Nr. 9, 77
Zwei Aufzeichnungen einer Liebesklage in volkstümlicher vierzeiliger Strophenform, die zwar einem gemeinsamen Typus zugehören, sich aber durch einen (längeren?) Traditionsprozeß schon erkennbar voneinander entfernt haben.
Zu D 9: Es ist die erste Eintragung eines Schreibers, der mit insgesamt sieben Liedern in der Hs. vertreten ist (Nrr. 9, 10, 11, 47, 56, 59, 67), seine Identität aber nicht zu erkennen gibt und auch keine Datierung vornimmt. Bei den Texten Nr. 10 und 59 läßt er seine Zugehörigkeit zum Adel aber eindeutig dadurch erkennen, daß er seine Initialen EBA (Name oder Devise?) mit einer Krone versieht. Die Schrift ist eine zur Flüchtigkeit und vielen Wortverbindungen neigende Kursive (z.B. Z. 2: alinden); diese Verbindungen wurden in der Edition um einer besseren Lesbarkeit willen nicht beibehalten. Den Text von D 9 druckt A. Hübner in Volkstum und Heimat 1929, S. 177.
D Nr. 77: Eingetragen von Johain von Raisfelt, dem wir außerdem die Lieder Nr. 74-76 und 78 verdanken.
Parallelen zu diesem Liedtypus sind bisher nicht zu ermitteln gewesen. Ein ähnlich klingender Liedanfang Groß lieb hat mich umfangen (z.B. in der Hs. Mgq 612 [1574], Nr. 71) hat mit unseren Texten nichts zu tun. Möglicherweise enthält die Benckhäuser Ldhs. der Anna Lüning von 1573-1588, Nr. 10 eine Konkordanz, aber leider hat P. Alpers, NdZfVk 1 (1923) S. 111 nur das Incipit des dreistrophigen Liedes mitgeteilt:
Groß leyt drage ych forborgen
das my tho dem hertzen geyt...
Der Vergleich der beiden in D überlieferten Texte gibt willkommenen Einblick in die Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit, mit der die in der damaligen Lebenssphäre populären Lieder gehandhabt, weitergegeben und an die jeweilige persönliche Situation angepaßt wurden: in D 9 ist der Text ihr in den Mund gelegt, in D 77 ihm. Auch sonst unterscheiden sich die beiden Lieder beträchtlich: die Reihenfolge der Strophen wechselt, D 9 kermt nur vier Strophen, die mit den Strophen I, IV, II und III von D 77 korrespondieren. In den letzten drei Strophen steht D 77 allein, ohne daß man von einer unorganischen Aufschwellung durch Wanderstrophen reden müßte. Der eigentliche Gedankengang kommt in der kürzeren Form D 9 schärfer heraus, indem sie mit der Schilderung der letzten Begegnung schließt; die längere Fassung dagegen endet mit einem hoffnungsvollen Ausblick auf die Zukunft. Ob der vieroder siebenstrophigen Fassung die zeitliche Priorität zukommt, ist kaum zu entscheiden. Die längere entspricht mehr der etwa auch im heutigen Schlager noch häufig anzutreffenden zeitlos-konventionellen Haltung des Liebenden, der trotz aller Enttäuschungen die Hoffnung auf ein glückliches Ende nicht fahren lassen will. Die kürzere steht sicherlich unter dem Einfluß der nd. Liederdichtung der Zeit, der durchweg ein mehr realistisdies Gepräge anhaftet (vgl. dazu die in diesem Geist geschaffenen Texte D 45, 56, 103).
Der Schreibervers bei D 77, ein Priamel, steht ähnlich im Nd. Reimbüchlein d. 16. Jhs. Bl. 28 (ed. W. Seelmann, S. 7):