Nr. 36 und 94
Diese beiden Lieder sind für die Geschichte des Antw. Ldb. von 1544 und seiner Wirkungen hochbedeutsam. Wir wissen vom Erfolg dieser Liedersammlung, die zweischen 1534 und 1544 drei Auflagen erlebte, von der uns aber lediglich die dritte in einem einzigen Exemplar in Wolfenbüttel erhalten geblieben ist (s. Neuausgabe 1972 Bd. 2, S. XI). Schon 1546 verfiel das Lb. dem Verdikt der katholischen Universität Leuven, es wurde aus dem Handel gezogen, die in Umlauf befindlichen Exemplare z.T. konfisziert (vgl. a.a. O.S. XXVIII). Trotzdem zeichnet sich der Erfolg der Liederslg. noch sehr nachdrücklich in den zeitgenössischen Hss. ab. Die Darfelder Ldhs., die insgesamt einen reichen Niederschlag von Liedern aus dem Antw. Ldb. (A) verzeichnet, weist unter D 36 und 94 zwei bemerkenswerte Zeugnisse von ganz unterschiedlicher Aussagekraft auf.
D 36: Die Aufzeichnung von Katharina von Bronckhorst von ca. 1546 ist unmittelbar abhängig von A 161. Bei Johannes Koepp, Untersuchungen über das A. vom Jahre 1544, Antwerpen 1927, wird dieses Lied nicht behandelt; in der kommentierten Neuausgabe von 1972 ist es ebenfalls nicht vertreten, da es keine Melodieüberlieferung besitzt. Koepp a.a. O.S. 58 rechnet es zu den Liedern hd. Herkunft. Dies wird zutreffen, denn manche fehlenden Reime lassen sich durch Rückübersetzung ins Hd. rekonstruieren: z.B. 1/3 und 13/15 gast: g(e)last; 17/19 fell: hell; 31 verdrießen: schießen; Weiteres s. zu D 94. Das 6strophige Tagelied D 36 erweist sich als eine ziemlich wortgetreue Rezeption des Textes in A 161. Die Kopie kam aber offensichtlich nicht durch direkte Abschrift aus der Quelle zustande, sondern wohl durch Diktat, woraus sich zahlreiche Abweichungen in der Schreibweise einiger Wörter, ferner Hörfehler und auch manche Textverbesserungen erklären lassen. Ein kurzes Verzeichnis der Lesarten vermag dies zu verdeutlichen (D wird zuerst genannt): 2 stange [stranghen; 8 schoin [schoon lief; 10 waddens [wat dinghe; 14 haren [lacen; 28 herter [heeter; 32 by hartz hertzen [beyde haers herten; 34 schynen [schieten.
Wie viele Lieder in A wirkt auch dieses Stück keineswegs wie aus einem Guß, sondern läßt Spuren vorangegangener Traditionsstufen erkennen. Die neunzeilige Strophe mit dem Reimband ababcdccd ist in Str. I und II um eine Zeile gekürzt, auch sonst vielfach verderbt.
D 94: Diese Fassung liefert uns die bisher unbekannte vollständige Vorlage für das in A 161 = D 36 nur fragmentarisch überlieferte Tagelied. Es ist zusammen mit den Texten Nr. 90-93, 95-97 und 99 von unbekannter Hand ohne Datierung gegen Ende der Hs. eingetragen worden. Wir dürfen es als einen Glücksumstand betrachten, daß unsere Hs. hier die bisher unbekannte Vollform des Tageliedes bewahrt hat. Allerdings wäre es unzutreffend, D 94 als mit der gesuchten Vorlage für A 161 identisch zu bezeichnen, aber diese 13strophige Aufzeichnung stellt doch mehr als einen Ersatz dafür dar. Zumindest inhaltlich läßt sich die vollständige Überlieferung des in A 161 = D 36 nur verkürzt erhaltenen Modells jetzt überblicken. Die 8 Plusstrophen zeigen, daß das Lied keineswegs ohne die Abschiedszeremonie war,