Anlehnung und Abgrenzung
(1976)–Ulrich Bornemann– Auteursrechtelijk beschermdUntersuchungen zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts
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6. SchlussDie Untersuchungen beschäftigen sich mit den Beziehungen zwischen zwei Literaturen, die in enger Verwandtschaft zueinander stehen. Es hat sich gezeigt, dass das niederländische Schrifttum auf das deutsche des frühen 17. Jahrhunderts in starkem Umfang gewirkt hat, das gängige Einflußschema jedoch, in dem die niederländischen Autoren als Gebende und die deutschen als indifferent Übernehmende dargestellt werden, hat sich als untauglich erwiesen. Die Deutschen hätten vieles, wenn nicht alles, unverändert übernehmen können, sie verhalten sich aber häufig kritisch und umgestaltend. Zur Charakterisierung der speziellen Art der Rezeption beitet sich als Begriffspaar ‘Anlehnung’ und ‘Abgrenzung’ an. ‘Abgrenzung’ wird nicht gleichbedeutend mit, sondern gerade im Unterschied zu ‘Ablehnung’ gebraucht. Diese zeigt sich in der Auseinandersetzung mit den romanischen Literaturen und Sprachen, sie tritt also bei Fremdartigem ein. Die ihr zugrunde liegende geistige Haltung ist von Konkurrenzdenken bestimmt und äussert sich häufig in Polemik. ‘Abgrenzung’ hingegen setzt ‘Anlehnung’ aufgrund einer umfassenden Nachbarschaft voraus und bezeichnet den Teil, der über das Gemeinsame hinausgeht. Sei stellt den fruchtbarsten Gesichtspunkt bei einem Vergleich so eng verwandter Glieder dar. Mit ‘Anlehnung’ und ‘Abgrenzung’ wird das gemeinsame Vorgehen und das Streben nach Eigenständigkeit ausgedrückt. Statt in einem Rückblick die zahlreichen Einzelaspekte zusammenzufassen, sei hier die allgemeine Formel mit Inhalt gefüllt. Es sollen noch einmal die wichtigsten Kräfte und Beweggründe genannt werden, die zu diesem Spannungsverhältnis geführt haben. Als Bedingungen für die Anlehnung stehen kulturhistorische Faktoren, die unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung betrachtet wurden. Die Ähnlichkeit der beiden Sprachen, die Übereinstimmung in der Problemund Sachlage und der zeitliche Vorsprung der Niederländer sind die Voraussetzungen für eine breite Nachfolge, die aber gleichzeitig durch verschiedenartige Tendenzen eingeschränkt wird. Beispielhaft zeigt sich diese Konstellation in den puristischen Bestrebungen. Sie findet ihren Ausdruck bereits in der Terminologie: ‘deutsch’ oder ‘duytsch’ werden für beide Sprachen zusammen gebraucht, daneben finden sich aber Unterscheidungen wie ‘overlandsch’ und ‘niederländisch’, ‘nederduytsch’ und ‘hochdeutsch’ etc. Wenn auch die Vielzahl der Stimmen und Meinungen eine einheitliche Sicht auf dieses Gebiet verhindert, so hat sich doch gezeigt, dass die deutschen und niederländischen Reformer von denselben Grundlagen ausgingen und dieselben Ziele verfolgten. Das | |
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lässt sich in der Sprachgeschichte an einem ständigen Austausch der Argumente und Verfahrensweisen erkennen. Im 16. Jahrhundert sind es die Niederländer, die den Deutschen nacheifern, im 17. sind die Rollen von Gebenden und Empfangenden umgekehrt verteilt. Bedeutende Anregungen erhielten die deutschen Sprachforscher von Stevins programmatischen Schriften und seinen holländischen Beschreibungen der Wissenschaften. Aber auch hier muss man differenzieren. Die Übereinstimmungen im theoretischen Bereich sind zahlreich, bei der konkreten Sprachgestalt jedoch legte man vor allem in Deutschland das Schwergewicht auf die Eigenständigkeit der Muttersprache. Das ist der Ausdruck eines enthusiastischen Sprachpatriotismus, der seine Wurzeln in einem gesteigerten Nationalgefühl hat, das durch die noch herrschenden oder bereits überwundenen kriegerischen Bedrohungen und durch das gelehrte Interesse am Ursprung des eigenen Volkes und an Leben und Taten der Vorfahren gefördert worden war. Erst Leibniz hat die Enge der nationalen Denkart völlig überwunden, indem er erkannte, ‘dass die Holländer ihre Sprache sehr ausgebutzet’ hätten und zur ‘Anreicherung’ der deutschen fordert, ‘durch kundige Leute die Holländische Sprache und Schrifften untersuchen, und gleichsam wardiren zu lassen, damit man sehe, was davon zu fodern, und was bequem dem Hochteutschen einverleibet zu werden.’Ga naar eind1 Die holländischen Gedichte von Daniel Heinsius stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit. Sie stellen den Vergleichspunkt dar, auf den sich die verschiedenen Betrachtungen immer wieder beziehen, auch wenn andere Namen und Strömungen genannt und besprochen werden. Das bedeutet aber nicht, dass das an ihnen und der deutschen Rezeption Erarbeitete sich nicht auch bei anderen niederländischen Werken feststellen liesse. Insofern stehen die Nederduytschen Poemata repräsentativ für das deutsch-niederländische Verhältnis dieses Zeitraums. Die Beschränkung erfolgte einmal aus Gründen der Ökonomie, zum andern, weil die Nederduytschen Poemata die ergiebigsten Gesichtspunkte bieten. Auch sie werden von deutschen Autoren in Anlehnung und Angrenzung rezipiert, allerdings mit anderen Motiven und in viel komplexerer Form. Ähnlich den kulturhistorischen Faktoren spielen zunächst ausserliterarische Umstände eine Rolle. Heinsius' Gelehrtenruhm war auch in Deutschland verbreitet, wie aus den zahlreichen Lobesbezeugungen, den Widmungsgedichten und der umfangreichen Korrespondenz hervorgeht. Damit verbinden sich werkbezogene Gründe. Es war nicht die Absicht, über den künstlerischen Wert der Nederduytschen Poemata zu urteilen, wie es häufig auf negative Weise in Darstellungen zur holländischen Literatur geschieht.Ga naar eind2 Für eine vergleichende Untersuchung ist die ‘Quelle, welche Rezeption bewirkt ... in ihrer Funktion als auslösende Kraft ... von erheblichem Wert, selbst wenn sie geringe literarische Bedeutung hat ...’Ga naar eind3 Daraus ergibt sich die Frage, weshalb die Nederduytschen Poemata zu einer auslösenden Kraft werden konnten. Sie sind ein zeitund sachgemässes Werk. Zeitgemäss, weil sie gerade in den Jahren in | |
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mehreren Auflagen erschienen, als man sich in Deutschland anschickte, die muttersprachliche Dichtung zu reformieren. Sachgemäss, weil sie als ein Musterbuch der Gattungen und Motive die Ansprüche der jungen Dichtergeneration erfüllten. Die wichtigsten Bereiche des poetischen Schaffens und theoretische Erörterungen sind in dem Band enthalten, und zwar in einer muttersprachlichen - man möchte sagen mundgerechten - Form, die sich mühelos ins Deutsche übernehmen liess. Die Nederduytschen Poemata konnten im frühen 17. Jahrhundert eine so bedeutende Rolle spielen, weil sie ein wegbereitendes Werk sind. Durch Opitz waren sie kanonisch geworden, aber sie haben nicht nur auf ihn gewirkt und nicht nur durch ihn, sondern auch direkt auf fast alle namhaften Dichter des Frühbarock, wie sich an den zahlreichen Übersetzungen und Entnahmen gezeigt hat. Sie waren ein überzeugender Beweis dafür, dass eine Poesie in deutscher Sprache möglich war und regten zur Nachahmung an. Wenn in wenigen Jahren eine deutsche Kunstdichtung geschaffen werden konnte, dann haben die Nederduytschen Poemata daran einen nicht zu unterschätzenden Anteil. In der Metrik verhalfen sie dem akzentuierenden Vers mit dem Verbot von Tonbeugungen und dem Gebot der strengen Alternation zur schnellen Vorherrschaft; in den Gedichtarten und der Bildlichkeit sind sie ein wichtiges Bindeglied zwischen der deutschen und den romanischen und auch antiken Literaturen. Die Nederduytschen Poemata entfalteten ihre grösste Wirkung auf die Anfänge der deutschen Barockliteratur. Zwar werden sie noch während des ganzen 17. Jahrhunderts mit Anerkernnung erwähnt, aber alle Anzeichen sprechen dafür, dass sie ihre verbindliche Autorität eingebüsst hatten. Der Übergang vollzieht sich bereits in den 30er Jahren, ohne dass man eine starre Datumsgrenze angeben könnte. Schon die Übersetzungen von Opitz zeigen mit der Glättung und Mässigung der Vorlagen Umgestaltungen,Ga naar eind4 die es verbieten, von einer unselbständigen Nachfolge zu sprechen, und diese Feststellung trifft in noch stärkerem Masse für spätere Autoren zu. Der Wandel zeigt sich deutlich in den 1630 erschienenen Treugedichten von Plavius, die neben genauen Nachahmungen Heinsiusscher Gedichte im klassizistischen Stil auch Parodien und manieristisch überladene Verse enthalten. Die Motive für die Auseinandersetzungen mit und die Abkehr von den Nederduytschen Poemata lassen sich in der Hauptsache auf die Entwicklung der deutschen Dichtung zurückführen. Nachdem der Grund ausgepfählt worden war, um eine Prägung Schottels zu gebrauchen, kehrte man sich von dem Werk ab, das wesentlich zur Errichtung der Fundamente beigetragen hatte. Zugleich wird der Kreis der holländischen Vorbilder erweitert. Wenn nun Starter und Cats in das Blickfeld deutscher Autoren treten, dann werden nicht lediglich andere Namen vor dieselbe Dichtungsart gesetzt. Der Beginn ihrer Wirksamkeit in Deutschland steht am Wendepunkt vom Klassizismus zum Barock in Metrik und Rhetorik, von der Bildlichkeit und den Inhalten der Renaissancepoesie zur erbaulich-moralischen Dichtung. |
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