintlichen alten Einschübe), zum Teil erscheinen sie in der Gestalt der jungen Handschrift (jüngere Einschübe). Frings und Schieb haben offenbar während der Arbeit am ‘Servatius’ die Vorstellung entwickelt, daß es auf der Grundlage von Sprach- und Versanalysen sowie von Einsichten in eine Dichterpersönlichkeit möglich sei, echte und unechte Stellen voneinander zu trennen. Acht Jahre später erschien der Text der Eneideausgabe (Schieb/Frings 1964). Der Name Schieb steht hier an erster Stelle; Frings erklärt im Vorwort, daß seine Mitarbeiterin ‘die Last der kritischtechnischen Bearbeitung’ getragen habe. Der Band ‘Untersuchungen’ (Schieb 1965a) erschien noch ‘unter Mitwirkung von Theodor Frings’. Der dritte Band, das Wörterbuch, das zwei Jahre nach dem Tod von Frings herausgebracht wurde (Schieb 1970), kam unter Mitarbeit von Günter Kramer und Elisabeth Mager zustande. Die Eneideausgabe der Leipziger Gelehrten weicht grundsätzlich von jener des ‘Servatius’ ab. Die Rekonstruktion hat zwar dasselbe sprachliche Gewand, doch erscheint sie nicht als einziger Text. Parallel zu ihr ist diplomatisch die Fassung einer Handschrift abgedruckt worden, die des Papierkodex aus Gotha aus dem 15. Jahrhundert (G), die schon in der Auffassung Behaghels - zusammen mit einer ebenfalls jüngeren, Heidelberger Handschrift (h) - den größten Wert für die Textkritik habe. ‘Wir bevorzugten G nur, weil es die einzige Handschrift ist, die in Thüringen entstand und in Thüringen blieb’, erklärt Schieb (1964, S. XI) in ihrer Einleitung. Ein anderer grundsätzlicher Unterschied zur Servatiusausgabe ist die Sicht der Herausgeber auf die postulierten Einschübe und ihre Behandlung solcher Stellen. Sie sind sehr vorsichtig geworden und erklären nur zwei einigermaßen umfangreiche Passagen für spätere Interpolationen: die Verse 5108-5118, einen Zusatz zur Episode der windgezeugten Pferde des Mesapus, der übrigens in den Handschriften G und h fehlt, und die Verse 13 429-13 490, den Teil des Epilogs mit den Einzelheiten über das Schicksal des Autographs in Kleve und die Vollendung der Dichtung in Thüringen, deren Historizität sie allerdings nicht anzweifeln. Beide Stellen sind ins Altlimburgische transkribiert und eingeklammert worden, die erste an ihrem Ort im Text selbst, die zweite etwas weiter nach hinten geschoben, hinter dem Schlußvers 13 528. Die beiden Stauferpartien halten sie für jüngere Zusätze des Dichters selbst; sie stehen deshalb auch an ihrem Ort, ins Altlimburgische transkribiert und ohne Klammern. Schließlich bringt die relativ reiche Überlieferung des Eneasromans es mit sich, daß wiederholt in einer Handschrift Verspaare vorkommen, die in einer anderen fehlen. Frings/Schieb halten sich hier an die Leithandschrift und teilen die Abweichungen im Apparat mit. Alles in allem ist die Eneasausgabe also | |
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ein Kompromiß zwischen der Dreistigkeit einer gewagten kritischen Edition besonderer Art und der Bravheit einer traditionellen diplomatischen Edition mit Varianten. Während der Arbeit von Frings und Schieb an der Servatiusausgabe war eine neue diplomatische Edition der jungen Handschrift durch van Es (1950) erschienen, die - trotz einer beträchtlichen Zahl kleiner Nachlässigkeiten - sich als Verbesserung und willkommener Ersatz der fast unauffindbar gewordenen Bormansschen Ausgabe erwies. In der Veldekediskussion hat sie aber fast nur die Rolle eines Zitiertextes gespielt; in Deutschland ist sie übrigens recht wenig benutzt worden. Auch ist auf eine Anthologie des frühen deutschen Minnesangs von Brinkmann (1952) zu verweisen; sie enthält in anderer Reihenfolge die Lieder Veldekes in einer limburgischen Umschrift, die - bis auf die weggelassenen Diakritika - von Frings/Schieb (1947) übernommen wurde, aber in Einzelheiten der Textgestaltung häufig von ihnen abweicht. Die in Aussicht gestellte Rechenschaft über diese Edition ist nie erschienen. In der jüngsten Geschichte der Veldekephilologie ist das Verlangen dominant, zu den Handschriften zurückzukehren. Es ist dabei fast eine Mode geworden, sich gegen Frings und Schieb abzusetzen, obwohl diese mit ihrer Eneide-Ausgabe eigentlich selbst diese Bewegung bereits in Gang gesetzt hatten. Auch verliert man häufig aus den Augen, daß seit dem Beginn der Veldekephilologie beim ‘Eneas’ und bei den Liedern fast nie mit den Texten der Handschriften gearbeitet worden ist, hatte doch Ettmüller eine thüringische Rekonstruktion beabsichtigt, die das Ergebnis seiner Resignation war, weil er sich zu einer niederrheinischen nicht befähigt fühlte, und enthalten doch die älteren Drucke von MF eine normalisierte mhd. Umschrift. Aus der jüngsten Zeit sind zwei Editionen zu erwähnen. Die erste ist eine neue Ausgabe von MF (1977) von Hugo Moser und Helmut Tervooren . Hierin wird angenommen (vgl. auch Tervooren 1971), daß die ‘deutlich erkennbaren nicht-mhd. Einsprengsel’ in der Überlieferung der Lieder zwei Interpretationen erlauben: 1) Die ursprüngliche Sprache der Lieder ist ‘niederfränkisch’; bei den ‘Einsprengseln’ geht es um ‘nichtgetilgte Reste einer maasländischen Urfassung in einem obd. Translat’; diese traditionelle Auffassung wird für die wahrscheinlichere gehalten. 2) Die ursprüngliche Sprache ist mhd., eventuell in einer Umsetzung von Veldeke selbst. Die Einsprengsel sind dann Formen, ‘die den Liedern ein gewisses Kolorit gaben’ (MF 1977, II, S. 79); das wäre die umgekehrte ‘Barbarolexie’ zu jener, die aus der mnl. Minnelyrik bekannt ist (vgl. Gerritsen/Schludermann 1976). Die Herausgeber meinen, daß die Quellen, die in der ersten Annahme eine Rekonstruktion der ursprünglichen Sprache der Lieder erlauben würden, nicht ausreichen, doch äußern sie sich auffälligerweise nicht zu den Servatiusfragmenten. Ein wichtiger Einwand, den sie gegen die Umschrift der Lieder durch Frings/Schieb erheben, ist, daß diese nicht von der handschriftlichen Überlieferung, sondern | |
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von älteren kritischen Texten ausgegangen sind. Die Edition MF (1977) ist ein Parallelabdruck der mhd. Überlieferung, soweit möglich nach dem Text der Weingartner Handschrift, und der Rekonstruktion von Frings/Schieb. Es gibt zwei Apparate, einen mit den Varianten und einen, der sich auf die mhd. Fassung von Lachmann/Haupt bezieht. Schließlich veröffentlichte Kartschoke (1986) eine neue Ausgabe des Eneasromans, die er bescheiden als ‘Lesetext’ präsentiert. Sie enthält parallel zum mhd. Text eine nhd. Übersetzung. Die mhd. Fassung ist (etwas enttäuschend) aus Ettmüller übernommen; in den Anmerkungen wird zwar eine Auswahl aus den Varianten von Behaghel und Frings/Schieb mitgeteilt, jedoch ohne Rechtfertigung ihrer Grundlage. Kartschoke läßt die Frage offen, ob ein limburgischer Ur-‘Eneas’ in Thüringen von Veldeke selbst oder von jemand anderem bearbeitet wurde oder aber Veldeke sich einer ‘zumindest tendenziell überregional orientierten Hofsprache bedient hat’ (S. 857). Es handelt sich also nicht um eine wirklich neue philologische Leistung, und der Bearbeiter hält sich mit eigenen Ansichten auffällig zurück. Fragen wir gegen den Hintergrund der obigen Ausführungen noch einmal nach der Bedeutung der Servatiusfragmente für die Veldekephilologie, so können wir die These formulieren, daß sie im Rahmen der Auffassung, daß der Dichter sein vollständiges Werk in einer maasländischen Literatursprache verfaßt hat, innerhalb der Rekonstruktionsgrundlage dieses Werkes den zentralen Text bilden und deswegen eine außerordentlich wichtige Rolle spielen müssen. Auch bei Annahme eines hochdeutschen Grundtextes des Eneasromans und der Lieder haben sie auf jeden Fall diese Funktion für den ‘Servatius’; bei den anderen Werken müssen sie dann weiterhin eine Rolle spielen als Repräsentant der ‘Hintergrundsprache’, in der Veldeke dichten gelernt hat. Die Ausgabe des ‘Servatius’ von Frings/Schieb hat bewiesen, daß es möglich ist, auf der Grundlage von 342 Versen aus den Fragmenten, die größtenteils unvollständig überliefert sind, den Text der jungen Servatiushandschrift so umzuschreiben, daß er wenigstens unter den Aspekten Rechtschreibung und Lautlehre eine Gestalt bekommt, die dem Original sehr nahe stehen muß. Mit etwas mehr Vorsicht, als die Leipziger Gelehrten damals an den Tag gelegt haben, ist auch unter anderen grammatischen Aspekten, in lexikologischer Hinsicht und auch bezüglich des Textaufbaus sehr nah an das Original heranzukommen. Aber gerade für diese Aspekte ist es wichtig, über mehr Text der alten Handschrift zu verfügen als jenem der zwischen 1883 und 1940 veröffentlichten Bruchstücke. Der Fund der sieben neuen Pergamentstreifen, die ganz oder teilweise 145 weitere Verse aus dem ersten Teil der Legende enthalten, ist deswegen für die Veldekephilologie von großer Bedeutung, und auch für die Sprachgeschichte des Maaslandes und des niederländischen Raumes ist seine Wichtigkeit nicht zu unterschätzen. |
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