Die Darfelder Liederhandschrift 1546-1565
(1976)–Katharina van Bronckhorst en Batenborch– Auteursrechtelijk beschermd7. Die SpracheWir haben bisher die sprachliche Seite der Texte dieser Liederhandschrift aus unseren Untersuchungen ausgeklammert. Bei einer Darstellung aller Aspekte der Quelle darf jedoch die Sprache nicht übergangen werden, so schwierig dieses Gebiet auch erscheinen mag. Es war schon von den Schwierigkeiten die Rede, ältere Liederhandschriften als Quelle historischer Dialektforschung heranzuziehen. Diese Schwierigkeiten rühren vor allem daher, daß sich der Überlieferungsträger in seinen Liedtexten nicht unmittelbar in der Umgangssprache oder in der Mundart ausspricht, sondern daß ihm die Texte auf verschiedenen Wegen vermittelt werden und er dadurch zum Glied einer Kette wird, bei der es oft nur mit Mühe auszumachen ist, worin der individuelle Anteil einer historischen ‘Gewährsperson’ jeweils besteht, was aus der vorangehenden Textgeschichte und was aus gesprochener Sprache abzuleiten sein wird. Hinzu kommt bei der Darfelder Liederhandschrift wie bei vielen anderen im vorigen Abschnitt aufgeführten nordwestdeutschen Sammelhandschriften der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Problem der Sprachmischung. Die genannten Quellen entstammen einem Gebiet, das sich als Grenzzone zwischen hoch- und niederdeutscher Schriftsprache und Mundart in einer Periode der allgemeinen sprachlichen Unsicherheit und des Übergangs befand. Einflüsse aus dem Hochdeutschen, dem ripuarischen Mitteldeutschen des Kölner Raumes, dem Niederdeutschen, dem Niederländischen und der bodenständigen niederfränkischen Mundart überschneiden und verbinden sich in dem Liederbuch zu einem Dokument, das sprachlich deshalb keinesfalls als einheitliches Ganzes, sondern gerade als Ausdruck des Ringens verschiedener Kulturkomplexe aufgefaßt werden kann. Räumlich gesehen sind es der Kulturraum Köln, die Niederlande und der (hoch-) deutsche Kulturraum, die über diesen Zeitraum hinaus auf das Niederfränkische (Geldrisch-Klevische) einwirken. Unsere Aufgabe kann nicht darin bestehen, alle hier entstehenden Fragen einer Lösung zuzuführen. Allein schon Raumgründe verbieten es, diese Erörterungen zu einer ausführlichen Grammatik der Sprachen imseres Dokuments ausufern zu lassen. Was geleistet werden kann, besteht vor allem darin, einen Einblick zu geben in die Schichtung des Liederbuches durch die Aufschlüsselung der verschiedenen sprachlichen Einflußsphären. Richten wir unseren Blick zunächst auf die Teile der Handschrift, in denen sich die Schreiber mit rein hochdeutschen Stücken verewigten. Der hochdeutsche Einfluß auf unsere Liederhandschrift ist insgesamt ganz unverkennbar und wurde im voranstehenden Abschnitt bei der Erwähnung der hochdeutschen Liederbücher, die als Quellen für D in Frage kommen, bereits gestreift. Das literari- | |||||||||||||||||||||||||||
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sche Übergewicht des hochdeutschen Liedes war zu allen Zeiten viel zu stark, als daß sich eine Liedersammlung mit dem Anspruch auf ein repräsentatives Repertoire dem Einfluß dieses Liedgutes hätte entziehen können. Nun ist aber auffällig und bedarf starker Betonung, daß das hochdeutsche nachhöfische Liebeslied keinesfalls unverandert und buchstabengetreu in die Darfelder Sammelhandschrift Eingang findet, sondern weitgehende sprachliche Anpassung an die am Niederrhein und in Westfalen damals herrschenden Schreibgewohnheiten erfährt. So sind die hochdeutschen Stücke in unserer Handschrift nicht allzu häufig. Sie gehen vielfach auf direkte Vermittlung von Schreibern aus hochdeutschem Sprachgebiet oder auf direkte hd. Quellen zurück (s. D 42, 103; 2, 54, 58, 85, 91, 104). Aber auch aus der Feder von Angehörigen der Familie Bronckhorst-Battenburg, bei denen eine ursprüngliche Bindung an die niederfränkische Mundart vorausgesetzt werden darf, fließen mitunter rein hochdeutsche Stücke wie D 43 (von Anna von Bronckhorst) ein. Sogar bei der holländischen Schreiberin M. van Merode (D 57) taucht in einem Fall ein hochdeutsches Stück auf. Gegenüber diesem hochdeutschen Anteil von 10 Texten fallen die niederdeutschen Lieder unserer Handschrift besonders deswegen stark ins Gewicht, weil sich darunter nicht weniger als 12 bisher unbekannte Stücke befinden. Von insgesamt 14 niederdeutschen Liedern in D sind also 12 Unicate. Hier liegt der bedeutendste Gewinn der Darfelder Handschrift für die niederdeutsche Liedforschung, und gleichzeitig tragen diese wertvollen Liedtexte zu der Erkenntnis bei, daß der niederdeutsche Raum im 16. Jahrhundert einen eigenen Liederschatz besaß, der größer ist als bisher angenommen und der den von Uhland und von Alpers veröffentlichten Corpus weit übertrifft, wenn erst einmal alle niederdeutschen Handschriften systematisch auf ihre Beiträge zur Erweiterung des Überlieferungsstandes ausgewertet sind. Bis dahin scheint noch ein weiter Weg. Der Herausgeber der vorliegenden Edition wäre besonders froh, wenn seinem Beispiel folgend die Arbeit an den Quellen wieder intensiver betrieben würde. Hier folgt ein Überblick über die niederdeutschen Stücke unserer Handschrift, wobei niederdeutsch nicht im heute üblichen Sinne aufzufassen ist, sondern die niederfränkische Sprache der Herkunftslandschaft des Liederbuches bezeichnet: D 9/77 Grois leith drege idt forborgen; D 13 (Abb. 4) Myn seyn haeff ych aen eym gelacht; D 19 (Abb. 6) Truwe ogen myn; D 39 Ich weet noch eyn; D 45 Der werlt untruwe ys mannych folt; D 55 Myn leyff und ych wyr synt gescheden; D 56 Ich habe gesadth in minen sin; D 82 Ych hadt ennen gueden frundt; D 84 Der morgen stern der hait sich auff gedrungen; D 90 Durch dummen sin; D 99 Ffrou Ffenuys wyl mydi morden; D 106 Das soette nyen yar. Aus der Entstehungsgeschichte der Handschrift lassen sich die niederländischen Einflüsse relativ mühelos erklären. Aber die dynastischen Verbindungen des Hauses von Bronckhorst-Battenburg mit den niederländischen Familien der Brederode und Renesse sind allein nicht als Erklärung für das Vorhandensein niederländischen Liedgutes in unserer Handschrift ausreichend, Der Kulturströmung von Süd nach Nord, mit der oberdeutsches Gut an den Niederrhein und in die Niederlande getragen wurde, entsprach seit dem ausgehenden Mittelalter in Malerei, Baukunst und | |||||||||||||||||||||||||||
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nicht zuletzt in MusikGa naar voetnoot40 eine kulturelle Gegenströmung, in deren Gefolge auch niederländische Lyrik nach Niederdeutschland und den Rhein aufwärts gelangte. Ein frühes Zeugnis für die Übernahme eines mittelniederländischen Liedes in eine oberdeutsche Liederhandschrift ist Ein vrouleen edel von natüren im Lochamer-Liederbuch Nr. 18. Dieser ‘Import’ läßt sich nach Chr. PetzschGa naar voetnoot41 mit den seit dem 14. Jahrhundert bestehenden engen Handelsverbindungen zwischen Nürnberg und Flandern erklären. Beckmann (S. 9) hat darauf hingewiesen, daß auch der Ander theil von Forsters Liedlein (1540) mit einem niederländischen Lied Es sout ein Meiskin halen winGa naar voetnoot42 beginnt und daß in der gleichen Ausgabe noch zwei Einleitungsstrophen niederländischer Rederijkergedichte folgen: Nr. 26 Ich weet ein Vrauken amoreus und Nr. 27 Ich seg adiu wy twe wy moeten scheidenGa naar voetnoot43, die einer frühen Auflage des Antwerpener Liederbuches zu entstammen scheinen. Auch in die Heidelberger Hs. Pal. 343 hat unter Nr. 160 ein niederländischer Text in zerrütteter Form Eingang gefunden: Ich het mir ein stetigkh lifikin. Insgesamt zählen wir 17 Texte niederländischer Abstammung in unserer Handschrift, die im folgenden aufgeführt werden sollen: D 1 Lyden is myn beste cleet; D 17 De wynter ys verganen; D 18 Myn senkens synt my tortagen; D 24 Ryck Got, wie sail ich klagen; D 27 Het viel eyns kolen douwe; D 31 Ich byn umb eynre frouwe wille; D 33 Ghen besser freudt up erden niet en is; D 34 Ghen Boeser ding up erden niet en is; D 35 Gheyn beter freudt up erden niet en is; D 36 Waeckt up, waeckt up, du warde gast; D 37 Wie kompt dat by; D 40 (Abb. 7) Eyn Venus dierken had ich uytherkoren; D 41 Ffreys unde ffreylych wyll ych myth halden; D 61 Reyn Edel ioffrau fyn; D 69 En allen mijn jonck leven; D 79 O Kuepedo al met die liefde stralen; D 80 Al om een joncfroukens wille. In diesem Verzeichnis sind auch die aus dem Antwerpener Liederbuch geschöpften Texte (D 24, 27, 31 und 36) sowie einige niederländische Übersetzungen ursprünglich hochdeutcher Lieder wie D 31, 34, 35 und 36 enthalten. Besonders auffällig ist die Häufung niederländischer Texte bei der Besitzerin der Liederhandschrift, dem Fräulein von Bronckhorst. Neun der von ihr eingetragenen 20 Liedtexte stammen aus den Niederlanden. Durch das hier gehandhabte Auswahlverfahren zur sprachlichen Schichtung der 106 überlieferten Texte haben wir 10 hochdeutsche, 13 niederfränkische und 17 niederländische Texte aussondern können, zu denen noch der französische Liedbeleg D 87 zu zahlen wäre. Der verbleibende Rest von 64 Texten, somit also die Hauptmasse der Lieder unserer Quelle, bleibt für die Rubrik der sog. Mischsprache übrig. Die Darfelder Handschrift teilt diese Sprachmischung von ripuarischen und niederfränkischen Bestandteilen mit vielen anderen Handschriften dieser Periode; ja auch schon in älteren Dokumenten um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert liegen reichlich | |||||||||||||||||||||||||||
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Textzeugnisse für diesen Prozeß der Sprachmischung vor. Wir können die Ebstorfer Liederhandschrift aus einem Benediktinerinnenkloster in der Lüneburger Heide heranziehen, deren geistliche Lieder und Sprüche zwischen 1490 und 1520 eingetragen wurden. Die Frage nach der Ursache der dort erstmals an Liedzeugnissen in größerem Maße in Erscheinung tretenden Sprachmengung beantwortet Edward Schröder so: ‘Die Frage: ob nach einer Vorlage? oder Niederschrift aus dem Gedächtnis? muß für jedes der... Stücke einzeln gestellt werden, wenn auch nur für wenige sich die Antwort der letzteren Entstehung zuneigen mag. Auf die Sprachmischung, die der Feder des Schreibers unmittelbar entstammt, ist bei älteren Denkmälern hundertfach hingewiesen worden, auf die oft noch rücksichtslosere, welche das unsichere Gedächtnis des naiven Menschen vollzieht, hat man bisher fast nur bei dem modernen Volkslied geachtet’Ga naar voetnoot44. Auf den gleichen Vorgang der Sprachmischung in Liedtexten hat Paul Alpers bei der Benckhäuser Liederhandschrift von 1573-1588 aufmerksam gemacht: ‘Die Sprache der Handschrift (ist) ein hoch-niederdeutsches Gemisch, ein “Missingsch”, wie wir es in den meisten in Norddeutschland geschriebenen Liederbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts finden: die Schreiber, deren Muttersprache das Niederdeutsche ist, versuchen Hochdeutsch zu schreiben; das Niederdeutsche lugt aber an allen Ecken hervor, bei dem einen Schreiber mehr, bei dem anderen weniger’Ga naar voetnoot45. Ein drittes Zeugnis sei zum Beweis dafür angeführt, daß das Phänomen der Sprachmischung keineswegs auf das Darfelder Liederbuch beschränkt ist. Wir entnehmen es der Beschreibung der Quarthandschrift von 1579 von Fr. J. Mone, der sich seinerseits auf die Mitteilungen des Frhrn. W. von Haxthausen, des vormaligen Besitzers der Handschrift, stützen konnte: ‘Fast alles hochdeutsch, man sieht schon den Andrang des Hochdeutschen, das in geschriebenen und gedruckten Sachen schon das Niederdeutsche verdrängt. Im Umgange und Gespräch war dieses selbst in den vornehmsten Ständen bis zur jetzigen Generation nicht verschwunden und hat sich in einigen Familien erhalten. Ganz rein niederdeutsch ist kein einziges Lied, wenigstens in der Orthographie, überall kommen Spuren der vordringenden Büchersprache vor, welche zwar nicht gesprochen wurde, beim Schreiben aber von selbst durch den Unterricht und die Gelehrten (Licentiaten etc.) nach und nach hervortreten mußte...’Ga naar voetnoot46. Für die genannten Quellen genau wie für unsere Liederhandschrift gilt die grundlegende Erkenntnis, daß die Liedüberlieferungen der Zeit Teil hatten an den allgemeinen sprachlichen Entwicklungen und Strömungen, ja mehr noch, daß uns in ihnen eine Quellenschicht von hohem Aussagewert zur Verfügung steht, die von der historischen Sprachforschung bisher nicht oder aber nur am Rande ausgewertet wurde. Darauf hatte schon Hübner 1927 in seinem Vortrag zur Darfelder Handschrift hingewiesen, wir wollen seine Sätze dazu wiederholen: ‘Wenn man die | |||||||||||||||||||||||||||
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“monstrose” MischspracheGa naar voetnoot47 nun aber betrachtet im Lichte jenes Ringens zweier Kulturkomplexe, wie es sich dort am Niederrhein, im Cleverland und seinen Nachbargebieten einmal abgespielt hat, dann gewinnen gerade diese Texte das größte Interesse...; für die historische Unterbauung dieser wertvollen dialektologischen Erkenntnisse [von Th. Frings] steckt in der Darfelder Handschrift (wie auch in ihren Verwandten) ein Material, das die rheinische Mundartenforschung noch nutzen muß’Ga naar voetnoot48. In der Sprachgeschichte sind bisher vor allem Urkunden zur Untersuchung der sprachlichen Prozesse herangezogen worden. So kennen wir heute die Entwicklung der Kanzlei- und Amtssprachen recht genau, aber was ihre Aufnahme in die gesprochene Sprache betrifft, so findet man in der einschlägigen Literatur nur allgemeine und wenig befriedigende Aussagen. So heißt es z.B. bei T. Sodmann in einer neueren Darstellung über den Untergang des Mittelniederdeutschen als Schriftsprache: ‘Zunächst gingen die Kanzleien voran, aber die Aufnahme des Hochdeutschen geschah nicht nur durch sie oder die oberen Schichten, sondern wurde von allen Bevölkerungsschichten vorgenommen’Ga naar voetnoot49. Ähnlich urteilt A. Lasch, das von Süden andringende Hochdeutsche sei mündlich von allen Bevölkerungsschichten aufgenommen worden, habe sich ‘vorgeschoben im Austausch, im persönlichen Verkehr, allmählich die Umgangssprache immer mehr gewinnend’Ga naar voetnoot50. Mit den Liedtexten unserer Handschrift erhalten wir - so will es uns scheinen - einen Einblick in den differenzierten Ablauf dieses in Umrissen bekannten, aber in seinen Auswirkungen auf das einzelne Individuum noch reichlich unerforschten Prozesses. Unsere Liedtexte stehen der gesprochenen Sprache zweifellos näher als die Amtssprache der Urkunden, und so konnte schon Hübner über den Quellenwert der Handschrift urteilen: ‘Damit bietet sich in der Darfelder Handschrift und ihren Genossen eine Quellenschicht dar, die die Urkunden nicht nur ergänzt, sondern vielleicht an Wert übertrifft. Wir lernen uns ja allmählich befreien von der Vorstellung, als wenn Urkunden die treuesten Zeugen landschaftlicher Sprache wären: Urkunden sind meist von berufsmäßigen Schreibern geschrieben, und wo berufsmäßige Schreiber sind, ist immer auch Schreibtradition. In unserem Stammbuch haben wir weithin eine viel rohere, aber auch unbefangenere Form der Aufzeichnung: darin liegt sein Wert für die Sprachgeschichte’Ga naar voetnoot51. | |||||||||||||||||||||||||||
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Stellen wir nun die konkrete Frage, welche sprachlichen Neuerungen es waren, die durch das an eine bestimmte Gesellschaftsschicht gebundene Liedgut transportiert wurden, so fällt an unseren 64 Texten in Mischmundart, von denen die weitaus größte Zahl oberdeutsche literarische Traditionen repräsentiert, vor allem der Umstand auf, daß es einzelne Leitformen und -wörter sind, die die sprachlichen Neuerungen über die Sprachgrenze hinaus weitertragen: Es sind die lautverschobenen Formen der Pronomina ich, mich, sich, ferner Wörter mit der Ableitungssilbe -lich, die zunächst in einem niederfränkischen Text als auffällig erscheinen müssen. Aber die Texte der Darfelder Handschrift vollziehen hier nur eine Erscheinung mit, die nach FringsGa naar voetnoot52 bereits im 14./15. Jahrhundert einsetzt und die dazu geführt hat, daß diejenige Linie des sog. rheinischen Fächers, die Ürdinger Linie, die ik und ich scheidet, am weitesten nach Norden ausgreift. Es scheint, als ob ganz bestimmte verschobene Formen im Zusammenhang von Liedtexten für die Überlieferungsträger die Funktion des ‘sprachlichen Mehrwerts’ erfüllten und daß sie sich an diese moderne Aussprache bestimmter Leitformen gewöhnt hatten. Dazu gehört sicher ich, dazu gehört aber zweifellos ein zweites hochdeutsches Leitwort, nämlich hertz. Mit diesem Wort dringt die Verschiebung von t zu tz in das niederfränkische Gebiet vor, und es konnte nicht ausbleiben, daß auch benachbarte Wörter mit auslautendem t von dieser Bewegung ergriffen wurden. Ähnliche Entwiddungen ließen sich an einer Reihe weiterer Leitwörter wie kleffer (Verschiebung p > ff), zit (Verschiebung t > tz) usw. aufzeigen. Wir wollen einer längst fälligen sprachgeschichtlichen Auswertung der Darfelder Handschrift und ihrer Verwandten hier nicht vorgreifen, dürfen aber mit HübnerGa naar voetnoot53 hier die Vermutung aussprechen, daß das hochdeutsche Lied bei der Ausbreitung hochdeutscher Wortformen eine bedeutsame Rolle gespielt hat, auf die man in der künftigen Forschungsarbeit vielleicht etwas mehr achten sollte. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich die Mischsprache des Niederrheins lautverschobenen Formen gegenüber positiv verhält, unter Bevorzugung gewisser Modeund Leitwörter, wie sie in den Liedtexten auftauchen. Demgegenüber ist noch kaum Neigung zur Übernahme diphthongierter Formen zu erkennen, ja in sonst hochdeutschen Texten wird die Diphthongierung in unserer Handschrift vielfach sogar wieder rückgängig gemacht. Dieser Befund deckt sich mit der Tatsache, daß die Linien der neuhochdeutschen Diphthongierung nicht so weit nach Norden reichen wie die nördlichsten Linien der Lautverschiebung, sondern sidi zum Teil im Süden des Kölner Raumes fixiert haben. In einem mit Kollegen T. Sodman (Münster) geführten Briefwechsel faßt er seinen Eindruck von der Liederhandschrift in einer Abwandlung des obenerwähnten Alpers'schen Satzes zusammen: die Schreiber, deren Muttersprache das Niederfränkische ist, versuchen Hochdeutsch oder zumindest ripuarisches Mitteldeutsch zu schreiben; das Niederfränkische lugt aber an allen Ecken | |||||||||||||||||||||||||||
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hervor. Herrn Sodmann und Herrn Peters vom Germanistischen Institut der Universität Münster darf ich an dieser Stelle für kritische Durchsicht der Bemerkungen zur Sprache des Darfelder Liederbuches herzlich danken. Der Überblick über die sprachliche Schichtung des Darfelder Liederbuches bliebe unvollständig, erwähnten wir nicht den Einfluß des französischen Sprachelements, das sich in diesem Dokument zum ersten Mal deutlich bemerkbar macht. Dieses Vordringen französischer Sprache findet zunächst einmal darin seine Erklärung, daß in der Ahnenreihe der Bronckhorsts und Battenburgs auch französische Verwandte auftauchen (s. im folgenden Kapitel die Ausführungen Beckmanns zu den Wappentafeln). Aber auch Angehörige anderer Familien bedienen sich französischer Deviser oder Schreibersprüche, und ein J. Belhem trägt sogar ein fünfstrophiges französisches Liebeslied ein (D 87). Da wir in diesen Texten der Handschrift aufschlußreiche Frühzeugnisse für eine Welle zu entdecken glauben, die im 17. und 18. Jahrhundert die deutschsprachigen Liederhandschriften teilweise regelrecht überschwemmt hat, scheint uns eine Zusammenstellung der betreffenden Zeugnisse in D nicht ganz sinnlos. Der gesamte Fragenkomplex der französischen Einflüsse in den älteren deutschen Liedquellen verdiente im Zusammenhang behandelt zu werden.
Ein abschließendes Wort muß noch der Orthographie unserer Handschrift gewidmet werden, die vor allem dem Anfänger gewisse Schwierigkeiten bereitet. Das uneinheitliche und zum Teil verwirrende Bild bei der Schreibung der Vokale findet aber seine Erklärung darin, daß nach der damaligen Schreibpraxis die Länge durch nachgeschriebene Vokale zum Ausdruck gebracht wurde. In der Darfelder Handschrift herrscht das Verfahren vor, die langen Vokale durch einen nachgeschriebenen Vokal von verschiedener Qualität zu bezeichnen. Am häufigsten findet e Verwendung: ae, oe, ue, dann auch i bzw. y: ai (ay), ei (ey) oi (oy), ai (ay) und seltener u: ou. Im Anlaut vertritt s oftmals sch (z.B.D 17), da beide Laute einander nahestanden. Die in der Handschrift vorkommenden Abkürzungen (besonders Nasalstrich für -m, -n, -me) sind in der Edition aufgelöst worden. |
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