Zur Diatopie der deutschen Dialekte in Belgien
(1979)–Hartmut Beckers, José Cajot– Auteursrechtelijk beschermd
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José Cajot - Hartmut Beckers
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1.1. Begrenzung der deutschen Mundarten in Belgien (Karte 1)Die Abgrenzung unseres Untersuchungsgebiets* innerhalb Belgiens erfolgt nach der Definition der deutschen Mdaa. von GoossensGa naar eindnoot1: Deutsche Mdaa. sind mit der deutschen Hochsprache verwandte Dialekte, die in einem Gebiet gesprochen werden, in dem das Deutsche, und keine enger verwandte Sprache, die Rolle einer Kultursprache erfüllt. Weil innerhalb der kontinentalwestgermanischen Dialekte nur kontinuierliche Übergänge und keine Bruchstellen existieren, setzt uns diese Definition in den Stand, die niederländischen und die deutschen Mdaa. gegenseitig abzugrenzen; auf belgischem Boden fällt diese Grenze mit keinem einzigen wichtigen Isoglossenbündel zusammenGa naar eindnoot2. | ||||||||||||||||||||||||||||
1.1.1. Die Region Eupen-Sankt-VithNach den Sprachgesetzen von 1963 bildet diese Region das deutsche Sprachgebiet Belgiens (zwar mit geschützter Minderheit französischer Sprache), und untersteht in kulturellen Angelegenheiten seit 1974 dem selbstgewählten ‘Rat der deutschen Kulturgemeinschaft’. Seit den sechziger Jahren hat die Bedeutung der deutschen Hochsprache in allen Bereichen stetig zugenommen; das Frz. tritt in den höheren Verwaltungskreisen, im Geschäftsleben und als Unterrichtssprache in der Oberstufe der Mittelschulen bzw. Gymnasien auf. | ||||||||||||||||||||||||||||
1.1.2.Alle übrigen Orte des Königreichs Belgien gehören nach den Sprachgesetzen von 1963 entweder dem ndl., dem frz. oder dem zweisprachigen (d.h. ndl.-frz.) Gebiet an. Nach der Definition von Goossens sollten die germanischen Mdaa. des Gebiets mit ndl. Hochsprache ndl. genannt werden; dies ist auch der Fall für die germanischen Mdaa. jener (z.B. zweisprachigen) Orte, in denen neben dem Ndl. auch das Frz. als Kultursprache gilt. Am Ostrand des offiziellen frz. Sprachgebiets werden in einer Anzahl von Dörfern aber Mdaa. gesprochen, die - obwohl das Frz. dort zur Hochsprache wurde, und manchmal auch in den Familienkreis eingedrungen ist - germanisch sind, und daher nicht frz. genannt werden können. Es handelt sich dabei 1. um Altbelgien-Nord, 2. um Altbelgien-Mitte und 3. um Altbelgien-Süd. Diese Orte bildeten die einzige deutschsprachige Region Belgiens bis 1919, d.h. des belgischen Staatsgebiets vor dem Anschluß von Eupen-St.-Vith-Malmedy (1919-1925)Ga naar eindnoot3. Seit dem ersten Weltkrieg hat die Rolle des Deutschen zugunsten des Frz. abgenommen, und 1945 verschwand jede offizielle Spur des Hochdeutschen. Seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis zum zweiten Weltkrieg konnten diese Mdaa. durch die Anwendung des Verwandtschafts- und des Überdachungskriteriums aus der Definition von Goossens also mühelos deutsch genannt werden. Auch jetzt können die einheimischen Mdaa. aus diesem Gebiet nicht als frz. angesehen werden, - um sie aber deutsch nennen zu können, sollte man eine gewisse Überdachung durch die deutsche Hochsprache voraussetzen können. Es leuchtet ein, daß der Begriff ‘Überdachung’ durch die dominierende Rolle des Frz. gegebenenfalls großzügiger als im offiziellen deutschen Sprachgebiet ausgelegt werden muß. Sprachliche Bereiche, in denen dem Deutschen noch hochsprachliche Funktionen zukommen, sind selten. | ||||||||||||||||||||||||||||
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Nach meinen Belegen beschränkt sich die Rolle des Hochdeutschen, was den aktiven Sprachgebrauch betrifft, auf einige Orte, die ans offizielle deutsche Sprachgebiet grenzen: in Gemmenich, Moresnet und Membach z.B. bedient man sich in der Kirche regelmäßig des Hochdeutschen. Sonst ist der einheimische Kontakt mit dem Hochdeutschen nur rezeptiv: Die Programme des deutschen Fernsehens und die deutschen Sendungen des belgischen oder des luxemburgischen Rundfunks werden häufiger gewählt als in der wallonischen Nachbarschaft; auch deutschsprachige Tageszeitungen (im Norden das ‘Grenz-Echo’, im Süden das ‘Luxemburger Wort’), Werbeblätter und Illustrierte werden dort häufiger als in der ndl.sprachigen und wallonischen Umgebung gelesenGa naar eindnoot4. | ||||||||||||||||||||||||||||
1.1.3.Das Areal der deutschen Mdaa. Belgiens wird also im Westen durch die romanisch-germanische Sprachgrenze abgegrenztGa naar eindnoot5. Im Norden begegnen wir der belgischniederländischen Reichsgrenze, die gleichzeitig Kultursprachengrenze ist. Auf belgischem Boden verläuft die Grenze zwischen Ndl. und Deutsch zwischen den Voet-Orten Teuven und Remersdaal einerseits und Sippenaken/Homburg andererseits: In der Voer-gemeinde fungieren Ndl. und Frz. - nicht aber das Deutsche - als Kultursprachen; in Sippenaken und Homburg ist das Frz. Kultursprache, Hochdeutsch wird nur in wenigen Lebenssituationen verwendet. Auf jeden Fall ist diese Grenze eine deutliche Bruchstelle im Gebrauch des Ndl., was den belgischen Staat dazu veranlaßte, die Voer-Orte der ndl.sprachigen Provinz Limburg anzugliedern. Die Weiterziehung der Grenze in südlicher Richtung stellt jedoch ein Problem dar. Die Gemeinde Aubel besteht aus 3 Ortsteilen: Der westliche St.-Jean-Sart ist wallonisch, Aubel-Zentrum und der kleine Ortsteil Klause sprechen germanische Dialekte. Die sprachlichen Verhältnisse in Klause lassen sich mit denen Sippenakens und Homburgs vergleichen; in Aubel-Zentrum fehlt seit einigen Jahrzehnten - im Gegensatz zu den Voer-Orten - die deutliche Präsenz des Ndl. Der weiteren Betrachtung lege ich die Grenze, die seit den 30er Jahren gibt, zugrunde und bin mir der Tatsache bewußt, daß dieser Entscheidung - rein synchronisch betrachtet - vielleicht etwas Willkürliches anhaftetGa naar eindnoot6. | ||||||||||||||||||||||||||||
1.2. Die deutschen Mdaa. BelgiensDie deutschen Mdaa. Belgiens bilden keine in sich geschlossene Gruppe, sondern sie fügen sich mit anderen deutschen Mdaa. und mit denen des ndl. Sprachraums in größere Räume ein.
Weil die einzelnen Grenzen verschiedener Sprachformen ohnehin die Neigung haben, sich zu einem Linienbündel zusammenzufügen, und sich die althochdeutsche Lautverschiebung in einem großen Teil des Kontinentalwestgermanischen gestaffelt durchgesetzt hat, ist es verständlich, daß die sprachgeographischen Unterschiede in der Entwicklung der wg. stimmlosen Okklusivlaute als praktische Begrenzer mehr oder wenig einheitlicher Mdagebiete verwendet werden (Siehe Karte 2).
Die Anwendung einer solchen skizzenhaften Einteilung auf den deutschsprachigen Landesteil Belgiens zerlegt das Gebiet - vorläufig ohne die zahlreichen Übergänge zu berücksichtigen - in 3 Bereiche (Karte 1 u. 3): | ||||||||||||||||||||||||||||
1.2.1.Südniederfränkisch nennt man den Bereich zwischen der ik/ich- (oder Ürdinger) Linie und der maken/machen- (oder Benrather) Linie; | ||||||||||||||||||||||||||||
1.2.2.Ripuarisch heißt das Gebiet zwischen der Benrather Linie und der dorp/dorf-(oder Eifel-) LinieGa naar eindnoot7; | ||||||||||||||||||||||||||||
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Karte 2
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1.2.3.Moselfränkisch nennt man die Dialekte zwischen der Eifellinie und der dat/das-(oder Hunsrück-) Linie, die bei Metz die romanisch-germanische Sprachgrenze erreicht.
Die in jüngerer Zeit entstandenen Staats- und Kultursprachengrenzen werden also von den jeweiligen Dialektscheiden überquert; letztere berücksichtigen vor allem die lautlichen (oft auch morphologischen) Elemente, d.h. das stabilere Gerüst des Sprachsystems. Systematische Untersuchungen sich schneller verändernder Sprachelemente, nämlich des Wortschatzes, zeigen aber, daß sich die modernen Staatsgrenzen relativ schnell bemerkbar machen; vor allem für neue Begriffe sind die Mdaa. dem fast zwingenden Einfluß der überdachenden Hochsprachen ausgesetzt. Dies wird z.B. aus Karte 4, die die Mdabezeichnungen für das Feuerzeug zeigt, deutlich: Feuerzeug im deutschen und Eupen-Sankt-Vither Raum, briquet in den altbelgischen Gebieten, und aansteker in den benachbarten Mdaa. der Niederlande. |
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