Die Darfelder Liederhandschrift 1546-1565
(1976)–Katharina van Bronckhorst en Batenborch– Auteursrechtelijk beschermd
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Einführung1. Zum ForschungsstandDie Bedeutung der Handschriften als Quellen der älteren Liedforschung ist unumstritten. Das Interesse der Forschung an diesem Quellensektor war jedoch nicht immer gleich rege und hat bisher keineswegs dazu geführt, daß wir einen lückenlosen Überblick über diesen Traditionsbereich besitzen. Zwar sind die wichtigeren Quellen zur Textgeschichte des älteren deutschen Liedes in der Literatur längst beschrieben, ausgewertet oder in Editionen zugänglich gemacht worden. Die Verdienste von Ludwig Uhland, Hoffmann von Fallersleben, Johannes Bolte u.a. für die Erschließung der Quellen stehen außer jedem Zweifel. Besonders ist aber dabei eines Mannes zu gedenken, der fast sein ganzes Lebenswerk in den Dienst der Quellenkunde des älteren deutschen Liedes gestellt und durch unzählige Aufsätze und Ausgaben die wesentliche Basis für alle weitere Forschungsarbeit bereitet hat: Arthur Kopp. Ohne das bewundernswerte Werk dieses Berliner Forschers wäre unser Wissen um das große Gebiet der nachmittelalterlichen Liederhandschriften sehr viel geringer. Um so bedauerlicher ist es, daß das Lebenswerk dieses Mannes bisher eigentlich keine Fortsetzung erfahren hat. Mit der Gründung des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg i. Br. im Jahre 1914 und den Aktivitäten von John Meier ist das Interesse der Forschung mehr auf die Sammlung und Untersuchung des jüngeren popularen Liedes gelenkt worden. Problembereiche wie ‘Kunstlieder im Volksmund’ und ‘Volksballade’, ferner das ‘Wunderhorn und seine Quellen’, das ‘Zeitungslied’, das ‘Flugblattlied’, das ‘Brauchtumslied’ usw. standen seitdem im Mittelpunkt der Forschungsarbeiten. Für die Erschließung von älteren handschriftlichen Liedquellen rührten sich nach dem 1. Weltkriege nur noch wenige Hände. Immerhin sind für den niederdeutschen Sprachraum die Arbeiten von Paul Alpers zu erwähnen; mit dem Wienhäuser Liederbuch von 1480 wird eine wertvolle spätmittelalterliche Handschrift aus klösterlicher Sphäre entdeckt. Auch nach dem 2. Weltkrieg ist bisher noch keine systematische Handschriftenforschung in Gang gekommen. Das meist von Privatinitiativen getragene Interesse wandte sich vor allem spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen zu, die der Forschung schon lange bekannt waren, die aber bisher einer historisch-kritischen Edition bzw. ausführlicher Analyse entbehrten. Das Lochamer-Liederbuch, das Augsburger Liederbuch, das Königsteiner Liederbuch, das Liederbuch der Anna von Köln und das Liederbuch des Johannes Heer von Glarus sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Vieles bleibt immer noch zu tun, besonders was das 16. und 17. Jahrhundert anbelangt. Der mit Handschriften so reich versehene Nachlaß von Karl Schulte Kemminghausen enthält noch manche ungehobene Schätze zur westfälischen Liedgeschichte, z.B. die Quarthandschrift von 1579 aus einem aufgehobenen Nonnenkloster. Noch immer warten so wichtige Liederhandschriften wie die des Augsburgers Valentin Holl von 1525 (im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg) oder | |
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die der Brüder Helmstorff von 1569/1575 (Berlin, Mgq 402) auf ihre Auswertung bzw. Edition, ganz abgesehen davon, daß Arthur Kopp die Berliner Liederhandschriften aus dem Meusebach-Nachlaß ja nicht ediert, sondern unter Beschränkung auf die Veröffentlichung weniger Textproben nur beschrieben hat. Der heutigen Forschung geht es nicht lediglich um die Erschließung neuer handschriftlich überlieferter Texte. Für sie stellen Liederhandschriften die wichtigsten Indikatoren für das Studium der Tradierungsprozesse des Liedes und seiner sozio-kulturellen Schichtung in der frühen Neuzeit dar. An den historischen Liederhandschriften lassen sich aktuelle Forschungsansätze realisieren, die um Begriffe wie Variabilität, Umformung, Vermittlung, Tradieren, Rezeption, Aneignung usw. kreisen. Lebens- und Überlieferungsbedingungen von Liedern im Spiegel ihrer handschriftlichen Tradierung und im Wechselverhältnis zur gleichzeitigen, durch den Buchdruck fixierten Parallelüberlieferung sind Fragen, denen sich aktuelle Liedforschung mehr und mehr zuwendet, indem sie Erkenntnisse aus der Untersuchung neuzeitlicher Liedtraditionen auf historische Quellenbereiche anzuwenden versucht. Von hier aus betrachtet stellen sich uns die bisher bekannten Liederhandschriften des 16. Jahrhunderts vielfach in neuem Lichte dar. Die von Ludwig Uhland bis zu Arthur Kopp reichende Forschungsrichtung war eine literaturwissenschaftlich und literaturästhetisch interessierte Handschriftenkunde und alles andere als eine volkskundliche Quellenforschung. Infolgedessen dominierte das Interesse an jenen Handschriftendokumenten, in denen der Forscher sprachlich ‘einwandfreie’ und formal vollständig tradierte Texte vorfand. Und so ist es kein Wunder, daß die wichtigste Edition, die Arthur Kopp vorlegte, mit der Heidelberger Handschrift Pal. 343 (Mitte des 16. Jahrhunderts) eine Quelle mit einem unvergleichlich ‘gepflegten’ Traditionszustand betraf. Fast ein Jahrhundert zuvor hatte bereits Joseph Görres den hohen Wert dieser Quelle erkannt. Spätestens seit Arthur Kopp unterscheidet die germanistische Handschriftenforschung bezüglich der nachmittelalterlichen Liedquellen zwischen erstklassigen Handschriften vom Typus der Hs. Pal. 343 und zweitklassigen Handschriften mit ‘verwilderter’, angeblich großteils unbrauchbarer Textüberlieferung. Diese Zweiteilung läßt sich unschwer mit einigen Zitaten aus den Handschriftenstudien von Arthur Kopp unter Beweis stellen. Zu der vom Niederrhein bzw. aus den Niederlanden stammenden Liederhandschrift aus dem Jahre 1568 (Mgf 752) heißt es beispielsweise: ‘Alle bestandteile jedoch von dieser handschrift sind in höchst verwahrloster form überliefert und erscheinen meist in so fragwürdiger gestalt, daß es nur selten verlohnt, sich um den genauen wortlaut zu kümmern, daß man schwerlich für ein lied diesen Text zur grundlage eines neudrucks wählen darf, sondern bei der durcharbeitung der handschrift die hauptaufgabe darin sehen wird, für die lieder andre fundstellen nachzuweisen, woneben dann die fassung dieser handschrift gelegentlich aushilfsweise in betracht kommen mag’Ga naar voetnoot1. An einer anderen Stelle bezweifelt Kopp sogar den Quellenwert von Liederhandschriften aus dieser Zeit für mundartkundliche Untersuchungen, wenn er schreibt: | |
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‘Es würde nahe liegen, die Handschrift für die Zwecke mundartlicher Forschung vorzugsweise geeignet zu schätzen; wenn man aber genauer zusieht, so gewinnt man die Überzeugung, daß diese verwahrlosten Liederhandschriften, bei denen in Schreibung und Sprache die denkbar größte Verwilderung, Willkür, Fehlerhaftigkeit und Buntscheckigkeit herrscht, ganz und gar untauglich sind, als Grundlage für sprachliche Forschungen irgend welcher Art zu dienen. Birlinger hat sich in dieser Hinsicht viele, jedoch wohl vergebliche Mühe gemacht, wenn er versuchte, die kleine Liederhandschrift der Fenchlerin für die Grammatik zu verwerten; größer könnte der Nutzen von seiner Veröffentlichung sein, wenn er alle Sorgfalt und alle Mühe lediglich an die literarhistorisch-kritische Behandlung verwandt hätte. Neben sorgfältig gedruckten Büchern oder schriftlichen Denkmälern amtlichen Ursprungs oder von bewährten Verfassern können solche von ungebildeten Schreibern um Sold möglichst rasch ohne jedes Verständnis heruntergeschmierten Liederhandschriften, zumal wenn es sich dabei nur um volkstümliche, nach mündlicher Überlieferung oder schlechten Vorlagen aufgezeichnete, schon ohnehin grundverdorbene Fassungen handelt, kaum außer allenfalls bei dieser oder jener Einzelheit aushilfsweise in Betracht kommen’Ga naar voetnoot2. Dieser Standpunkt Kopps, der von einer starken Mißachtung der Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen von Textvermittlung in oraler Kommunikationssphäre zeugt, kann heute nicht mehr der unsere sein. Für uns ist der Grad der Variation eines Textes gegenüber älteren Vorbildern ein Gradmesser für die Intensität des mündlichen Umlaufs und der daraus zu erschließenden Handhabung von Liedtexten im praktischen Gebrauch. Nicht jede Abweichung eines Textes aus der Sphäre handschriftlicher Liedüberlieferung von den bisher bekannten Textzeugen wird demnach automatisch als Verderbnis gekennzeichnet. Die positiven, kreativen Leistungen beim Umsingungs- und Aneignungsprozeß werden heute beim Fassungsvergleich nicht länger geleugnet. Dazu P. Sappler in seiner Einleitung zur Edition des ‘Königsteiner Liederbuches’ (ca. 1470-1473): ‘Ist das Ergebnis derartiger Veränderungen nicht wesentlich schlechter als der frühere Zustand, entspricht - anders gesagt - eine Stelle, bei welcher der Verdacht besteht, sie sei nicht in der ursprünglichen Gestalt überliefert, dem, was man auf Grund hinreichender Erfahrungen von einem solchen Lied billig fordern darf, so sollen diese Veränderungen als tragbar gelten und nicht als Verderbnisse betrachtet werden. Diese Bestimmung hat den Zweck, vor allzu kleinlichem Mißtrauen zu bewahren und es vor allem zu gestatten, dem Eigenwert der durch absichtliche oder unabsichtliche Umdichtung entstandenen neuen Fassungen gerecht zu werden’Ga naar voetnoot3. Der sog. ‘schlechte Überlieferungszustand’ einer Liederhandschrift stellt somit heute keine Abschreckung für den Forscher, sondern vielmehr eine Herausforderung dar, durch die Analyse des jeweiligen Überlieferungszustandes zu Einsichten in den Überlieferungsprozeß zu gelangen, dem die Liedtexte wie alle kulturalen Objektivationen bei ihrer Vermittlung zwischen Individuen oder sozialen Gruppen unter- | |
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lagen. Die Liedforschung macht sich damit Forderungen zu eigen, wie sie beispielsweise von Günter Wiegelmann für die europäische Ethnologie allgemein formuliert worden sind, nämlich ‘die Objekte der Kultur einheitlich auf Prozesse zurückzuführen, auf Handlungen, auf das Hin und Her der Meinungen, auf die Realisierung des Kulturellen im Lebensvollzug ... Daraus folgt für die Forschungspraxis, daß der Schwerpunkt verlagert werden muß auf die Analyse der Realisierungsprozesse’Ga naar voetnoot4. Ältere Liederhandschriften stellen in diesem Sinne hervorragende Objekte für die volkskundliche Forschungspraxis dar, da sie Einsichten in Prozesse ermöglichen, die der älteren literatur-ästhetisch orientierten Textforschung im gleichen Maße nicht möglich waren. In diesen Prozessen fassen wir vor allem die einzelnen Schreiber als Persönlichkeiten, als Überlieferungsträger in ihren raumzeitlichen, sozialen, kulturalen, regionalen und sprachlichen Bindungen. Die hier vorzustellende Darfelder Liederhandschrift gehört in das Spannungsfeld zwischen Nord und Süd bzw. West und Ost um die Mitte des 16. Jahrhunderts, sie kann uns als Spiegel dienen für das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturströmungen in den Landschaften Westfalens und des Niederrheins, sie ist ein erregendes Dokument für die zur zeit ihrer Entstehung in diesen Landschaften sich ereignenden Prozesse des Vordringens und Austauschs von Sprach- und Kulturelementen. |
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