Anlehnung und Abgrenzung
(1976)–Ulrich Bornemann– Auteursrechtelijk beschermdUntersuchungen zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts
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A. Zur Charakteristik des gelehrten DichtersRist hat das deutsche Schrifttum gründlich gesichtet und von seiner Qualität her auf mehrere Arten von Dichtern geschlossen.Ga naar eind1 Die einen verstossen gegen die poetischen Regeln und sind ungebildet, die anderen beherrschen zwar die Sprache, aber sie schreiben unnatürlich, geschraubt und zu dunkel. Eine weitere Gruppe ist anmutig, jedoch einfältig, da sie die Wissenschaften vernachlässigt und somit nicht zu einer guten ‘inventio’ kommen kann. Lediglich die letzte Art genügt den Maßstäben. Es sind ‘gelährte/ verständige/ vielbelesene... in Künsten und Spraachen wolerfahrne Leute’, die von einem himmlischen Geist getrieben werden. Ihre Verse klingen von Natur aus lieblich. Leicht erkennt man darin die Dreiheit von ‘ingenium’, ‘ars’ und Bildung, die die notwendige Voraussetzung dafür war, dass sich jemand mit dem Ehrentitel eines Poeten schmücken durfte. Die Forderung, ein Dichter müsse in allen Wissenschaften und Künsten bewandert sein, ist in jede Poetik der Zeit eingekehrt. Die bekannten Zitate sollen hier nicht wiederholt und durch entlegenere vermehrt werden. Das Ideal ist oft beschrieben worden. Dem zeitgenössischen Lob steht seit der Genieperiode die Kritik gegenüber. Fast ausnahmslos stellt man einen Mangel an Poesie und ein Übergewicht des Enzyklopädischen fest.Ga naar eind2 Erst in letzter Zeit, da man die Tradition des gelehrten Dichters zu untersuchen begann und nach den gelehrten Grundlagen forschte, ist man dem richtigen Verständnis näher gekommen. Aber die neuerwachte Diskussion hat noch nicht zur Einigkeit geführt. Dyck legte in einer vielbeachteten These dar, dass das Ideal der universalen Bildung von der Rhetorik auf die Dichtung übertragen worden sei. Nicht einem ‘ungefähren, zeittypischen Bildungshunger’ werde das Wort geredet, sondern die Dichter ständen in der Tradition Ciceros und Quintilians.Ga naar eind3 Barner stimmt dieser These grundsätzlich zu, er wendet aber ein, dass ‘spätestens bei den Alexandrinern... das Ideal des “poeta doctus” voll ausgeprägt’ gewesen sei und ‘nachhaltig auf Theorie und Praxis der römischen Poesie’ gewirkt habe. Zum andern sei es unbestreitbar, dass man sich im 17. Jahrhundert häufig auf Cicero und Quintilian berufe, dasselbe aber sei auch schon im 16. Jahrhundert geschehen, ‘ohne dadurch zu jenem ausgeprägten Polyhistorismus zu gelangen, der für die Barockpoeten kennzeichnend’ sei.Ga naar eind4 Das Verständnis des gelehrten Dichters wird auch eine zeitbedingte Komponente zu be- | |
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rücksichtigen haben. Sie konnte nicht das Interesse von Dyck finden, da er die rhetorische Tradition untersucht und naturgemäss den Blick mehr in die Vergangenheit richtet als ihn umherschweifen zu lassen. Die Ansichten stehen nicht in strenger Opposition zueinander, und es bedarf schon gar nicht einer einseitigen Entscheidung. Zwischen antiker Tradition und dichterischem Polyhistorismus im 17. Jahrhundert vermitteln die Altertumswissenschaftler als das eigentliche Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie konnten an die Stelle der antiken Vorbilder treten. Die Autorität der von ihnen untersuchten Gegenstände ging auf sie selbst über. Und sie waren es auch, die das ureigenste Anliegen der Dichter vertraten und sich für eine Poesie in der Muttersprache einsetzten. Das Interesse für die modernen Sprachen kann nur dann verwundern, wenn man den Altertumswissenschaftler mit der heute gängigen Vorstellung eines weltabgewandten Altphilologen verbindet. Das Gegenteil ist der Fall. Bruehl nennt sie die eigentlichen Geisteswissenschaftler der Zeit,Ga naar eind5 und er meint damit, dass ihre Bedeutung nicht nur in der fachlichen Spezialisierung oder in der Erforschung und Herausgabe antiker Schriften beruhte, sondern auch fest in der Gegenwart verankert war. Das ganze Problem kann hier nicht behandelt werden. Einige wenige Beispiele müssen genügen. Sie stammen aus den Niederlanden, wo die Altertumswissenschaften damals in hoher Blüte standen. Das Bewusstsein für den Wert des eigenen Volkes und der damit zusammenhängende Nationalismus sind in einem nicht geringen Masse von der niederländischen Geschichtsschreibung beeinflusst. Aus der Beschäftigung mit den alten Historikern erwuchs das Interesse an der eigenen Landesgeschichte. Antike Quellen wurden durchgearbeitet und für die Darstellung über den Ursprung des eigenen Volkes nutzbar gemacht. Es seien hier nur die auf Plinius, Tacitus und Ptolemäus beruhende Batavia von Hadrianus Junius und die Annales der Dousae genannt. Die Erfahrung des Krieges lenkte den Blick auf die jüngste Geschichte. Der Sieg über Spanien war Anlass einer grossen Anzahl historischer Werke, die mit Akribie die Einzelfakten festzuhalten und das enthusiastische Nationalgefühl der jungen Republik zu stärken versuchten. Zu der gefeierten Befreiung von Wesel und 's Hertogenbosch entstand noch in demselben Jahr ein umfangreiches Schrifttum. Heinsius trat als Chronist der Ereignisse mit dem Buch Rerum ad Sylvam-Ducis ... gestarum Historia (1631) an die Öffentlichkeit. Rist hat sich später von diesen Historikern anregen lassen und zwei lange Gedichte auf die Eroberung der beiden Städte geschrieben.Ga naar eind6 Ein treffendes Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Werke in gelehrte Dichtung umgesetzt wurden. Eng verbunden mit den kriegerischen Ereignissen war die Wiederbelebung der stoischen Philosophie durch eine Gruppe niederländischer Dichter und Gelehrter, an deren Spitze Iustus Lipsius stand. Er hat die Werke Senecas herausgegeben und Anleitungen zur stoischen Lebensführung verfasst. Es war sein Anliegen, die stoische Philosophie mit den Lehren des Christentums in Einklang zu bringen. De Constantia erschien | |
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1584 in der Kriegszeit und verfolgte eine aktuelle Zielsetzung. Der deutsche Übersetzer schreibt in der Vorrede, Lipsius habe sich vorgenommen seine Niderländer/ die nun viel Jhar her mit Krieg/ Rauben/ Morden/ Plackerey/ Pestilentz/ Hunger ... geplaget/ zu trösten und zu lehren/ wie sie allem außwendigen Vnglück mit standhafftem Hertzen begegnen sollen.Ga naar eind7 Lipsius' Gedanken wurden später vor allem von Heinsius in einer Rede ‘De stoica philosophia’ und in dem Lehrgedicht De contemptu mortis aufgegriffen und verbreitet.Ga naar eind8 Auf keinem anderen Gebiet waren die Altertumswissenschaftler dringlicher zur Mitarbeit und Stellungnahme aufgerufen als in den religiösen Auseinandersetzungen zwischen Katholizismus und Protestantismus, zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten, die die damalige Zeit neben den kriegerischen Ereignissen am stärksten beschäftigten. Viele veröffentlichten theologische Werke und Erklärungen zum Neuen Testament, die in Deutschland mit Eifer gelesen wurden. Um die Exercitationes ad Novum Testamentum von Heinsius bittet Buchner einen Freund, und als dieser ihm den hohen Preis mitteilt, will er sie trotzdem besitzen, da das Verlangen des Geistes zu gross sei.Ga naar eind9 Georg Richter schreibt über das Werk an Heinsius: ‘non nescire te volo, eas à Theologis nostris ut thesaurum aestimari maximum...’Ga naar eind10 Die wissenschaftliche theologische Arbeit hatte oft direkte Auswirkungen auf das persönliche Leben. Zu dem vielbeachteten Ereignis der Synode zu Dordrecht kamen Gelehrte aus zahlreichen Ländern. Heinsius, der im Ruf eines der vorzüglichsten klassischen Philologen stand, nahm als Sekretär eine Schlüsselstellung ein und erlangte hohes Ansehen. Der Leidensweg seines Freundes Hugo Grotius ist genugsam bekannt. Die Autorität der Altertumswissenschaftler stützte sich auf die Kenntnis der drei heiligen Sprachen, die sie allein zu kompetenten Richtern machte. In der Geschichte, Philosophie und Theologie forschten sie in der Vergangenheit, um sie für die Gegenwart nutzbar zu machen. Umfassende Bildung und zeitgenössisches Engagement stellten sie in den Brennpunkt des damaligen Lebens. Die Gemeinsamkeiten von Altertumswissenschaftler und Dichter lassen sich leicht erkennen. Sie gehören derselben Standeskultur an. Beide Bereiche standen nicht jedem offen; die elitäre Abgeschlossenheit konnte nur durch Bildung, Fleiss und Berufung durchbrochen werden. Beide sind von einem Ethos des Belehrens erfüllt und unterlagen der Forderung nach Universalität. Das stellt auch Dyck fest, wenn er schreibt: ‘Viele Berufsstände haben nach dem ciceronianischen Vorbild ihr Ideal geformt, und von ... den vollkommenen Historikern, Predigern ... Humanisten ... unterscheidet sich der vollkommene Poet nur durch die spezielle Beherrschung der “ars poetica”.’Ga naar eind11 Das Urteil gilt der Tradition. Es konstatiert die Übereinstimmungen und bekräftigt die bekannte Tat- | |
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sache, dass wir es mit einem durch und durch gelehrten Jahrhundert zu tun haben. Es erklärt aber nicht den dichterischen Polyhistorismus, der auch schon die Bände des Frühbarock füllt. Erst wenn man die Unterschiede erkennt, trägt man zu einer genaueren Charakteristik des gelehrten Dichters bei. Die Bezeichnung ‘gelehrt’ wird im 17. Jahrhundert so umfassend wie möglich gebraucht. Unter sie fallen alle, die eine Bildungsanstalt vom Gymnasium aufwärts absolviert haben. Ein einheitlicher Wissenshorizont aber ist damit nicht gemeint. Der Abstand zwischen Altertumswissenschaftlern und gelehrten Dichtern ist offensichtlich. Schematisch könnte man es so ausdrücken: der unverzichtbare Grundbestand des Wissens jener Gruppe stellt das Höchstmass dieser dar. Das zeigt sich an der oft berufenen Sprachbeherrschung. Alle Dichter konnten das Lateinische, schon weniger das Griechische, und nur eine kleine Schar so vollkommen, dass sie damit die alten Texte bewältigen konnte. Von entfernteren Sprachen, den orientalischen und dem Hebräischen, ganz zu schweigen. Hier haben die Altertumswissenschaftler mit ihren kritischen Editionen und Übersetzungen vermittelnde Dienste geleistet. Heinsius' Theokrit-Ausgabe, die neben dem Kommentar lateinische Übertragungen enthält, hat zur Verbreitung des antiken Dichters im 17. Jahrhundert nicht unwesentlich beigetragen.Ga naar eind12 Und auch die Stellung zur Wissenschaft ist verschieden. Den Altertumswissenschaftlern geht es um die Bearbeitung unerforschter Gebiete, um positive Erkenntnis, Spezialwissen und Vermehrung desselben. Bei den Dichtern tritt dafür der Gelehrtenstolz ein. Die Wissenschaft wurde das Mittel zum Zweck. Sie war insofern wichtig, als sie die autoritative Grundlage für das dichterische Werk bilden konnte, sei es als Rechtfertigung oder Beglaubigung.Ga naar eind13 Die Tätigkeiten blieben in der Regel getrennt. Die muttersprachliche Dichtung fand zwar die gelehrte Zuneigung der Altertumswissenschaftler, sie verliess aber nie die Peripherie ihres Schaffens. Auch bei Heinsius sind die Nederduytschen Poemata nur ein - von ihm selbst nicht sonderlich geschätzter - Titel im umfangreichen Werkkatalog. Umgekehrt haben sich die deutschen Dichter keinen ausgedehnten Forschungen hingegeben. Die umfassende Bildung der Altertumswissenschaftler hat die Passivität nur noch gefördert. Vereinzelte erudite Traktate und gelehrte Editionen aus der Feder eines ‘poeta doctus’ entsprangen nur sekundär dem Drang nach Erkenntnis. Sie sind vielmehr als Ausweis der Standeszugehörigkeit und Tribut, den man einem Ideal zollt, zu bewerten. Ihr Verhältnis zu den Altertumswissenschaftlern ist durch Rezeptivität bestimmt. Sie übernehmen das dargebotene Material und verarbeiten es in die eigenen Dichtungen. Der Vergleich mit den Schatzkammern liegt nahe. Es handelt sich aber nicht um eine solche, die einmal gefüllt und aus der dann wiederholt und bis zur Neige geschöpft wird. Mit jeder Ausgabe und jeder Abhandlung wird sie neu bereichert. Die Anlage der Werke ermöglichte eine rasche Einbringung durch detaillierte Gliederungen, Noten und Register, die ‘ein sehr nohtwendiger Lehrmeister zu einem Buch’ | |
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sind, ‘da keiner Zeit hat/ alle und jede Bücher zu durchlesen’, und sie gleichsam mit dem Finger weisen, ‘wo eines oder das andere zu finden.’Ga naar eind14 In den Briefbänden der Zeit liest man häufig die Willkommensgrüsse an Neuerscheinungen, aber eine kritische Würdigung seitens der gelehrten Dichter findet man selten. Statt dessen scheint während des Lobens überall schon jene ‘Schachtel mit 24 Fächern ... deren jedes mit einem Buchstaben bezeichnet ist,’Ga naar eind15 bereitzustehen, um das zergliederte Werk aufzunehmen und für den nächsten Zugriff zu bewahren. Die Technik des Exzerpierens war nicht ohne Grund Gegenstand zahlreicher Lehrbücher. Das soll natürlich nicht heissen, dass sich die Forschungstätigkeit der ‘poetae docti’ hiermit erschöpft hätte. Wenn man aber den ausgeprägten Polyhistorismus der deutschen Dichter erklären will, dann muss man ihr spezielles Verhältnis zu den Altertumswissenschaftlern an oberster Stelle neben dem Leitbild der Tradition in die Überlegungen einbeziehen. Die Frage nach der grossen Wirkung der Nederduytschen Poemata wurde oben damit beantwortet, dass es sich sprachlich und poetisch um ein wegbereitendes Werk handelt. Man muss es aber auch im Zusammenhang mit des Autors anderen Arbeiten sehen. In Heinsius fand man die nur seltene Verbindung von muttersprachlichem Dichter und Altertumswissenschaftler verwirklicht. Hierauf ist sicherlich sein hohes Ansehen in Deutschland zurückzuführen. Von einer Geschichte des Ruhms aber kann man nicht sprechen, denn nach einem jähen Aufstieg hält sich seine Reputation auf einem gleichmässig hohen Niveau, um dann gegen Ende seines Lebens kaum weniger plötzlich abzufallen. Nach dem Tode Scaligers wurde er als das Haupt der ‘respublica literaria’ verehrt. So schreibt Valerius Cordatus 1622 an Heinsius: Quis enim est, qui quidem literas colat, qui non te quoque earum principem, et novum, post illum maximum Scaligerum, solet.Ga naar eind16 Die Vorstellung vom ‘princeps literarum’ liegt in allen möglichen Abwandlungen auch den deutschen Äusserungen über Heinsius zugrunde. Die lobenden Erwähnungen in Vorworten, Briefen und Gedichten sind äusserst zahlreich. Opitz hat einen Vorrat von Formeln eingeführt: ‘Hochgelehrt’ und ‘weitberühmbt’ sind die stereotyp wiederkehrenden Epitheta, als ‘niederländischer Apoll’, ‘Gentscher Schwan’ und ‘Poenix vnsrer Zeiten’ steht Heinsius unerreichbar vor ihm. Sein Urteil über dessen ‘geschickligkeit’, deren ‘sich männiglich, so weiss was gelehrt sein heisse, mit recht verwundert’, kehrt zwanzig Jahre später fast wörtlich bei Klaj zurück.Ga naar eind17 Zum Repertoire gehört die Betonung der eigenen Unzulänglichkeit, die im Preisen Zurückhaltung erfordert, damit sein ‘werdes Lob vnd Ehre ... mit meiner zungen vnmündigkeit’ nicht verkleinert werde.Ga naar eind18 Man sollte solche Stellen nicht überbewerten, aber auch nicht in den häufig begangenen Fehler verfallen, sie als leeres und daher nicht ernstzunehmendes Klischee abzutun. Ähnlich schwärmerische Lobesformeln finden sich auch in den Korrespondenzen, aber nie- | |
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mand wird deswegen den humanistischen Briefwechsel als ein Dokument menschlicher Unverbindlichkeit in Frage stellen wollen. Mehr Aussagekraft haben die Widmungsgedichte an Heinsius. Ohne auf eine systematische Suche zu gehen, hat man die Anzahl von zwanzig bald weit überschritten.Ga naar eind19 Kein Gelehrter oder Poet des frühen 17. Jahrhunderts - Opitz einbegriffen - wurde zu Lebzeiten häufiger in Versen gepriesen als Heinsius. Beispielhaft sind die Gedichte Hudemans, denn sie zeigen, dass der überschwengliche Preis auf der Kenntnis der Werke beruht. Viele der wissenschaftlichen werden aufgezählt, das Lob gilt aber auch den griechischen, lateinischen und holländischen Gedichten: ein deutliches Zeichen dafür, dass man in Heinsius das Vorbild des gelehrten Dichters sah. Von den gelehrten Elementen in den Nederduytschen Poemata werden mit den kommentierten Lobgesängen ein poetisches Beispiel, mit der Vorrede und der Apologie der heidnischen Bildlichkeit zwei Argumentationssysteme ausgewählt. Sie vor allem haben auf die deutsche Literatur des Frühbarock gewirkt. Die Rezeption vollzieht sich in der Anfangszeit meist in enger Anlehnung; erst in späteren Jahren geht man über Heinsius hinaus und setzt sich kritischer mit seinem Werk auseinander. | |
B. Hymnen oder Lobgesänge und die gelehrten AnmerkungenHymni oder Lobgesänge waren vorzeiten/ die sie jhren Göttern vor dem altare zue singen pflagen/ vnd wir vnserem GOtt singen sollen. Dergleichen ist der lobgesang den Heinsius vnserem erlöser/ vnd der den ich auff die Christnacht geschrieben habe. Wiewol sie auch zuezeiten was anders loben; wie bey dem Ronsard ist der Hymnus der Gerechtigkeit/ Der Geister/ des Himmels/ der Sternen/ der Philosophie/ der vier Jahreszeiten/ des Goldes/ etc.Ga naar eind1 Im Anschluss an die antike Kulthymne fasst Opitz unter Lobgesänge an erster Stelle Werke mit geistlichem und dann erst mit weltlichem Inhalt. Als Beispiele nennt er Heinsius' Christus Hymne und seinen eigenen ‘Lobgesang: Vber den frewdenreichen Geburtstag vnseres HErren vnd Heylands Jesu Christi,’Ga naar eind2 er erwähnt aber nicht das Gedicht auf Bacchus, das er in den Teutschen Poemata mit ‘Hymnus oder Lobgesang’ überschrieben hatte. Das ist keine Nachlässigkeit, sondern der Anfang einer terminologischen Differenzierung. In der Frühzeit gebraucht Opitz Hymnus oder Lobgesang gleichbedeutend für Gedichte geistlichen und weltlichen Inhalts, und er folgt damit dem Beispiel der Niederländer. Aber schon in der Poetery unterscheidet er: die Bezeichnung wird für die geistliche Dichtung reserviert, während er die Bacchus-Hymne ein ‘Lobgetichte des Weingottes’ nennt.Ga naar eind3 Und 1628 überschreibt er sein ‘laus martis’ mit ‘Lob des Krieges Gottes.’ Titz formuliert es dann eindetig: ‘Hymni, die Lobgesänge/ darin man Gott preiset.’Ga naar eind4 Die Unterscheidung zwischen geistlichem Lobgesang und weltlichem Lobgedicht, die sich seit Paul Gerhardt endgültig herausbildete, bahnt sich schon im Frühbarock an.Ga naar eind5 | |
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Unter dem Gesichtspunkt der Gelehrtendichtung treten solche Überlegungen in den Hintergrund. Wir verstehen Hymnen oder Lobgesänge inhaltlich im weitesten Sinne. Ausgeschlossen bleibt allerdings das Lob einer ‘namentlich erwähnten Person der Gegenwart oder noch aktuellen unmittelbaren Vergangenheit,’ das oft in die Nähe der Gelegenheitsdichtung rückt.Ga naar eind6 Aber auch hier lässt sich die Trennung nicht streng vollziehen. Rists Lob- Trawr- vnd Klag-Gedicht auf den Tod von Opitz lässt sich mühelos zu den Hymnen oder Lobgesängen rechnen, obwohl es zur Gelegenheitsdichtung gehört, ebenso wie Zesens Gebundene Lob-Rede Von der ... Buchdrückerey-Kunst ... Bey Volckreicher Versammlung und Einführung eines neuen Drücker-Gesellens ... öffentlich gehalten. Als allgemeine Merkmale gelehrter Hymnen oder Lobgesänge ergeben sich demnach: sie sind an einen christlichen oder heidnischen Gott, an eine Sache und nur in Ausnahmefällen an eine Person gerichtet; der Umfang ist beträchtlich, denn Gelehrsamkeit zeigt sich nicht in geistreicher Kürze, sondern in ausladender Breite; der Inhalt wird durch ausführliche Anmerkungen erläutert; das Versmass ist der epische Alexandriner. Es sind dieselben Merkmale, die in Heinsius' Lobgesängen auf Bacchus und Christus vorkommen. Und wenn diese Gattung auch eine lange Geschichte hat, so lässt sich mit Fug behaupten, dass sie den Eingang in die deutsche Dichtung durch seine Vermittlung fand. Die positiven Beurteilungen und Nachahmungen sind zahlreich. Sie stammen von Gelehrten und angesehenen Dichtern bis hin zu den ‘poetae minores.’Ga naar eind7 Eine bisher nicht beachtete, aber in der Art des Verfahrens typische Nachbildung ist der Lobgesang Jesu Chrsiti (1636) Michael Schneiders, der von Buchner als ‘non vulgari ingeniô juvenis’ an Heinsius empfohlen wurde und der seine Hymne schrieb, als er sich ‘noch auff der Vniversitet Leyden befande.’Ga naar eind8 Der direkte Einfluss ist durch die äusseren Umstände gegeben, und er lässt sich am Text selbst nachweisen. Umso merkwürdiger erscheint es, dass das Vorbild weder im Vorwort noch in den Anmerkungen erwähnt wird. Ähnlich sind Opitz und Tscherning bei ihren Nachahmungen verfahren. Man sollte das nicht als Tarnung eines Plagiats deuten, sondern eher als den Versuch zur Eigenständigkeit. Dieses Bestreben macht sich bei Schneider überall bemerkbar. Die Auswahl der verarbeiteten Bibelstellen z.B. ist trotz der Gleichheit der Thematik so unterschiedlich, dass man das als bewusste Absicht auffassen muss. Eine einleitende Bitte um die richtige Beschreibung von Christus, die ausführliche Darstellung der Schöpfungsgeschichte und des paradiesischen Friedens sind die wesentlichsten Hinzufügungen. Auf der anderen Seite ist Schneider bemüht, Umschreibungen und Aufschwellung des Textes zu vermeiden. Als Beispiel diene das Hirtenlob bei der Geburt Christi: Der gute Coridon erwecket das gemüthe
Vnd setzt die flöten an zu dieses kindleins ruhm.
Die entsprechende Stelle bei Heinsius lautet: | |
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Dat Corydon nu past gedueriglick te spelen,
Te spelen op zijn riet, te spelen op zijn lier,
Niet Daphnis oude pijn, niet Melibeus vier,
Noch Romulus wolvin, noch ander sottigheden,
Gesongen over al op dorpen ende steden:
Maer kinderen gaet heen, maeckt over al vermaert,
De bruyloft van de maecht, die haren vader baert.Ga naar eind9
Der ornamentale Reichtum wird in eine strenge Linienführung verwandelt. Die Unterschiede dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es viele Gemeinsamkeiten gibt. Schneider hat die allegorische Bildlichkeit, Elemente der Anrufung und des Marienbildes von Heinsius übernommen, und er folgt auch dessen vierteiligem Aufbau.Ga naar eind10 Fragt man nach der grossen Wirkung der Hymnen von Heinsius, dann kann die Antwort nur lauten, dass er wie kaum ein anderer dazu bestimmt war, der Gattung ein gelehrtes Aussehen zu geben. Dazu gehört, dass die Herkunft des Stoffes gelehrt ist. Quellen und Vorbilder werden genannt, und er stellt sich in ihre Tradition. Bei der Bacchus-Hymne führt Heinsius Nonnus, Flaminius, Marullus, Muretus, Scaliger und Ronsard, bei der Christus-Hymne eine grosse Anzahl von Kirchenvätern an. Die Themenwahl ist unmittelbar mit der eigenen Forschungsarbeit verbunden. Die Kirchenväter hat er nach eigenem Bekenntnis von Jugend auf mehr gelesen als die klassischen Autoren. Etwa gleichzeitig mit den Nederduytschen Poemata erschien seine Ausgabe des Clemens Alexandrinus.Ga naar eind11 Der Lobgesang auf Bacchus hat eine wissenschaftliche Entsprechung in der Dissertatio de Nonni Dionysiacis .Ga naar eind12 Nach Opitzens Bemerkung, Heinsius' Lobgedicht auf den Weingott sei ‘zum theil von dem Ronsardt entlehnet,’Ga naar eind13 hat man beide Werke allzu sehr in eine Nähe gerückt. Die Ähnlichkeit aber beruht weniger auf Abhängigkeit als auf der Benutzung derselben Quellen. Heinsius hat selbst den Unterschied zu seinem Vorgänger ausgesprochen: ‘Doch in het schryven hebbe bevonden, dat Ronsardus veel geseyt, maer noch meer nagelaten hadde.’Ga naar eind14 Er behauptet also seine Eigenständigkeit, denn er hat tiefer geforscht und besitzt eine umfassendere Kenntnis der Materie. Mit der Herkunft des Stoffes und dem Zusammenhang mit der eigenen Forschung sind die Bedingungen der Gelehrtendichtung genannt, die natürlich auch die Darstellung bestimmen. Das soll am ‘Lof-Sanck van Iesvs Christvs’ gezeigt werden. Die allegorische Darstellungsweise der Bacchus-Hymne wird später zu behandeln sein. Entgegen anderen Interpretationen deckt sie m.E. nicht die tieferen Schichten von Heinsius' Persönlichkeit auf,Ga naar eind15 noch ist ihr Autor götzengläubig. Die Distanz zum Stoff ist von vornherein gegeben. Anders verhält es sich mit dem Lobgesang auf Christus. Die Motive der Abfassung sind religiöser Art. Heinsius ist nicht nur als Gelehrter, sondern auch als Christ an den Stoff gebunden. Er will Jesus preisen, den Gläubigen Trost spenden; in der Beschäftigung mit der erhabenen Materie sieht er einen Weg zum ei- | |
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genen Heil.Ga naar eind16 Von dieser Voraussetzung muss ausgegangen werden. Es wäre völlig verfehlt, wenn man Heinsius - wie Max es bei ihm und bei Opitz getan hat - die Religiosität absprechen wollte. Auf diese Weise muss man zu der Folgerung kommen, ‘die biblische Geschichte sei Rede- und Reimstoff’ geworden ohne ‘auslösendes Erlebnis oder ... inneren Antrieb.’Ga naar eind17 Der falsche Ansatzpunkt hat zu den vielen Fehlinterpretationen der Christus-Hymne geführt. Ihre Urheber erwarten ein persönliches Glaubensbekenntnis oder eine tiefempfundene Predigt und sehen sich mit theologischer Wissenschaft konfrontiert. Das erscheint unvereinbar, und das Urteil fällt negativ aus. Es war aber gerade die Absicht von Heinsius, Glauben und Wissenschaft in eine Einheit zu bringen. In der Widmungsvorrede zählt er die Ziele des Lobgesangs auf: Mijn voornemen ende oogmerck is geweest, onsen Heere Christum, op de wijse van de oude Christenen van alle tijden, groot te maecken: te bewijsen dat hy werckt van eeuwigheyt: te bewijsen dat hy is waerachtig God met den Vader: te bewijsen dat hy is onsen God met den Vader: te bewijsen dat hy is het eynde van alle beyde de verbonden ende sacramenten van de selve, jae den instelder ende maecker van de selve; als sijnde het hooft ende het leven dat wy door de selve in hem leven: te bewijsen dat hy is de selve: te bewijsen dat hy was, eer wy waren: dat hy was, eer hy was dat wy waren: dat hy by de zijne is geweest voor den tijt: de zijne heeft bewaert voor dien tijt: het werck van de salicheyt gevoordert voor den tijt: tot dat hy om ons is geworden dat wy zijn, ende heeft ons gemaeckt dat wy niet en waren. Oock om te bewijsen, dat dit is geweest de meyninge ende hope van alle de oude Patriarchen, Propheten, ende Apostelen: de gemeene leere van alle Martelaers, oude Vaders, jae alle oude Leeraers:Ga naar eind18 Die Beachtung der Stelle ist für das Verständnis des Lobgesanges unerlässlich. Sein Ziel ist die Lobpreisung Christi, sein Inhalt sind die christlichen Dogmen und ihre Wahrheit, als Quellen werden alle altchristlichen Lehrer genannt. Sie sind unbezweifelbare, von jedermann anerkannte Autoritäten. Die Art der Darstellung gibt sich objektiv, sie nähert sich der Argumentation. Sieben Mal hintereinander gebraucht Heinsius das Verb ‘bewijsen’ (argumentari), um sein Vorgehen zu charakterisieren. Gelehrt werden soll die christliche Wahrheit. Sie erschliesst sich aber nicht in der Spekulation und zeigt sich auch nicht in der logischen Evidenz nach Art der Gottesbeweise, obwohl Heinsius dieselbe Absicht hat, nänlich den Glauben an Gott auf eine rationale Grundlage zu stellen. Die Überführung der Glaubensgewissheit in eine Wissensgewissheit geschieht durch die Summe der Argumente. Je grösser ihre Zahl ist, desto überzeugender wirkt die Aussage. Auch die Ausführlichkeit ist immer wieder missverstanden und oberflächlich als Wille zur Repräsentation bezeichnet worden.Ga naar eind19 Detail wird auf Detail gehäuft, um das Thema aus der subjektiven Verbindlichkeit zu lösen und ihm Beispielhaftigkeit zu ver- | |
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leihen. Die numerischen Verhältnisse sind eindrucksvoll genug. Die Zahl der in beiden Lobgesängen von Heinsius benutzten Autoren geht in die Hunderte, die der Zitate und Anspielungen erreicht ein Vielfaches davon. Auf die rund 1500 Verse verteilen sich weit über 300 Anmerkungen, deren Volumen das der Dichtung um das Dreifache übersteigt. Das sind keine arithemtische Äusserlichkeiten. Die Fülle steht in Korrespondenz zur Überzeugungskraft, sie ist ein inhaltliches Pendant zum ‘ornatus’; der Leser soll die Wahrheit des Dargestellten als Gewissheit einsehen. Im ‘Lof-Sanck van Iesvs Christvs’ verbinden sich Glaube und eigene Forschung. Als Christ wählt Heinsius das Thema und die Zielsetzung, als Gelehrter gestaltet er die Ausführung. Die deutschen Nachfolger haben die Gewichte verlagert. Opitz kommt mit seinem Lobgesang Heinsius am nächsten. In der Poetery bringt er beide in einen Zusammenhang,Ga naar eind20 wörtliche Übereinstimmungen und die Anlage deuten auf Abhängigkeit. Auch bei ihm war die ‘dignitas materiae’ Anlass zur Abfassung. Der gelehrte Gehalt und die erklärenden Anmerkungen gehen z.T. auf Heinsius, z.T. auf eigene Studien zurück. Dennoch lässt sich eine Tendenz erkennen, die bereits bei der Analyse seiner Übersetzungen festgestellt wurde: an die Stelle der theologischen Lehrhaftigkeit treten erbauliche Betrachtungen, eine Wendung vom gelehrten Hymnus zum Lehrgedicht.Ga naar eind21 Tscherning geht in seinem gleichlautenden Lobgesang vber den frevdenreichen Geburtstag vnsers Herrn vnd Heylandes Jesv Christi (1635) in der ersten Hälfte stark auf Heinsius, in der zweiten mehr auf Opitz zurück. Beide Richtungen der Bearbeitung standen ihm offen. Er entscheidet sich für den von Opitz eingeschlagenen Weg und geht ihn noch weiter. Die Gelehrsamkeit hat einer schlichten Frömmigkeit Platz gemacht, der Ton ist andächtig und einfach.Ga naar eind22 Während man in diesen beiden Imitationen den Eindruck hat, dass der anthropologische Aspekt die Oberhand gewinnt, nähert sich Michael Schneider der Gelehrsamkeit. Eine Vielzahl von entlegenen Anspielungen und mythologischen Umschreibungen bestätigt das. Dichterischer Text und Anmerkungsteil stehen in ähnlicher Relation wie bei Heinsius. Man gewinnt jedoch nicht den Eindruck einer äusseren Zutat oder einer spröden Buchgelehrsamkeit. Der Lobgesang Jesu Christi (1636) ist der Höhe- und Endpunkt in der Entwicklung von Schneiders geistlicher Dichtung, die von kindlich frommen Versen auf die kirchlichen Festtage über die Übersetzungen einer Hymne von Prudentius führte. Die Einheit von Wissenschaft und Glauben wird ebenso eindrucksvoll verwirklicht wie bei Heinsius. Schneiders Lobgesang ist in dieser Hinsicht die getreuste und in der Ausführung die bedeutendste Nachahmung der Hymne von Heinsius im 17. Jahrhundert. Nirgendwo erscheint die Gelehrsamkeit in der Dichtung augenfälliger als in den Anmerkungen, denen die Kritik - wenn sie überhaupt von ihnen Notiz nimmt - meist nur einen verächtlichen Seitenblick gönnt. Man verweist vordergründig auf das Bildungssystem und auf die Beschwö- | |
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rung einer ‘universellen Bildungstradition’, oder man nennt negative Motive der eitlen Selbstbestätigung: die eigene Dichtung werde kommentiert, um sich als ‘poeta doctus’ auszuweisen.Ga naar eind23 Für einige Dichter mag das zutreffen. Tschernings Anmerkungen zum ‘Lob des Weingottes’ haben keine exegetische Funktion. Sie beschränken sich auf die Nennung angesehener Namen und auserlesener Bücher; sie sind ein formaler Bestandteil, der ohne Nachteil für den Leser fortgelassen werden könnte.Ga naar eind24 Hier ist der Lobgesang eines Gelehrten zum Werk eines gelehrten Dichters geworden. Aber die negativen Beispiele sollten nicht zu der Ansicht verleiten, die Anmerkungen an sich seien im allgemeinen eine entbehrliche Zutat. Das wird der Arbeitsweise der Dichter und dem Anliegen des Lesers nicht gerecht. Die berühmte Forderung, man müsse gelesen und gesammelt haben, bevor man ans Werk gehe, ist die Voraussetzung der barocken Poeterei. Die exzerpierte Lektüre wird in schmuckvoller Rede, der alles allzu sachliche fremd ist, gleichsam verschlüsselt, um dann in den Anmerkungen wieder entschlüsselt zu werden. Das zeigt sich besonders deutlich an den bereits erwähnten Zeitgedichten von Johann Rist über die Befreiung Wesels und 's Hertogenboschs. Die Materien und Historien, die er in ‘Poetischer Beschreibung’ veröffentliche, seien den ‘allerglaubwürdigsten Historienschreibern’ entnommen; er habe sich bemüht, ihnen so getreu wie möglich zu folgen. Der Leser möge vor der Kritik in ihren Büchern nachlesen. Die genannten Orte, Namen und Strategien werden mit Hilfe derselben Geschichtsschreiber in den Anmerkungen erklärt.Ga naar eind25 Arten und Funktionen der Anmerkungen sollen an denen von Petrus Scriverius zu den beiden Lobgesängen von Heinsius erläutert werden. Sie umfassen einen enormen Wissensbereich und nehmen oft die Form kritischer Traktate an, die deutschen Dichtern als Fundgrube dienten. Opitz hat vor allem bei der Erörterung des poetischen Synkretismus aus ihnen geschöpft, Schneider hat viele wörtlich übernommen, und ebenso handelte manchmal Tscherning.Ga naar eind26 Der ganze Komplex der Anmerkungen umfasst die Stationen Autor, Publikum, Inhalt und Text. Sie lassen sich in Autor- und Inhaltsbezogenheit und Publikums- und Textbezogenheit unterscheiden. Die erste Gruppe dient der Wahrheitsfeststellung und der wissenschaftlichen Bestätigung des Autors. Unter sie fallen Wahrheitsbeteuerungen in Form von Quellenangaben und Quellentreue, denn nur was sich mit Autoritäten belegen lässt, ist wahr. Beim Lobgesang auf Christus werden naturgemäss die Bibel und die Kirchenväter, bei dem über Bacchus eine Fülle griechischer und lateinischer Autoren aufgeführt. Die umfassende Kenntnis leitet zum Vergleich und damit zur Quellenkritik, zur Abwägung der Echt- oder Falschheit. Dazu gehört auch, dass der originale Anteil angegeben wird. Ein Beispiel für das kritische Verfahren mit scherzhafter Auflösung ist die Diskussion über den Geburtsort von Bacchus: ......... veel van de oude wysen,
Die seggen dat ghy sijt geboren binnen Nysen,
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Veel ander seggen neen. een yder segget zijn.
Ick meyne dat ghy sijt geboren aen den Rijn.
Van daer kom 't edel nat naer Dordrecht
afgevaren,
Dat Nederland verheucht: daer waren uw' autaren,
Daer is noch uwen naem.Ga naar eind27
Die Verse sind für denjenigen nur teilweise verständlich, wenn nicht völlig unbegreiflich, der nicht dieselbe Kenntnis wie der Autor besitzt. Die allgemeinen Behauptungen müssen belegt, die Anspielungen erklärt werden. Scriverius nennt die antiken Gewährsmänner, er gibt die unterschiedlichen Meinungen zur Lage von ‘Nysa’ wieder und löst schliesslich den rätselhaften Ausspruch, Bacchus sei am Rhein geboren und verehrt worden, mit einer etymologischen Erklärung auf: De Poëet verstaet Baccharach aen den Rijn, van waer de beste Rijnsche wijnen komen: geseyt (soomen meent) van het Latijnsche ‘Bacchi ara’, dat is, den ‘autaer van Bacchus.’Ga naar eind28 Mit diesem Beispiel wurde bereits die zweite Gruppe der Anmerkungen berührt, die der Verständlichkeit dient. Zu ihr gehören philologische Erläuterungen zur Bildlichkeit, Mythologie, zu sprachlichen, paradoxen und sprichwörtlichen Wendungen. Auch die umfangreichen Übersetzungen griechischer und lateinischer Zitate und Quellen und die Sacherklärungen aus den Gebieten der Geographie, Kulturgeschichte, Botanik und Zoologie zählen dazu. Wenn Worte nicht ausreichen, greift Scriverius zu Verweisen auf die Malerei oder gar zu bildlichen Darstellungen selbst. Die Anmerkungen von Scriverius lassen die Herkunft noch deutlich erkennen: die kommentierende und kritische Methode der klassischen Philologie wird auf die muttersprachliche Dichtung angewandt. Dafür spricht auch die Selbstverständlichkeit, mit der er sie anfügt; kein Wort der Entschuldigung oder Rechtfertigung, wie es später in Deutschland üblich war. Aber das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Scriverius nicht nur an den Gelehrten richtet. Die hier vorgenommene Gruppierung deckt sich häufig mit einem Unterschied des Niveaus und der Einteilung der Adressaten. Die Behandlung der Quellen ist durch und durch wissenschaftlich, die textbezogenen Erläuterungen dienen der praktischen Unterrichtung, denn die Dichtung in der Muttersprache hatte im Unterschied zur lateinischen und griechischen einen Leserkreis, der mit dem Autor und Kommentator nicht auf einer Bildungsstufe stand und bei dem man das gelehrte Verständnis nicht voraussetzen konnte: Wer weiß nicht/ daß wir so Gelehrten so Vngelehrten schreiben? Beyden aber daß wir mögen verstanden werden ... In Ansehen dessen haben wir/ denen Vnbelesenen zu gut/ folgende Stellen erläutern wollen.Ga naar eind29 Mit der sprachlichen Popularisierung geht eine inhaltliche einher. Was | |
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oft mit Bezug auf die Anmerkungen als ein Streben nach Gelehrsamkeit angesehen wird, ist in Wirklichkeit ein Schritt aus der Abgeschlossenheit heraus. Die deutschen Poeten werden nicht müde, diesen Übergang in den Begründungen zu den Anmerkungen deutlich zu machen. In den Erfindungen soll sich der Dichter nach denen richten, ‘welchen er zu Gefallen die Feder ergriffen.’Ga naar eind30 Und er muss sich vor allzu grossen Schwierigkeiten hüten, denn der gemeine Mann kann nur das loben, was er versteht. ‘Die Wissenschaften sind sehr schwer/ und werden durch die gebundne Rede noch viel unvernemlicher.’Ga naar eind31 Harsdörffer empfiehlt daher dem Dichter drei Möglichkeiten, ‘sich völlig zu erklären’; er kann die Malerei zur Hilfe nehmen, ‘massen man mehr bilden/ als schreiben und ausreden kann’; der Titel soll deutlich abgefasst und wenn nötig durch ein ‘Argumentum’ ergänzt werden, oder aber er muss die Gedanken durch ‘etliche Anmerkungen dem Gedichte nachsetzen.’Ga naar eind32 Diese hat er eingeteilt in die Erklärungen der ‘tunklen Wörter und ... der Sachen selbsten.’Ga naar eind33 Es handelt sich also um textbezogene und damit um exegetische Anmerkungen, die bei fast allen Dichtern im Vordergrund stehen. Damit verbindet sich das Motiv, der deutschen Dichtung ein sicheres Fundament zu verschaffen: Die Außlegungen ... habe ich für die jenigen allein hinzusetzen müssen/ denen die Stätte/ Flüsse/ Länder/Gebirge/ Fabeln vnd Historien nit allerdings bekandt sind vnd wir schreiben nunmehr Deutsch/ da es erstlich einer kleinen Erklärung will von nöthen seyn/ biß man sich etwas besser werde eingerichtet haben.Ga naar eind34 Ähnlich hat es Klaj gesehen, der sich bei der Rechtfertigung der Anmerkungen auf das Vorbild von u.a. Heinsius und Grotius beruft. Die deutsche Dichtung befände sich noch in den Kinderschuhen, ‘dahero sie einer Erklärung/ als eines Gängel-Wagens benöthiget/ biß sie ... lauffen lernen möchte.’Ga naar eind35 Die Anmerkungen sind nicht an die Verständigen, Tief- und Hochgelehrten, sondern immer an die in der Poeterei Unbewanderten, die unerfahrene Jugend, an die ungeübten und einfältigen Leser gerichtet.Ga naar eind36 Die Aufgabe der Erklärung unterliegt zunächst dem Autor selbst, denn nach einem geflügelten Wort der Zeit ist er der beste Deuter der eigenen Schriften. Sein Wissen ist nichtig, wenn er es anderen nicht verständlich mitteilen kann.Ga naar eind37 Sie konnte aber auch auf den Übersetzer und Herausgeber übergehen. So hat Opitz Grotius' ‘Jonas’ mit ausführlichen Erläuterungen versehen, und für die zweite Ausgabe der ‘Wahrheit der Christlichen Religion’ plante er einen Anmerkungsteil.Ga naar eind38 Es war seine Absicht, den begrenzten Raum einer theologisch gebildeten Leserschaft zu erweitern. Wenn man die damalige Literatur als das ‘Monopol einer exklusiven kosmopolitischen Gelehrtenzunft’ bezeichnet,Ga naar eind39 dann lässt sich das kaum noch für die schaffende und schon gar nicht für die lesende Seite bestätigen. Die Anmerkungen entspringen der Spannung von gelehrter Dichtungstradition und Dichtung in der Volkssprache. Der Poet und Übersetzer stellt sich als Mittler zwischen Alter- | |
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tumswissenschaftler und ungebildetem Publikum. Sein Werkzeug sind die Anmerkungen. Sie sind das inhaltlich notwendige Pendant zur Dichtung in der Muttersprache. Man sollte in ihnen nicht ausschliesslich einen Ausweis der Gelehrsamkeit sehen, sondern sie auch als Versuch würdigen, das für das Verständnis und auch für die Ausübung der Poeterei erforderliche Wissen in weite Kreise zu tragen. Dieser Beweggrund war für Scriverius und seine deutschen Nachfolger ausschlaggebend. | |
C. Die Kunst der VorredeEine vermittelnde Funktion erfüllen auch die Vorreden, obwohl sie den Leser zunächst an der Lektüre hindern. Zwischen Titelblatt und eigentlichem Text barocker Gedichtbände breitet sich häufig ein umfangreicher Vorspann aus, der der heutigen Vorredenmüdigkeit als schier unüberwindbares Hindernis erscheint. Im 17. Jahrhundert war er ein vielgelesener und lehrreicher Bestandteil des Buches, der das Tor zum Werk öffnete. Beiderseitige Widmungsgedichte, Briefe, Motti, Inhaltsangaben, Kupferstiche und Erklärungen derselben, berühmter Leute Zeugnisse über die Poeterei richten sich wie ein Scheinwerfer auf den Autor und sein Werk. Niemand erreicht unbefangen das erste Gedicht. Der Verfasser bemächtigt sich der Vorrede, um seine Absicht darzulegen und den Leser günstig für die Aufnahme zu stimmen. Mit einer Fülle von gelehrten Anspielungen richtet er sich an den gelehrten Leser und weist gleichzeitig sein Werk als gelehrtes aus. Unter Vorrede wird hier im engeren Sinne eine längere Ausführung in Prosa verstanden, wie sie als Lehrstoff in den Rhetoriken behandelt wird. Zur genaueren Bestimmung soll der Teil aus Spiegels ‘Rederijck-kunst/ in Rijm ... vervat’ dienen, der mit ‘Vande Voorreden’ überschrieben ist:Ga naar eind1 Des Voorredens ghebreck/ zal ick u oock ontluycken:
Als u Weerzaker die magh teghen u ghebruycken.
Verdraayen oock na wensch/of die heel is ghemeen/
Te zeer ghepronckt/ te lang/ en datse niet met een
Verknocht is an de zaack/ of datse niet en tracht
Te maken leerzamheid/ noch ghunste noch andacht.
Aus dieser negativen Bestimmung ergibt sich die positive Charakteristik der Vorrede. Sie soll weder zu einfach noch zu schwierig sein, sie muss einen angemessenen Umfang haben und mit der Sache selbst in einer Beziehung stehen. Sie soll den Leser überzeugen und keine Angriffspunkte für Widersacher bieten. Spiegel unterscheidet zwei Arten: ‘Openvoorreen’ (principium) und ‘Bekruyping’ (insinuatio). Letztere ist ein Schleichweg, der dann zu beschreiten ist, wenn die Sache allgemein verabscheut wird oder der Zuhörer abgeneigt ist. Ihre Methode ist gewandt und arglistig. Sie besteht in einem ständigen Ablenken vom Streitfall: ist der Mann anstössig, soll man die Sache, ist diese anstössig, soll man den Mann darstellen. Die Gebrechen des Gegners dürfen nicht direkt, son- | |
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dern nur versteckt erzählt werden. Die ‘insinuatio’ nennt die Dinge nicht beim Namen, sie versucht das Herz des Zuhörers auf Schleichwegen zu gewinnen. Die ‘Openvooren’ spricht ihn unmittelbar an. Ihre Aufgabe ist es, ihn ‘Leerzamigh’ (docilis), ‘Andachtigh (attentus) und ‘Ghunstigh’ (benevolus) zu stimmen. Die Gunst erreicht der Redner, indem er seine Aufrichtigkeit und Bescheidenheit beteuert und den Zuhörer als Richter aufruft. Seine Aufmerksamkeit - und damit seine Aufnahmebereitschaft - wird geweckt, wenn man die wichtigsten Punkte des Inhalts aufzählt. Das ist eine, Spiegels didaktischer Absicht entsprechende, knappe Formel für das Gerüst einer Vorrede, die nicht dem literarischen Werk gilt, sondern der gerichtlichen Verhandlung. Spiegels Ausführungen sind eine gekürzte, in den wesentlichen Punkten aber wortgetreue Übersetzung aus dem 4. Buch der Institutionis Oratoriae Quintilians, in dem das gerichtliche Prooemium behandelt wird.Ga naar eind2 Die drei Ebenen von Streitfall, Richter, Anwalt lassen sich mühelos auf Werk, Publikum, Autor übertragen. Das Ziel, den Hörer ‘docilis’, ‘attentus’ und ‘benevolus’ zu stimmen, unterliegt auch der literarischen Vorrede. Ihm entspringen die Demuts- und Bescheidenheitsformeln und die Informationen über das Werk und den Standpunkt des Autors. Der Übergang zwischen beiden Bereichen lässt sich bei Rist erkennen: FReundlicher lieber Leser/ Ich halte es gäntzlich dafür/ daß es sehr billig vnnd recht sey/ daß der jenige/ der sich nicht schewet seine Schrifften gemein zu machen vnnd der offenbahren Welt vnter die Augen zu stellen/ schüldig vnnd gehalten sey/ von demselben Rechenschafft/ Rede vnnd Antwort zu geben/ in betrachtunge/ daß fast die meisten vnter dem Menschen bey diesen Zeiten ohne das so vorwitzig seyn/ daß sie nicht allein ... jedes wollen richten vnd vrtheilen/ besondern auch eines jeglichen Dinges genugsam Vrsache wissen; Dannenhero auch ich bin bewogen worden/ dem auffrichtigen Leser durch eine kurtze Vorrede anzudeuten/ was mich gereitzet habe diese meine Gedichte (die ich gleichwol schlecht vnd geringe zu seyn gern bekenne) an das öffentlich Liecht kommen zu lassen.Ga naar eind3 Die Sätze beziehen sich eindeutig auf das literarische Werk. An eine Gerichtsverhandlung erinnern noch die Wendungen Rechenschaft und Rede und Antwort geben. Der Verfasser sieht sich als Verteidiger und den Leser als Richter, dessen Unbestechlichkeit gefügig gemacht werden soll. Die Vorrede entspringt der Ungewissheit über die Reaktionen des Publikums. Mit Bescheidenheitsformeln wird es ausdrücklich in seinem richterlichen Amt bestätigt, Demutsbekundungen sollen es günstig stimmen. Gegenüber Quintilian und Spiegel hat sich grundsätzlich nichts geändert. Auch Rist schreibt der Vorrede zwei Aufgaben zu: Vorstellung des Werkes und Bitte um wohlwollende Aufnahme. Ehrenzeller hat die Struktur der Vorrede mit einem Dreieck dargestellt, an dessen Eckpunkten Autor, Leser und Werk stehen, und ihre | |
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Aufgaben in Werkfunktionen, Leserfunktionen und Autorenfunktionen aufgeteilt.Ga naar eind4 Was leistet dieses Schema für die Kenntnis der Vorreden frühbarocker Gedichtbände? Die Autorfunktion ist schwach ausgeprägt. Wendungen, die eine innige Verbindung von Dichter und Werk ausdrücken, wie Schaffensmühe und Schaffensfreude, Abschied vom Werk etc., sind - wenn überhaupt - nur andeutungsweise vorhanden. Noch schlechter ist es um den Verfasser selbst bestellt; die Nachrichten über ihn fallen stets dürftig aus. Seine Vorstellung ist wortkarg, und nur selten gewinnt er menschliche Züge. Der Gedanke Quintilians, dass auch die Lebensumstände zum Werk gehören, wird nicht aufgegriffen. Bei einer Kunst, die ihre Antriebe nicht aus der Individualität des Dichters empfängt, sondern auf einer geregelten, allgemein verbindlichen Grundlage beruht, ist die Neugierde nach der Person des Verfassers gering. Auf der Seite der Leserfuktion stehen die traditionellen Bestandteile wie ‘captatio benevolentiae’ und die Anrede, die als ein ‘Thermometer ... die Temperatur des Kontaktes anzeigt.’Ga naar eind5 Im Frühbarock wird der Gefrierpunkt selten überschritten. Der Autor bleibt im Hintergrund, der Adressat wird steif begrüsst und kühl entlassen. Von einer Leserverliebtheit, wie sie Jean Paul besass, findet sich keine Spur. Das liegt nicht daran, dass das Publikum zunächst eine gesichtslose Masse ist, der man nicht anders als förmlich begegnen kann. Derselbe Zustand findet sich auch dort, wo eine Auswahl des Publikums getroffen oder seine Anonymität aufgehoben wird wie in der Widmungsvorrede, die dem Nutzen oder dem Schutze dient.Ga naar eind6 Dem Nutzen, wenn sie an einen adeligen oder vermögenden Adressaten gerichtet ist, der als Gönner gewonnen werden soll; dem Schutze, wenn sie einen Gelehrten anspricht, dessen berühmter Name das Werk vor Angriffen bewahren soll. Als solche ist die Widmungsvorrede Ausdruck der humanistischen Freundschaft, die Übereinstimmung zwischen Sender und Empfänger voraussetzt. Der Autor betrachtet diesen als seinen idealen Leser. Die Konstellation ist bei Heinsius und Scriverius eindrucksvoll verwirklicht. Durch die gemeinsame Schülerschaft bei Scaliger waren sie freundschaftlich verbunden. Scriverius trat als Herausgeber, Vorredner und Kommentator der Nederduytschen Poemata hervor. Er war der erste und verständnisvollste Leser. Es mag daher widersinnig erscheinen, dass Heinsius ihm eine Vorrede widmet, in der er seinen Lobgesang auf Bacchus verteidigt,Ga naar eind7 denn der ideale Leser vermag das Werk auch ohne Apologie zu begreifen. Er versteht alles ohne fremde Hilfe. Diese Form der Vorrede setzt eine Übereinstimmung voraus, die im Text selbst nicht durchgehalten wird. Auch in ihr findet sich die Skepsis, die das Verhältnis des Autors zum Publikum in den anonymen Vorreden kennzeichnet. Das aber kann nur heissen, dass der Empfänger nicht identisch ist mit der Person, die die Vorrede ausgelöst hat und für die sie geschrieben wurde. Hinter dem Angesprochenen stehen Momus und Zoilus als die wirklichen Adressaten. Heinsius schreibt an einen Freund, um den Feind zu treffen. Die Technik der Maskerade wird in den meisten Vorworten im Frühbarock angewandt, | |
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und zwar vor allem dort, wo eine Publikumsauswahl getroffen wird. Wo immer man sich an den lieben, teutschgesinnten, verständigen, wohlwollenden, günstigen Leser -und was der einschmeichelnden Werbungen mehr sein mögen-richtet, meint man in erster Linie nicht ihn, sondern sein negatives Schattenbild. Denn auch hier wird in der Anrede eine Gleichgestimmtheit hergestellt, die dem Inhalt der Vorrede nicht entspricht. So vielköpfig die Menge der anonymen Kritiker zu sein scheint, so einfach lässt sich ihre Gestalt an Hand der Vorworte nachzeichnen. Es handelt sich um moralische Eiferer, religiöse Dogmatiker und humanistische Fantiker. Sie sind die eigentliche Veranlassung frühbarocker Vorreden, und gegen sie wenden sich die Rechtfertigungen der Liebesdichtung, des poetischen Synkretismus und des Gebrauchs der Muttersprache. Die Vorwürfe treffen alle Dichter des frühen 17. Jahrhunderts, deren Schaffen zu einem grossen Teil aus Übersetzungen und Bearbeitungen besteht. Es ist bekannt, wie eng ihr Themenkreis gezogen ist und wie weit sich die Skala der Variationen erstreckt. Das aber heisst, dass die Rechtfertigungen einer Vorrede nicht auf ein bestimmtes Werk beschränkt bleiben, sondern für eine ganze Reihe gelten können. Das Aussehen einer Vorrede hängt von der Gestaltung ihrer Funktionen ab. Je inhaltsreicher und genauer eine jede zwischen den Stationen Autor, Werk und Publikum vermittelt, umso enger wird sie mit dem Werk verbunden sein und umso individuellere Züge wird sie annehmen. Die Vorrede in den Gedichtbänden des Frühbarock ist nicht an einmalige Bedingungen geknüpft. Der Autor tritt wenig in Erscheinung, die Anrede ans Publikum dient häufig als Maske für eine anonyme Schar von Kritikern, die Werkfunktion ist nicht spezifisch für ein bestimmtes Werk. Dass sind die Voraussetzungen dafür, dass die Vorrede ihre Gültigkeit auf mehrere Werke verschiedener Verfasser ausweiten kann. Quintilian hat diese Art als ‘vulgare’ beschrieben, und er meint damit ein Prooemium, das mehreren Plädoyers angepasst werden kann.Ga naar eind8 Die Vorrede führt ein Eigenleben als literarische Form, die durch Entlehnung und Übersetzung gekennzeichnet ist. Einförmigkeit und Wiederholungen werden nicht als Mangel, sondern eher als Notwendigkeit empfunden. Lund entschuldigt beim Leser die Thematik seines Vorwortes: Ich weis wol/ daß andere von dieser Materi sattsam geschrieben haben: Aber solcher Gestalt solte man hinfüro gar nichts nicht schreiben/ zumalen jetzund nichts kan geredt oder geschrieben werden/ was nicht vorhin geschrieben were! Es soll vielmehr hier gelten/ qvod nunqvam nimis dici possit, qvod nunqvam satis: daß man dessen nie zu viel sagen könne/ wessen man nimmer genug sagt.Ga naar eind9 Wenn Lund bewusst die neue Information ablehnt und die Wiederholung als Mittel der Überzeugung vertritt, so macht er aus der Not keine rhetorische Tugend. Er zeigt die Übereinstimmung mit seinen Mitstrei- | |
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tern, die dieselbe Sache vertreten und vor denselben Problemen stehen und die zur Lösung dieselben, jedem Vorredner zur Verfügung stehenden Argumente anwenden. Eine knappe und eindrucksvolle Beschreibung von Argumentationssystemen hat Dyck geliefert.Ga naar eind10 Er leitet sie aus der rhetorischen Grundhaltung her, die eine Sache nicht genau benennt, sondern in einer Aufzählung von Teilaspekten sichtbar macht und mit einer konstanten Anzahl von Argumenten überzeugend darlegt. Diese stützen sich auf Autoritäten wie Antike, Bibel und Kirchenväter, die allen Gelehrten vertraut waren. Eine Unstimmigkeit scheint mir darin zu liegen, dass ein Argumentationssystem einerseits als ‘sach- und problemgebunden’, andrerseits als ‘historische Grösse’, die im Laufe der Geschichte gewachsen und zu einem ‘festen Gebilde’ geworden sei, definiert wird. Das mag in vielen Fällen für die Argumente zutreffen, aber nicht für ihre Gesamtheit im System. Das Auftauchen eines neuen Problems verlangt die Anpassung eines Argumentationssystems, dessen Bestandteile zwar traditionell sein mögen, dessen Anlage jedoch auf das neue Problem ausgerichtet ist. Der Kreis der Autoritäten kann dabei bis zur Gegenwart erweitert werden. Insofern sind Argumentationssysteme auch zeitgebunden, sie werden von der jeweiligen geschichtlichen Situation mitbestimmt. Von den wichtigsten Themen, die in Vorreden argumentativ behandelt werden, stellen wir die religiöse Rechtfertigung bis zum nächsten Kapitel zurück und greifen zunächst die der Dichtung in der Muttersprache heraus. Die Frage, weshalb man in deutscher Sprache dichte, wird nicht mit einem bündigen Satz oder gar mit einem persönlichen Bekenntnis beantwortet, sondern mit einer Reihe überzeugender Beispiele umkreist und beleuchtet, die als objektive Grundlage Gemeinbesitz aller Gebildeten waren. Ein Muster für dieses Argumentationssystem und eines der frühesten im 17. Jahrhundert enthält die Vorrede von Petrus Scriverius zu den Nederduytschen Poemata von Heinsius. Das nackte Gerüst eines Argumentationssystems ist schnell nachgebaut. Die Einstellung des Autors ist bestimmt durch Patriotismus und Sprachenthusiasmus. Sein Anliegen besteht in der Aufwertung der Muttersprache und darin, ihre Vereinbarkeit mit der Gelehrsamkeit zu beweisen. Die Methode zeigt sich in einer Reihe von Gegenüberstellungen: die Rückstände im eigenen Land werden mit der glorreichen Vergangenheit, der Antike und dem romanischen Ausland verglichen. Daraus ergeben sich ebenso viele Argumente. Das traditionelle zeigt die Möglichkeit einer Dichtung in deutscher Sprache und fordert zur Kontinuität auf, das antike zur Nachfolge. Das agonale Argument soll den Wettstreit mit den romanischen Literaturen auslösen. Den Schluss bildet der Ausgleich zwischen den gegenübergestellten Seiten: der Rückstand ist überwunden und die Forderungen der Argumente sind in dem vorliegenden Werk erfüllt worden. Dieses einfache Schema zur Begründung der muttersprachlichen Dichtung liegt den Gedichtvorreden des Frühbarock zugrunde. Es war allgemein verbindlich. | |
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Das soll nicht heissen, dass sie alle identisch sind. Gestaltung und Auswahl waren jedem Autor freigestellt. Es kann innerhalb dieses Systems zu einer Anhäufung von Argumenten kommen, und umgekehrt kann eine geringe Anzahl stellvertretend für das ganze System stehen. Die praktische Ausführung sei an der schon erwähnten Vorrede von Scriverius dargelegt, die wichtigen Anteil an der Rechtfertigung auch der deutschen Dichtung hatte. An ihr bestätigt sich was über die Eigenständigkeit der Vorrede als einer literarischen Form und ihre Eignung zur Nachahmung festgestellt wurde: Opitz hat sie ausgeschrieben, bei Lund und Rist finden sich deutliche Anklänge.Ga naar eind11 Die Gestaltung von Scriverius ist zweckbestimmt. Er hält seinen Landsleuten einen antiken Spiegel vor mit der zehnten Satire des ersten Buches von Horaz, der die Römer getadelt und die Verachtung der Muttersprache angeprangert hatte. Als er selbst noch griechische Gedichte schrieb, sei ihm Romulus im Traum erschienen und habe ihn an den Reichtum der Muttersprache gemahnt, die der griechischen Geschwader nicht bedürfe; er tue nichts anderes als Holz in den Wald tragen. Es ist für die Absicht von Scriverius bezeichnend, dass er nicht eine ausführliche Analyse dieser Satire unternimmt, sondern sich die Einprägsamkeit einer sprichwortartigen Redensart zunutze macht. Er kann dann auch in einer unvermittelten Wendung an seine Zeitgenossen die römischen Zustände auf die eigenen übertragen: Het selfde mochtmen niet sonder reden segghen van onse landsluyden, die doorgaens de Romeynen, ende somtijts oock de Griecken, soo veel toegheven, dat zy hare manieren, sprake, schriften leeren, ende daer in soo veel tijdt besteden ... dat zy ... gheen talen min en konnen, en leeren, en verstaen, dan die haer de nature ende hare ouders gheleert hebben.Ga naar eind12 Nach dem klassischen Beispiel wendet sich Scriverius der Neuzeit zu. Die Italiener haben als erste die gelehrten Studien und die verfallene römische Sprache wieder aufgerichtet, ihre eigene aber nicht vernachlässigt. Petrarca hat vieles lateinisch geschrieben, aber dreimal soviel Lob mit seinem ‘Toscaenschen Sanck’ erlangt. Politianus gedachte trotz seiner Gelehrtheit und seiner griechischen und lateinischen Poesie auch der italienischen; und Sannazar hat neben den ‘eclogae piscatoriae’ seine ‘Arcadia’ in der Muttersprache geschrieben. Diese Vorbilder haben einen doppelten Zweck. Sie sollen belegen, dass sich Gelehrsamkeit und Muttersprache nicht ausschliessen und das man durch diese ebensoviel, wenn nicht grösseres Lob erlangen kann. Scriverius befürwortet damit natürlich keine Abwertung der klassischen Studien. Er ist im Gegenteil der Ansicht, dass sie die Voraussetzung der Dichtung in der Muttersprache sind. In einer zweiten Beispielreihe nennt er global die Spanier und von den Franzosen Bartas und Ronsard. Jener wird wegen seiner Gelehrtheit und seiner heiligen Themen gepriesen, dieser hat sich zwölf Jahre lang in der griechischen Sprache geübt mit dem alleinigen Ziel, in der eigenen dichten zu können. Zum idealen Dichter gehören Liebe zur | |
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Muttersprache und Gelehrsamkeit. Gegen beide Voraussetzungen haben die Niederländer bisher verstossen, mit Ausnahme von Heinsius. Die Wendung von der Argumentation zum Anlass der Vorrede ist überraschend. Der Leser erwartet einen langen Preis der Tugenden von Heinsius, er muss jedoch mit dem Bescheid sich zufrieden geben: ‘Wy sullen hier niet segghen hoedanich onse Poeet is ...’Ga naar eind13 Mit diesem Kunstgriff nach Art des offenen Schlusses erreicht Scriverius zweierlei. Der Verzicht auf das Lob entspricht dem sachlichen Ton der ganzen Vorrede. Scriverius stellt sich als Mittler zwischen Werk und Publikum, ohne seine Parteinnahme allzu wortreich zu offenbaren. Das überlässt er dem Leser, der aus seiner Passivität gelockt wird und die ganze Vorrede rekapitulieren muss, um die Vorrangstellung von Heinsius aus dem Zusammenhang zu erschliessen. In der Anwendung der Mittel verfährt Scriverius äusserst sparsam. Der Aufbau der Vorrede ist durchsichtig, und sie fällt gerade durch ihre Schmucklosigkeit auf. Die geschickte und knappe Auswahl der Argumente beansprucht im Neudruck wenig mehr als hundert Zeilen. Man darf in der ellenmässigen Kürze keine Unfähigkeit zur Darstellung komplizierter Sachverhalte sehen und die Einfachheit des Inhalts nicht als Rücksichtnahme auf die Aufnahmefähigkeit des Lesers deuten, denn die Vorrede richtet sich auch an den humanistisch Gebildeten. Den Schluss kann man der Wirkung nach mit der Aposiopese vergleichen, die zu den Stilmitteln des ‘brevitas’-Ideals gehört. Spiegel zählt die Länge zu den Kardinalfehlern einer Vorrede, und er steht damit in einer langen, bis zur Antike zurückreichenden Tradition.Ga naar eind14 Die ‘brevitas’ ist ein von Scriverius bewusst angewandter Stil. Die häufig beschworene Gefahr der Dunkelheit vermeidet er, indem er ihn mit der ‘perspicuitas’ verbindet. Das konkrete Ziel ist es, die Ermüdung des Lesers zu vermeiden, seine Aufmerksamkeit zu erhalten und ihn überzeugend zu belehren. Die stilistische Eigenart ist nur ein Grund für die Wirkung von Scriverius' Ausführungen in Deutschland. Als Voraussetzung steht die Übereinstimmung in der Problem- und Sachlage. Opitz, Lund und Rist vermischen die Begründung der muttersprachlichen Dichtung mit der Verteidigung der Poesie, der Liebesdichtung und des poetischen Synkretismus; sie fügen Argumente hinzu und lassen andere fort und geben damit die gedrängte Komposition von Scriverius auf. Am genauesten folgt Opitz seinem Vorbild. Er hat zwar das antike Argument ausgelassen, dafür aber das traditionelle gesetzt und das agonale erweitert. Die Gegenüberstellung der eigenen mit fremden Literaturen bleibt bestehen. Die Anzahl der Beispiele wird um Sidney und um eine lange, von Heinsius angeführte Reihe von Holländern vermehrt, die sich dann in späteren Vorreden z.T. wiederfinden. Opitz übersetzt weite Strecken des Textes von Petrus Scriverius, und er kommt dem Ton, dem Umfang und der Überzeugungskraft der Vorlage am nächsten. Von den Teutschen Poemata aus haben die Gedanken von Scriverius den Weg in zahlreiche theoretische Überlegungen gefunden, der systematische Zusammenhang | |
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aber ging dabei meist verloren, da man nur Bruchstücke übernahm und sie mit anderen in Verbindung brachte. Das zeigt sich auch schon an Lunds ‘Vorrede an den Sprachliebenden Leser’ (1636). Der Verfasser führt in die Situation eines jeden Vorredners ein, indem er die Gruppen der Kritiker nennt. Sie werfen ihm Eilfertigkeit vor, weil er zu jung sei; Unselbständigkeit, weil das meiste aus Übersetzungen bestehe und den Gebrauch der Muttersprache, denn das Lateinische bringe mehr Nutzen und Ruhm. An die letzte Gruppe schliesst sich die Verteidigung an. Sie wird ganz von der Prämisse geprägt und unter den Ruhmgedanken gestellt. Die üblichen Argumente sind alle vorhanden: die Vorfahren werden genannt, die Griechen, Lateiner, Italiener, Franzosen und Holländer. Als neue Autoritäten kommen hinzu - und das zeigt den Fortschritt gegenüber den Anfängen - Opitz, Venator und Buchner, dessen Ansehen so gross war, dass selbst unveröffentlichte Werke als Autorität herangezogen wurden. An diesem Beispiel zeigt sich die Übertragbarkeit der Argumente. Hatte Scriverius über Petrarca geschrieben, dieser habe soo veel in't Latijn ghedaen en gheschreven [und] ... driemael grooter eer in sijn moeders tale behaelt, ende is veel meer bekent gheworden door zijn Toscaenschen sanck, als door alle het gheen dat hy aen den dach gebrocht heeft.Ga naar eind15 So sagt Lund über Buchner wer weis nicht/ in was süsser vnd anmuthiger Art Herr Augustus Buchnerus das Lateinische pflegt zu schreiben/ daß er jhm dadurch leichtlich einen ewigwärenden Ruhm zu wege bringen könne/ Noch dennoch wird er / weis ich/ seinen Namen durch seine eigene Sprache ins künfftig berühmter machen: dessen man schon gute Probstücklein von jhm gesehen hat.Ga naar eind16 Eine stärkere Beteiligung ist unverkennbar. Der Ton Lunds wechselt vom objektiven Vermittler zu dem eines engagierten Patrioten. Er vermehrt die Namen, Vorbilder und Beispiele. Die gedankliche Gradlinigkeit von Scriverius wendet er in Spitzfindigkeit. So erscheint das Verbot, den Römern zu folgen, als Forderung, wenn man sie schon in allen Dingen nachahme, dann müsse man auch ihre Liebe zur Muttersprache übernehmen. Lund schafft nur oberflächlich etwas Neues, bei genauerem Hinsehen entdeckt man das alte Gerüst in anderer Verkleidung. Eine ähnliche Tendenz zeigt die Vorrede zur Musa Teutonica (1634) von Johann Rist. Wie alle deutschen Nachfolger von Scriverius setzt er mehrere Argumentationsbereiche nebeneinander und fühlt sich dem ‘brevitas’-Ideal nicht mehr verpflichtet. Das zeigt sich am auffälligsten an der Vermehrung der ausländischen Autoritäten: von den Italienern nennt er allein elf Namen und darunter auch ausgefallene. Rist prunkt mit Belesenheit, ohne die Überzeugungskraft auf den Leser zu verstärken. | |
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Die Gemeinsamkeiten zwischen der Vorrede von Scriverius und denen vor den poetischen Erstlingswerken von Opitz, Lund und Rist bestehen im Anlass und im verbindlichen Argumentationssystem, nicht aber in der Ausführung. Scriverius war ganz auf die Überredung des Lesers bedacht. Mit gedanklicher und stilistischer Kürze entwickelt er ein Programm der neuen Dichtung, dem Opitz in den Teutschen Poemata am nächsten kommt. Mit fortschreitender Zeit wird dieses Merkmal aufgegeben. Das Gerüst bleibt erhalten, die zielstrebige Konstruktion weicht jedoch einem Nebeneinander gleichartiger Argumente. Es ist bezeichnend, dass Lund zweimal auf den ‘Vberdruß’ und die ‘Vnlust’ des Vorredenlesers Rücksicht nimmt.Ga naar eind17 Die Erklärung ist sicherlich in der Entwicklung der deutschen Dichtung zu suchen. Je weniger dringlich sich nach Opitzens Durchbruch die Aufgabe stellte, die Dichtung in der Muttersprache zu verteidigen, desto mehr verloren die Vorreden ihren programmatischen Charakter. Die Linie führt vom Manifest zu der Vorrede mit den drei Funktionen. Sie wird persönlicher, indem Autor und Leser stärkere Konturen gewinnen, und individueller, weil sie nicht mehr für eine ganze Dichtungsperiode steht, sondern vor einem bestimmten Werk. Die Maskerade freilich wird nie ganz gelüftet. Die Entwicklung lässt sich an den Gedichtbänden von Johann Rist verfolgen, einem der fleissigsten Vorredner des 17. Jahrhunderts. Es ist bezeichnend, dass er die Benennung Vorrede später durch ‘Vorbericht’ ersetzt. Der äussere Umfang wächst um ein Vielfaches an. Eine Freude am Detail führt Rist zur Analyse der Werke, der Veranlassung und der Veröffentlichung, des Titels, der Dichtung überhaupt und besonders der eigehen. Der Leser wird über nichts im Zweifel gelassen, aber nicht immer handelt es sich um sachliche Unterrichtung; oft ist Bevormundung und manchmal echte Leserverliebtheit mit im Spiel. Die apologetische Haltung unterliegt allen Vorreden, aber sie gilt nun vor allem den eigenen Bänden. Bei Rist vollzieht sich eine Wendung vor der gelehrten Verteidigung der muttersprachlichen Dichtung zur tagespolitischen Stichelei nach allen Seiten. Dafür bedarf es weniger eines Argumentationssystems als eines maliziösen Fachwortschatzes. Rist bietet seine ganze Erfindungsgabe auf, um immer neue Invektiven für Kritiker und Klüglinge zu erfinden.Ga naar eind18 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Rechtfertigungen zum Selbstzweck geworden sind. Nach dem beliebten Kontrastschema zeichnet er die poetische Landschaft mit einem Kohlestift, um die eigenen Farbtupfer umso heller auftragen zu können. Hiermit soll natürlich kein Urteil über Rists spätere Vorreden gefällt werden. Sie sind eine Fundgrunde für die Kenntnis der literarischen Auffassungen. Es soll vielmehr die veränderte Zielsetzung gezeigt werden, die in der Verengung des Blickwinkels von einer dichterischen Bewegung zu einzelnen Werken besteht. Diese Beschränkung ermöglicht paradoxerweise der Gestaltung grössere Freiheiten. Die stärkere Bindung von Vorrede und Werk zeigt sich schon an dem vier Jahre nach der Musa Teutonica erschienenen Band Poetischer Lust- | |
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Harfe (1638) und danach an Poetischer Schauplatz (1646). Die behandelten Materien werden ausführlich besprochen, die Absichten breit dargelegt, und immer wieder werden die Gründe angegeben, weshalb er gerade dieses und kein anderes Thema gewählt habe. All das ist umgeben von Demuts- und Captatioformeln: Er selbst schätze seine Gedichte gering ein, er bringe sie nur auf Anraten gelehrter Freunde an die Öffenltichkeit und vertraue auf das verständige Urteil des Lesers. Das mögen topische Wendungen sein, sie zeigen aber dennoch ein stärkeres Eingehen auf den Leser. Sein Name bleibt nicht auf die Begrüssung oder den Abschied beschränkt. Rist wiederholt ihn häufig innerhalb der Vorrede und findet vertrauliche Bezeichnungen und werbende Attribute. Er spricht ihn an und verwickelt ihn in ein Gespräch. Der Leser wird absichtlich fehlgeleitet, und Rist führt ihn auf die rechte Bahn zurück. Er legt ihm zweifelnde Fragen in den Mund, die er dann selbst beantwortet. Im fingierten Dialog vereinigt Rist Werk- und Publikumsfunktionen der Vorrede: er spricht über seine Dichtung, widerlegt die Kritiker und erhält die Aufmerksamkeit der Leser. Eine ähnliche Verschmelzung der Funktionen enthält der ‘Vorbericht’ zum Teütschen Parnass: Teütscher und auffrichtiger lieber Leser! Die Titelerklärung entspringt dem berechtigten Interesse des Lesers an der Aufhellung einer verschlüsselten Überschrift. Dass Rist mit ihm redet, ist durchaus wörtlich zu nehmen. Er entschuldigt sich mehrere Male für die Länge, stimmt dem Leser zu (‘Gahr recht/ mein Freund/ gahr recht’ bij a) oder korrigiert ihn (‘Aber nein/ du irrest/ lieber Leser’). Rist verteidigt sich gegen den möglichen Vorwurf, er wolle sich mit dem Titel als deutscher Apoll ausgeben. Einem nüchternen Referat aus antiken Quellen über den griechischen Parnass folgt die aus eigener Erfahrung gewonnene Schilderung eines norddeutschen Hügels. An Stelle einer Wahrheitsbeteuerung steht eine genaue Ortsbestimmung. Er ist ‘bei dem bekanten Haven Schulou/ an das Dörfflein Lyht stossend/ nahe an dem Elbefluß gelegen’ (bij a). Was dann folgt, das gehört zu den anmutigsten Landschaftsschilderungen der Zeit. Des Autors Freude am Erzählen gewinnt ohne weiteres das gleichgestimmte Ohr des Lesers. Statt ins Werk einzuführen, nimmt Rist den Leser an die Hand und geleitet ihn auf die Höhen seines Dichterhügels. Er ist prächtig ausgestattet. Sein Fuss wird von einem Eichenrund gesäumt, in das sich schattenspendende Apfelbäume, ‘Haselstürden’, Erlen und Stauden mischen. Zwei Brunnen, dreissig Schritt auseinander gelegen, sprundeln so klares, kühles | |
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und schmackhaftes Wasser, dass selbst der kastalische Quell damit nicht zu vergleichen ist. Weiter oben laden Grasbänke zur Rast und zum Rundblick ein. Nach Osten kann man dem Lauf der Elbe bis zum weitberühmten Hamburg, nach Süden bis ins Bremerland folgen. Im Norden dehnen sich weite Ackerflächen und im Westen fruchtbare Wiesen. Der grösste Vorzug ist die Lage an der Elbe. Stolze Segelschiffe gleiten vorüber auf ihrer Fahrt nach Spanien, Afrika und Indien oder heimwärts nach Hamburg mit vielen kostbaren Schätzen beladen. An diesem Ort sind Rist manch ‘schöner Gedanke und guhte Erfindung’ eingefallen, hier hat er ‘viel tausend Verß zu Papir gebracht.’ (biv b) Die inspirative Abgeschlossenheit und der Ausblick auf das Land und die Weltschiffahrt wecken Erwartungen, die die folgenden Gelegenheitsgedichte nicht erfüllen. Aber darum geht es gar nicht. Der deutsche Parnass ist das genaue Gegenteil des ungastlichen Felsens bei Delphi - das ist eine Fürsprache für die deutsche Dichtung. Er wird mit den lieblichsten Zügen dargestellt, und das ist eine Werbung für das eigene Werk. Die Beschreibung trägt unverkennbar Merkmale des ‘locus amoenus’: Wald, Rasen und Quelle sind vorhanden; der Ort bietet viele ‘Lustbahrkeiten’ (biij b) und lädt zum berühmten ‘Dichten unter Bäumen, auf Rasen, am Quell’ ein.Ga naar eind20 Mit der Idealität verbindet sich der realistische Zauber der Naturveduten, deren Meister die Niederländer waren. Flüsse, Städte, Schiffe und Hafen, Berge, Wiesen, Äcker und Wälder gehören zu ihrem Szenarium. Rist hat die Verbindung zur Malerei selbst hergestellt. Sein Parnass sei so beschaffen, daß auch die Mahler keine bessere Gelegenheit als diese solten wünschen/ schöne Landschafften abzureissen/ den hie alles/ was zu einer Landschafft gehörig ... gantz klährlich in Augenschein kan genommen und auff ein Papier oder Tuch perspectivisch und von weiten ahrtig verzeichnet werden. (biij b) Der Betrachter verliert sich in die Weiten eines solchen Gemäldes. Jede Einzelheit ist genau ausgeführt, und dennoch erscheint das Ganze verklärt. Ähnlich ergeht es dem Leser. Er kann sich dem Reiz der Darstellung nicht entziehen und folgt dem Dichter willig auf die Höhe seines Parnass. Er befindet sich selbst am anmutigen Ursprung der Gedichte und wird günstig für ihre Aufnahme gestimmt. In Wirklichkeit enthält die Titelerklärung eine ‘captatio’ und zwar in der Form der ‘insinuatio’, wie sie Spiegel verstand. Sie versucht den Leser nicht direkt, sondern auf Schleichwegen zu gewinnen und macht dabei Abschweifungen und Biegungen, die den Idealen der ‘brevitas’ und ‘perspicuitas’ fremd sind. Epische Darstellung und prägnante Argumentation sind die beiden Pole der Vorrede, zwischen denen es viele Abstufungen gibt. Ihr Auftreten hängt von der Entwicklung der muttersprachlichen Dichtung ab. Am Anfang steht die Argumentation, wie sie in der Vorrede von Scriverius beispielhaft vertreten ist. Sie ist untypisch insofern, als sie nicht für ein Werk alleine gilt, sondern sich auf eine ganze Dichtungsbewegung über- | |
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tragen lässt, die ungeachtet sprachlicher Verschiedenheit dieselbe Problem- und Sachlage zu bewältigen hatte. Argumentationssysteme erfüllen eine apologetische Aufgabe. Sobald sich diese weniger dringlich stellt oder fortfällt, werden sie entbehrlich. Sie sind zeitgebunden nicht nur was ihr Entstehen, sondern auch was die Dauer der Gültigkeit betrifft. Die Entwicklung führt von der Geschlossenheit des gemeinsamen Vorgehens zur Vereinzelung in der jeweiligen Absicht. Sie hat sich an der Aufnahme der Vorrede von Scriverius gezeigt: bei Opitz findet sich eine relativ genaue Nachahmung, bei Lund und Rist gradweise Auflösung und Abschaffung dieser Form. Systematisch ergeben sich folgende Gesichtspunkte: geschichtlich läuft die Entwicklung von der Propagierung zur Verwirklichung einer eigenen Dichtung, gattungsmässig vom Manifest oder Programm zur epischen Darstellung, stilistisch von der ‘brevitas’ zur ‘amplificatio’ mehr im verbreiternden (‘dilatatio’) als im steigernden Sinne.Ga naar eind21 | |
D. Das Problem der mythologischen BildlichkeitIn vielen Vorworten wird das Problem der mythologisierenden Darstellung behandelt, die wie kein anderes Merkmal das Bild der frühbarocken Dichtung bestimmt. Sie verlieh der Poesie ein erhabenes Aussehen, ermöglichte geistreiche und gelehrte Umschreibungen und intensivierte das Lob der Bedichteten. Sie war aber auch Anlass für Angriffe von christlicher Seite. Die Auseinandersetzungen wurden vor allem dann mit Vehemenz geführt, wenn die antiken Götter im Werk eines Geistlichen fortlebten oder in einem christlichen Gedicht ihr Unwesen trieben. In einer Brautbeschreibung Hudemanns kommen verschiedene Bereiche zusammen. Neben einer heidnischen Schöpfungsgeschichte steht die christliche; dem petrarkistischen Frauenpreis, der sich mit dinglichen Kostbarkeiten auf die äussere Gestalt richtet, folgt das Lob christlicher Tugenden.Ga naar eind1 Es handelt sich um eines der zahlreichen Mischpoeme mit weltlichem und geistlichem Inhalt oder heidnischer und christlicher Bildlichkeit. Henrich Hudemann war humanistischer Gelehrter und gläubiger Christ. Er hatte in Rostock studiert, veröffentlichte die Carmina Gnomica des Caselius und neulateinische Gedichte, in denen er sich des Instrumentariums der antiken Literatur bediente. Er leitete aber auch eine kleine Pfarrgemeinde in Wewelsfleth und verfasste religiös-erbauliche Epigramme auf Bibelverse. Humanistische Bildung und christlicher Glaube finden ihren Niederschlag in diesem Gedicht. Es wäre falsch anzunehmen, der Autor habe beide Bereiche unreflektiert nebeneinandergesetzt und sich nicht die Frage nach ihrer Vereinbarkeit gestellt. Hudemann war kein Dichtungstheoretiker - sogar die obligatorischen Vorworte fehlen in seinen Bänden -, er hat aber sein Verständnis der Poeterei in einem Brief an Meursius niedergeschrieben, der bedeutsam genug ist, in diesem Zusammenhang ausführlich zitiert zu werden: | |
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LIcet ego praecipue divinis studiis animum adplicem, non tamen relinquo Musas, sed, eas mecum velut ad utiliorem mercatum circumduco. Ita partior tempora, ut ad Theologiam etiam Poetices studium adiungam, semper denique cum severioribus necto humaniores literas, & ad aliena castra transire soleo, non tamquam transfuga, sed tamquam explorator. Nunc quidem oppressi sumus opinionibus, non modo vulgi, sed etiam hominum leviter eruditorum, qui negant varietatem literarum convenire ei, qui certae scientiae addictum se fateatur; nolunt in diversis disciplinis eumdem versari. Ephesi natos diceres, ubi memini licuit excellere. Qui Theologiam amplexus sit, eum una pene voce repellunt a studiorum amoenitate, excludunt ab omni doctrina, aliarumque rerum scientia, & tantum in templa, & conciones detrudunt, ac compingunt. Sed horum fordes, & errorem sequi putidum semper, & me prorsus indignum existimavi, ut cui mos iste stolidissimus multum displicuerit, mihique etiam nunc pastoritia fistula, si quis alius, dignissimus videatur. Vnde & factum est, ut gravium cogitationum nubila Poeticis delinimentis abstersurus, saepissime ego ad audaciam Carminum provectus fuerim. Testari hoc poterunt Divitiae meae Poeticae; quas e scriniis meis publicavi.Ga naar eind2 Diese Sätze unterscheiden sich von programmatischen Anweisungen in Poetiken und Vorworten durch ihren persönlichen Charakter. Sie haben den Rang eines Selbstzeugnisses, das die heute nur schwer verständlichen Kontroversen um die poetische Bildlichkeit verdeutlichen kann.Ga naar eind3 Die Kritiker haben Hudemann die Unvereinbarkeit von geistlicher Tätigkeit und weltlicher Dichtung vorgehalten. Er gibt zwar den ernsthaften Studien den Vorzug, aber das schliesst eine Beschäftigung mit der Dichtung nicht aus. Er teilt seine Zeit so ein, dass beide Bereiche zu ihrem Recht kommen. Die Hinweise auf die Musen und die Divitiae Poeticae zeigen, dass er in der Dichtung vor allem den ‘ornatus’ mythologischer Figuren sah. Sie stehen nicht im Widerspruch zu seinem christlichen Glauben und theologischen Studien, sondern diese Art der Poeterei gilt ihm als Ausgleich für die Mühen ernsthafter Arbeit. Das ist die Haltung eines jedem Dogmatismus negativ gegenüberstehenden Humanisten. Die Anregungen dazu könnte Hudemann vom Rostocker Theologie- und Poesieprofessor Lubinus empfangen haben, den Trunz als ‘Vertreter einer Richtung’ beschrieben hat, ‘die es in Deutschland sonst fast gar nicht mehr gab, humanistisch, aufgeklärt kühl, aller Orthodoxie und allem Wortgezänk abgeneigt.’Ga naar eind4 Oder er entnahm sie den Nederduytschen Poemata von Heinsius, die er damals schon kannte und in denen er ähnlichen Gedanken begegnete. Lubinus und Heinsius sind nicht nur in der Geisteshaltung verwandt. Ihre wissenschaftlichen Wege haben sich bei einem Werk gekreuzt, das für die heidnischen Bacchusdichtungen in der Renaissance von Bedeutung war und dessen Autor, Nonnus Panapolitanus (5.Jh.n.C.), in der | |
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Apologetik der antiken Mythologie als Kronzeuge angeführt wurde. Nonnus war Christ und schrieb das Johannesevangelium in Hexameter um, er hat aber auch Dionysiaca hinterlassen, in denen in 48 Büchern die Geschichte des Dionysos von der Geburt bis zur Apotheose dargestellt wird. Sie wurden von Lubinus ins Lateinische übersetzt und 1605 veröffentlicht. Die Ausgabe enthält eine ‘dissertatio de Nonni Dionysiacis’ von Heinsius, der später auch Nonnus' Johannesevangelium kommentierte.Ga naar eind5 In dem Widmungsbrief an Scriverius führt er das Nebeneinander von heidnischen und christlichen Werken bei Nonnus gegen seine Kritiker ins Feld, ‘op dat de ongeleerde ende neuswijse leeren swijgen, die het selve in ons nieuw ende vreemt vinden.’Ga naar eind6 Aus dieser Zurückweisung spricht dieselbe aufgeklärte Haltung, wie sie von Lubinus und Hudemann vertreten wurde. Sie erfordert Aufrichtigkeit und rationales Urteilsvermögen statt engstirniger Orthodoxie. Heinsius hat in seiner Hesiod-Ausgabe diesen Unterschied deutlich ausgesprochen. Bei der Bewertung eines heidnischen Autors dürften keine christlichen Maßstäbe angelegt werden: Videtur enim hoc fatum Orthodoxorum fuisse, ut inter eos essent aliqui semper, qui plus malevolentia ... profecturos se existimarent, quam modestia, quam candore, quam ratione.Ga naar eind7 Hudemanns Brief ist nicht nur ein persönliches Zeugnis. Er zeigt vielmehr, in welch hohem Grade man von orthodoxer Seite Angriffen ausgesetzt war. Ähnlich wie bei der Liebes- und Hochzeitspoesie verwechselte man Leben und Dichtung und schloss von dem einen aufs andere. Er steht damit in der langen Tradition des Schrifttums, das das antike Geistesgut gegen religiöse Eiferer verfocht. Die Frage der Kritiker lautete, ob ein christlicher Dichter antike Dichtungselemente verwenden und sogar mit christlichen vermischen dürfe. Zwar liessen sich antike Mythen in die christliche Vorstellungswelt integrieren: man denke nur an Barths Deutschen Phoenix und an die Darstellungen von Fortuna und von Ikarus, der im 17. Jahrhundert immer wieder als christliche Mahnung gegen die Vermessenheit gestaltet wurde. Aber das ist nicht die Regel. Die Befürworter der Mythologie urteilen vom poetisch-ästhetischen Standpunkt aus, die Gegner vom orthodoxen. Wenn zwei so verschiedene Betrachtungsweisen gegeneinanderstehen, dann muss es zu Spannungen kommen, und die lange Reihe polemischen und apologetischen Schrifttums ist dafür ein Beweis. Das grundsätzliche Problem soll nicht weiter verfolgt werden, denn hier interessiert die Frage, welche Rolle es im frühen 17. Jahrhundert gespielt hat und wie es gelöst wurde. Sie gewinnt an Wichtigkeit, weil dogmatische Auseinandersetzungen und weltweit beachtete Ereignisse wie die Dordrechter Synode auch den gelehrten Dichtern die Besinnung auf christliche Gebote nahelegten. Alewyns Prägung von der kunstmythologischen Harmlosigkeit der antiken GötterGa naar eind8 sollte nicht in dem Sinne missverstanden werden, diese seien schon damals allgemein so aufgefasst worden, wogegen die Kontroversen sprechen; oder | |
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als handele es sich um eine Verniedlichung wie im Rokoko, da überwiegend die grossen Götter herrschen. Für die neue Kunstdichtung stellte sich nicht nur die Aufgabe der sprachlichen und metrischen Reform, sondern auch die der Inhalte. Viele Dichter begannen mit neulateinischen Versen. Sie knüpften bewusst an das heidnisch-antike Gut an,Ga naar eind9 das sie dann auch auf die Dichtung in der Muttersprache übertrugen. Es ist ein weiterer Beweis für die Anfangsstellung von Opitz, dass er als der erste Theoretiker ausführlich zum Problem der Harmonisierung von antiken Dichtungselementen und christlichem Glauben Stellung genommen hat. Und es ist bezeichnend für die Rolle der niederländischen Literatur, dass er die Argumente nicht der älteren Apologetik, sondern der von Heinsius und Scriverius entnahm.Ga naar eind10 Bei ihnen fand er wohlgebaute Argumentationssysteme, denen er die grösste Zeit seines Schaffens verpflichtet blieb. Es scheint angebracht, hier die Feststellung Conradys kurz zu besprechen, Opitz habe sich in der Auseinandersetzung mit der antiken Mythologie selbst widerlegt. Der Vorwurf trifft auch Heinsius und Scriverius. Conrady stellt die Verteidigung in den Vorworten gegen eine Abrechnung im Lobgesang auf Christus, in der die Götter als Götzen bezeichnet und beschimpft werden: ‘Vnd Venus ist ein’ Hur, Mercurius ein Dieb.’Ga naar eind11 Er hat aber den Kontext nicht beachtet; die Schelte steht in einer Beschreibung der heidnischen Welt, in die Christus geboren wurde: ‘Die götter zunfft ist gross, vnd mangelt doch an Gott.’ (V. 216) Es handelt sich also um eine religionsgeschichtliche Darstellung, die mit den Verteidigungen in Vorworten nichts gemeinsam hat, denn reale und bildliche Ebene dürfen nicht vermischt werden. Ein ähnliches Missverständnis unterliegt auch den Angriffen, auf die Heinsius in seiner Apologie antwortet. Er hatte innerhalb kurzer Zeit nicht nur die beiden Lobgesänge auf Bacchus und Christus veröffentlicht, sondern sich im letzteren auch der heidnischen Mythologie bedient, was die Kritik der Zeitgenossen - auch an Opitz' Übersetzungen - hervorrufen musste. Martin Nessel setzt seiner lateinischen Übersetzung des Lobgesanges auf Christus aus diesem Grunde eine entschuldigende Bemerkung an den Leser voran: Commone te faciendum putavi, ut si hac in meâ versione aliquid tibi obvenerit, quod non satis ac per omnia cum Religionis nostrae normâ congruere videatur, de eo me excusatum & inculpatum habeas; ut, cui institutum & propositum unicè fuerit, Hymnum non corrigere, sed verò transferre tantum, ac Latinitate donare.Ga naar eind12 In der Apologetik der heidnischen Mythologie muss man zwei Richtungen unterscheiden. Die erste wurde von Heinsius in einem Brief an Scriverius vor der Bacchus-Hymne ausgearbeitet. Sie wendet sich gegen den Vorwurf, ein Autor, der heidnische Motive gestalte, sei ungläubig. Die zweite hat Scriverius dargestellt; ihr geht es um die Harmonisierung von heidnischer Bildlichkeit und biblischer Thematik in einem christlichen | |
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Gedicht. Heinsius beginnt seine Verteidigung mit einem persönlichen Bekenntnis: Bei der Lektüre der von den Heiden hinterlassenen Schriften verwundere ihn nichts mehr als deren grosse Blindheit, die so weit gegangen sei, dass sie ihre Fehler dem Himmel zugeschrieben und ihre Sünden angebetet hätten. Er versetzt sich also in die Rolle seiner Kritiker, indem er den Irrglauben geisselt, und er gibt seine grundsätzliche, religiöse Position an, von der aus er die Einwände gegen seine Dichtungen zurückweisen kann. Heinsius bedient sich zweier Argumentationsbereiche, eines heidnischen in Gestalt antiker Autoren und eines christlichen in Gestalt der Kirchenväter. Die beiden scheinen zunächst in einem unvereinbaren Gegensatz zueinander zu stehen, mit dem sich das Ziel der Argumentation nicht erreichen lässt. Die Grundlage bildet die These des alexandrinischen Juden Aristobolus, die von den Kirchenvätern aufgenommen wurde und von daher Heinsius bekannt gewesen sein könnte. Nach Aristobolus ist die jüdische Weisheit die älteste, aus ihr sind die griechische und die christliche hervorgegangen.Ga naar eind13 Wenn diese beiden denselben Ursprung haben, dann ist der Gegensatz zwischen Heiden- und Christentum gemildert und sie können in einen Zusammenhang gebracht werden. Dennoch besteht nach Heinsius ein qualitativer Unterschied zwischen beiden Beispielreihen. Die Heiden haben den Irrglauben gesehen, aber sie waren noch nicht im Besitz der Wahrheit, die Kirchenväter dagegen haben den Irrglauben und die einzige Wahrheit, nähmlich den christlichen Glauben, erkannt. Heinsius sieht in ihnen seine eigentlichen Vorbilder. Die Bemerkung, er habe ihre Schriften mehr gelesen als die der Heiden, entspricht wohl der WirklichkeitGa naar eind14 Die Patres standen in jener Zeit in hohem Ansehen, und für jeden Theologen war das Studium ihrer Werke eine unabdingbare Forderung. Ihr Zeugnis war massgebend in Fragen des Glaubens, der Exegese und der biblischen Textüberlieferung.Ga naar eind15 Sie waren ebenso wie die Renaissancegelehrten Christen, die sich mit dem antiken Gedankengut auseinandersetzten. Wenn die Patres vieles davon in ihre Schriften aufnahmen, dann erfüllen sie nicht nur eine vermittelnde Funktion, sondern dienen auch als Beweis dafür, dass sich heidnische und christliche Elemente in einem Werk vereinen lassen. Heinsius' Auswahl aus den antiken Gewährsmännern wird weitgehend von den Kirchenvätern bestimmt. Er nennt u.a. Sokrates, Euripides, Antisthenes und Bion. Sie alle hätten den Götzendienst verworfen und die Götter beschimpft,Ga naar eind16 wenn sie ihnen auch manchmal zum Schein gefolgt seien. Diesen Streit will Heinsius fortführen, allerdings nicht in offener Polemik, sondern in ‘bedectelicker’, das heisst in poetischer Weise. Plutarch habe in dem Werk ‘Quomodo adolescens poetas audire debeat’ unter den Götternamen Venus und Vulcanus nichts als Liebe und Feuer verstanden. So will Heinsius Bacchus für Wein verwenden, für seine guten und schlechten Eigenschaften, für den Gebrauch und den Missbrauch durch die Menschen. Der Gott wird nicht um seiner selbst willen dargestellt, denn er muss allegorisch gedeutet werden. Das ist mehr als eine Verständnishilfe, denn dadurch gelingt es Heinsius, das antike Gei- | |
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stesgut mit dem christlicken in Einklang zu bringen und sich gegen den Vorwurf des Irrglaubens zu bewahren. Bei der Vorliebe für eine uneigentliche Sprechweise sind die mythologischen Namen ein wichtiger Bestandteil im ‘ornatus’ der Dichtung. Damit ist noch nichts über den Anwendungsbereich der antiken Mythologie gesagt. Heinsius ging es in dem Brief an Scriverius vor dem Lobgesang auf Bacchus um den Nachweis, dass die Wahl eines heidnischen Themas kein Kriterium für die Konfession des Autors darstellt. Der Christus-Hymne kann man entnehmen, dass er die heidnische Bildlichkeit nicht auf die weltliche Dichtung beschränken wollte. Hier steht Jupiter neben Christus, der griechische Götterhimmel tritt in Erscheinung, und kultische Stätten wie Eleusis werden genannt. Dieser Synkretismus musste eine noch schärfere Reaktion der Kritiker hervorrufen. Heinsius selbst hat dazu nicht Stellung genommen; die Verteidigung unternahm Scriverius in einer ausführlichen Anmerkung, die von Opitz übersetzt und ausgeschrieben wurde. Es handelt sich nicht mehr um die prinzipielle Rechtfertigung antiker Bildlichkeit, sondern um die der Verwendung in einem geistlichen Gedicht. Scriverius muss also in seiner Argumentation über die von Heinsius hinausgehen, und er tut das, indem er statt des antiken Schrifttums die Bibel anführt. Auch er beginnt zunächst mit der ästhetischen Begründung: Der Autor habe an Stelle der gewöhnlichen Sprache einige poetische Worte gebraucht wie Thetis für Meer und Acheloos für Wasser. Niemand, der die Kirchenväter kenne, könne daran Anstoss nehmen. Diese aber seien die gelehrtesten und gottseligsten Folger der Apostel. Paulus gebrauche die Worte des Poeten Aratus, bei den Propheten finde man die Vokablen Gigantes, Vallus Titanum; Jesaias und Jeremias schrieben Sirenes oder filiae Sirenum - alles Worte, die den Poeten entnommen seien.Ga naar eind17 Wenn sie sogar in der Bibel vorkommen, dann darf der heutige Dichter sie auch verwenden. Beim Gebrauch von ‘Cocytus’ für Hölle und ‘Pytho’ für Teufel könne Heinsius sich auf sie berufen. Scriverius schliesst dann die entschiedende Folgerung an: Pytho stehe in der Bibel sowohl für Wahrsager wie für den bösen Geist.Ga naar eind18 Das ist ihm Anlass genug für die Feststellung, der Heilige Geist habe als der Verfasser der Heiligen Schrift die Lehre der Heiden verworfen, aber nicht ihre Worte. Religiöse Angriffe werden mit einem theologischen Argument zurückgewiesen, das seine Überzeugungskraft aus der unerschütterlichen Autorität der Bibel empfängt. Scriverius kann denn auch seine Apologie mit der spöttischen Bemerkung schliessen, er habe das nur für diejenigen gesagt, die ohne Wissenschaft über Dichtung urteilten. Der ‘ornatus’ mythologischer Namen wird somit als Charakteristikum der gelehrten Dichtung verstanden, dessen Anwendungsbereich nicht begrenzt ist. Die gelehrte Argumentation von Heinsius und die theologische von Scriverius stehen in der apologetischen Tradition, sie unterscheiden sich jedoch davon durch ihre Gestaltung. Sie sind keine wissenschaftlichen Traktate, beladen mit dem Ballast der Akribie und Vollständigkeit, son- | |
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dern jeweils auf beschränkten Raum in sich geschlossene und in der Auswahl der Argumente wohl durchdachte Darlegungen, deren Ziel es ist, den Leser muttersprachlicher Dichtung zu überzeugen. Diesen Vorteil wusste auch Opitz zu schätzen. Er versucht zwar das ganze Problem zu mildern mit Bemerkungen wie: ‘Wegen der weltlichen ... art zue reden ... hat es heutiges tages keine gefahr nicht’ und darüber sei ‘so viel bericht ... geschehen/ das es weiterer außführung ... nicht’ bedürfe.Ga naar eind19 Aber sie erscheinen als bewusste Verharmlosungen angesichts der Bedeutung, die er der Verteidigung zumisst. Aus dem von ihm genannten, reichhaltigen Schrifttum zieht er nur Heinsius und Scriverius heran. In der Vorrede zu den Teutschen Poemata vermengt er die beiden Wege der Apologie, und das führt nicht zur Konzentration. Auf Kosten der Folgerichtigkeit und Überzeugungskraft muss er kürzen und auslassen, aber das ändert nichts an der Wirksamkeit seiner Zusammenstellung. Seine Regel, dass in der Mythologie ‘ein grosses theil der Poetery besteht’, entspricht der eigenen Praxis und wurde von vielen Dichtern übernommen.Ga naar eind20 Johann Rist hat in seinem Erstlingswerk Musa Teutonica die Aufgabe der guten Poeten darin gesehen, dass sie ‘auff eine vorgenommene Materi, die Poetischen Figmenta(!) der alten fein Mythologicê accommodieren.’Ga naar eind21 Mythologie und Allegorie sind für ihn selbstverständliche Bausteine der Dichtung. In der Poetischen Lust-Harfe hat er das in deutlicher Anlehnung an Opitz und Heinsius weiter ausgeführt: die Poeten hätten sich bisher der heidnischen Götter bedient, aber ein christliches Herz werde sie nie für wirkliche Götter halten, wie die Heiden es in ihrer Blindheit getan hätten. ‘Namen sind es/ Nahmen bleiben es.’ Thetis werde für das Meer und Mars für den Krieg gebraucht.Ga naar eind22 Rist hat aber in derselben Vorrede seine Zustimmung an einem entscheidenden Punkt eingeschränkt. Wenn man diese Namen auch nicht entbehren könne, so solle man sie mit Zurückhaltung anwenden, Venus, Cupido und Hymen aber völlig meiden. Die Ablehnung nimmt in späteren Werken stets grösseren Raum ein. Im Poetischen Schauplatz heisst es: Ein rechtschaffener Poete darff sich solcher Heydnischen Lumpen-Gedichte gahr nicht bedienen ... Er hat ... keines Jupiters/ keines Apollo/ keines Merkurius/ noch auch der leichtfertigen Venus-Metzen von nöhten.Ga naar eind23 In der Praxis wählt Rist einen geschickten Ausweg. Als Vielschreiber auf allen Festlichkeiten kann er auf die antike Mythologie nicht verzichten, er gebraucht sie aber meist in Form der Götterschelte. Rists Stellung zur mythologischen Allegorie ist nicht eindeutig, denn sie umfasst die möglichen Standpunkte. Die gelehrte Interpretation erkennt er an, mahnt wenig später zur Mässigung und kommt dann zur Ablehnung, die dann auch wider nicht konsequent durchgehalten wird, da er in den eigenen Gedichten nur die Vorzeichen verändert, den Götterhimmel selbst aber nicht verwirft. Nicht nur Gründe der Vernunft und Religiosi- | |
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tät bestimmen seine späteren Urteile, sondern vor allem moralische Bedenken gegen das zügellose Wirken der erotischen Gottheiten. Der entscheidende Unterschied zu Opitz besteht in dem Verbot, die Mythologie in geistlicher Dichtung zu verwenden.Ga naar eind24 Es ist auffallend, dass sich der Wandel innerhalb weniger Jahre vollzieht (1634-1638) und in die Zeit des Gelehrtenstreites zwischen Heinsius und J.L.G. de Balzac fällt, in dem dieses Problem zur Diskussion stand. Rist reagierte stets schnell auf aktuelle Ereignisse, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Kontroverse seine Haltung beeinflusst hat.Ga naar eind25 Der Anlass und die Chronologie des Streites sind schon des öfteren beschrieben worden.Ga naar eind26 Er wurde wahrscheinlich mehr durch persönliche als durch sachliche Beweggründe ausgelöst. Heinsius veröffentlichte 1632 eine schon viele Jahre zuvor abgeschlossene Tragödie mit dem Titel ‘Herodes Infanticidia’, die wegen ihrer Formvollendetheit und sprachlichen Kunst weithin beachtet wurde. ‘Heinsius divinam nuper edidit Tragoediam’, berichtet Fabricius voll des Lobes nach Hamburg.Ga naar eind27 Balzac zählte sie zu den aristotelischen Musterdramen. Die Mariendarstellung stellte er über die Gemälde von Raffael und Michelangelo. Die Tragödie verdiene es, in einem elfenbeinernen Theater aufgeführt zu werden.Ga naar eind28 Aber das hyperbolische Lob dient hur als Mantel für eine heftige Kritik, die Balzac zunächst in Briefen, dann in einer Abhandlung formulierte. Er tadelt die Vermischung von heidnischen und christlichen Elementen. Heinsius antwortete noch in demselben Jahr mit einer umfangreichen Epistola , in der er seine Konzeption verteidigte. Damit ist die Kontroverse noch nicht beigelegt: Crojus nahm für Heinsius und Salmasius für Balzac Partei. Es würde zu weit führen, wollte man alle Einzelheiten darstellen. Eine Beschränkung auf die Grundpositionen lässt die gegensätzlichen Standpunkte schon klar hervortreten, denn es handelt sich nicht um eine Auseinandersetzung im eigentlichen Sinne, sondern um eine Gegenüberstellung unvereinbarer Meinungen. Balzac macht sich zum Anwalt einer ungelehrten Leserschaft, Heinsius verteidigt sich als Gelehrter. Zum Schiedsrichter wählte man Constantijn Huygens: Über ihn lief die Korrespondenz, an ihn richtete man die Streitschriften, und er war es auch gewesen, der Balzac die Tragödie von Heinsius übersandt hatte. Die Polemik richtet sich gegen das Werk und seinen Autor. Balzac ist nicht so sehr darüber erstaunt, dass Herodes heidnische und christliche Reden führt, sondern dass ein christlicher Dichter beide Bereiche vermischt. Er kann nicht verstehen, dass ein Engel den Prolog spricht, aber auch Tisiphone mit ihren Schwestern und dem ganzen Zubehör auftritt, denn Engel und Furien sind unvereinbar. Das Thema sei christlich, die falschen Göttinnen daher fehl am Platze. Balzacs Metaphorik zeigt seinen Standpunkt deutlich und entlarvt ihn zugleich. Auf den Autor bezogen ist der Satz, kein aufrechter Mensch können die Farben zweier Herren tragen, auf das Werk die Aufforderung, sich einen Türken mit Hut und einen Franzosen mit einem Turban vorzustellen.Ga naar eind29 Man solle die | |
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Augen befriedigen, die die ersten Richter der sichtbaren Dinge seien. Demnach sind die Furien keine Illusionen, sondern wirkliche Gestalten, die Herodes sich nicht vorstelle, sondern die der Dichter geschaffen habe und die Mariamne mit lauter Stimme herbeirufe.Ga naar eind30 Sie hätten daher dasselbe Dasein wie in den griechischen Tragödien.Ga naar eind31 Je ne nie pas ... qu'on ne puisse interpreter les Fables, & qu'il ne se trouve des verités cachées sous les fictions poetiques ... Avouons à Monsieur Heinsius que les Furies peuvent signifier les passions qui travaillent les meschans, & les remors qui accompagnent les crimes. Mais ... dans les Tragedis nous jugeons de leur apparence, & non pas de leur secret; de ce qu'elles declarent, & non pas de ce qu'elles signifient. Nous les considerons comme la Poesie les pare, & non pas comme la Morale les deshabille; dans le sens litteral, & non pas dans le sens mystique ... L'un est de la Scene, l'autre de l'Eschole. Le Peuple regarde des Furies, & les Doctes devinent des Passions.Ga naar eind32 Das ist eine der wichtigsten Passagen der ganzen Abhandlung. In ihr wird das ausgeführt, was schon die Kleidermetapher andeutet: Balzac urteilt nach dem Augenschein und nicht nach der tieferen Bedeutung. Als habe Heinsius seine lateinische Tragödie für das Volk oder für Abergläubische geschrieben, lehnt Balzac ausdrücklich die gelehrte Mythen-interpretation ab und unterstellt ein existentielles Verständnis, das in einen Gegensatz zum christlichen Glauben geraten muss. Die Allegorie ist für ihn ein Freibrief aller zu verurteilenden poetischen Lizenzen und ein Asyl für die Schar der heidnischen Götter, da sie immer etwas anderes bedeuten als das, was sie in Wirklichkeit sind.Ga naar eind33 Der gelehrte Hofmann und gewandte Diplomat fordert die Übereinstimmung von Herz und Zunge und gibt sich einfältig. Seine Kritik an der Tragödie ist zugleich eine Kritik an der barocken Bildlichkeit. Heinsius' Entgegnung ist ein ins Voluminöse ausgeweiteter Traktat der Apologien in den Nederduytschen Poemata . Hatte Balzac einige Kapitel der antiken und christlichen Literaturgeschichte für seine These angeführt, so breitet Heinsius ganze Bände als Beweismaterial aus. Für ihn lautete die Frage nicht in erster Linie, so, wie sie Salmasius später formulierte: ‘An in Fabula Judaica Argumenti, rem superstitionis Graecanicae ponere potuerit V.C.1.'’Ga naar eind34 sondern zunächst, ob die Autorität christlicher Lehrer und der Kirchenväter anzuerkennen sei.Ga naar eind35 Heinsius beantwortet sie positiv, indem er sich in eine Reihe mit ihnen stellt: ‘Nos cum Patribus mirati semper sumus, tantum veritatis verae apud gentes permanisse.’Ga naar eind36 Balzacs Behauptung von der leibhaftigen Existenz der Furien kann er auf Grund dieser Prämisse mit einem Zitat aus Hieronymus zurückweisen: Tres sunt igitur affectus ... qui in omnia facinora praecipites agunt homines; Ira, Cupiditas; Libido. Propterea poetae, tres Furias esse dixerunt, quae mentes hominum exagitent.Ga naar eind37 | |
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Die Furien sind Leidenschaften des menschlichen Geistes und existieren nur in ihm. Sie können daher keine Götter sein, es sei denn für diejenigen, wie Heinsius polemisch gegen Balzac einwendet, die sie als Götter anbeten.Ga naar eind38 Für ihn besteht kein Anlass von den Furien abzulassen, da er sich auf das Vorbild der Kirchenväter berufen kann.Ga naar eind39 Die Kontroverse wurde zwar zwischen niederländischen und französischen Gelehrten ausgetragen, sie bewegte aber die gesamte ‘respublica literaria’. Auch in Deutschland wurde sie stark beachtet. Der wohl erste zusammenfassende Bericht stammt von Morhof, und wenn er einleitend schreibt ‘Nota est hostoria’,Ga naar eind40 dann trifft das den tatsächlichen Sachverhalt. Heinsius hat selbst viel zur Verbreitung beigetragen. In einem Brief an Opitz berichtet er darüber und verspricht dem Adressaten, ihm ein Exemplar seiner ‘epistola apologetica’ zu senden; er fürchte nur, dass keine Bände mehr erhältlich seien.Ga naar eind41 Die ganze Auflage scheint innerhalb kurzer Zeit vergriffen gewesen zu sein, denn auch Buchner kündigt Heinsius ein Exemplar mit derselben Einschränkung an. Dieser Brief enthält eine genaue Schilderung der Vorgänge und versucht, Balzac persönlich zu diffamieren; ein Zeichen dafür, wie tief Heinsius durch die Kritik an seiner ‘Tragoedia Sacra’ getroffen worden war.Ga naar eind42 Buchners Neugierde war geweckt, denn er interessierte sich für die Probleme der christlichen Dichtung und hatte eine ‘Dissertatio de christiana poesi’ verfasst.Ga naar eind43 Den Streit verfolgte er mit Aufmerksamkeit, und noch ein Jahr nach Heinsius' Brief schreibt er an Hagmeierus nach Leiden: Heinsii tamen Responsionem ad Balsaci Epistolam, & magni Salmasii de usuris semel aspicere licuit: si quam rationem inire possis, ut ipsi libri ad me perveniant, plurimum te amarem.Ga naar eind44 Die Auseinandersetzung hat in Deutschland zu einer kritischeren Bewertung der Mythologie beigetragen und von der vorbehaltlosen Billigung zu differenzierteren Urteilen geführt. Es sollen hier nicht alle Stellungnahmen zur allegorischen Verwendung der antiken Götter besprochen werden, sondern nur solche, bei denen sich eine Verbindung zu Heinsius und Balzac nachweisen lässt. Michael Schneider studierte zu einer Zeit (1635) in Leiden, während der sich der Gelehrtenstreit dem Höhepunkt näherte. Balzacs Abhandlung lag im Manuskript vor und war verbreitet worden, Heinsius' Epistola war schon Mitte des Jahres druckfertig.Ga naar eind45 Schneider kannte das Herodes-Drama,Ga naar eind46 und von der Kontroverse hat er sicherlich durch seinen persönlichen Verkehr mit Heinsius erfahren. Er weilte nicht nur an dem Ort, wo heftig über die poetische Darstellung christlicher Themen diskutiert wurde, er verfasste dort auch seinen Lobgesang Jesu Christi. Wer aber im Vorwort oder in den Anmerkungen eine Stellungnahme erwartet, der sieht sich getäuscht. Schneider hat sie in die Dichtung selbst verlegt, indem er genau die poetische Diktion verwendet, die er in Heinsius' Christus-Hymne vorfand, und die dieser in der Epistola und in den Vorworten theoretisch begründet hatte. Styx, Lethe und die | |
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Plagegeister kommen ebenso vor wie Venus, Jupiter, Phlegethon, Phaeton, Tiphys u.a. Das sind nicht nur dieselben Namen, die auch Heinsius gebraucht, Schneider versteht sie auch in demselben Sinne, da er sich auf den Gebrauch der Poeten beruftGa naar eind47 und die Erklärungen der Mythologie aus den Anmerkungen von Scriverius übersetzt.Ga naar eind48 Angeregt vom ‘genius loci’ führt Schneider die Linie fort, die von Heinsius vertreten und von Opitz in Deutschland verbreitet worden war. Bei Opitz finden sich nur versteckte Hinweise für eine Änderung seiner in den Teutschen Poemata und in der Poeterey dargelegten Ansichten über den Gebrauch des mythologischen Schmucks. Hatte er seiner Übersetzung des ‘Lobgesang Jesu Christi’ noch das folgende Zitat von Heinsius vorangestellt: ‘Et nos hymnum Dei Filio vernacule conscripsimus ... In quo ... colores duximus Poeticos,’Ga naar eind49 so finden sich in der Vorrede zu den Psalmen Davids die Sätze: Poetische ... farben zu gebrauchen wil sich in solchen schrifften nicht schicken/ als in Beschreibungen her(sic.) Weltgeschöpffe/ Zeiten/Landschaften und dergleichen: Welches ich mir aber auch nur wo es sich gefüget/ und sehr spahrsam zugelassen.Ga naar eind50 Man sollte den Unterschied nicht überbewerten, aber auch nicht verkennen, dass den beiden Zitaten eine Entwicklung zu Grunde liegt, die etwa der von Rist vollzogenen Wandlung entspricht. Hier wie dort lassen sich die Äusserungen auf die Frage zurückführen, in welchem Grade ein christliches Gedicht weltliche oder heidnische Bildlichkeit enthalten darf, oder negativ ausgedrückt: bis zu welchem Grade ist die Verwendung einzuschränken. Darauf hat Buchner eine Antwort gegeben. Er liess sich in seinem Urteil nicht von Heinsius' Ansehen beeinflussen, noch verfiel er der Versuchung, das Wortgezänk mit einer weiteren Polemik zu bereichern. Er stützt sich auf seine eigene Kenntnis der altchristlichen Literatur: Heinsiana epistola ubique loquitur auctoris genium; cui sicut in caeteris assentior planè, ita in eô non satis liquet, cùm Christiano Poetae omninò fas esse putat, Deorum gentilium vocabulis per metonymiam ubique uti: idque exemplô veterum; quorum eruditio juxtà & sanctitas fuit admiranda. De Tartari, Inferni, Furiarum, Phlegethontis, Plutonis &c. vocabulis, res manifesta est. Sed Bacchum pro vino, Minervam pro sapientiâ, Jovem pro aere, & alia istiusmodi dixisse veteres, Christianos puta, vellem exemplis ut demonstrâsset. Ego nihil hujusmodi legisse memini; & possum ex Augustino, Lactantio, Hieronymo, Origine adducere auctoritates, unde constare posse videatur, id planè habitum nefas in Ecclesia antiqua.Ga naar eind51 Den Buss- und Rachebereich der Unterwelt will Buchner zulassen und er beruft sich dabei auf die Kirchenväter und befindet sich in Übereinstimmung mit Heinsius, der ihn ausführlich gerechtfertigt hatte, und mit | |
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Salmasius, der die lapidare Feststellung traf; ‘Stygem & Tartarum & Orcum pro inferis licet, quales credit Christianus, usurpare. Agnoscunt enim Christiani inferos ut Pagani ...’Ga naar eind52 Bacchus, Minerva und Zeus lehnt Buchner ab, und er stützt sich wiederum auf dieselben Autoritäten. Vordergründig führt das zu keiner Parteinahme, sondern mündet in einen Kompromiss zwischen den polaren Standpunkten. Für Heinsius und gegen Balzac steht die Billigung der Furien, für Balzac und gegen Heinsius die Missbilligung der uneingeschränkten Anwendung antiker Mythologie. In Wirklichkeit steht Buchner mehr auf der Seite des Franzosen, aber seine Begründung ist überzeugender als die inadäquate Balzacs. Diese beruhte darauf, dass der Zuschauer die Götter als tatsächlich existierende auffassen könnte. Buchners Ablehnung fusst auf derselben Grundlage wie Heinsius' Verteidigung, nämlich auf den Schriften der Patres. In ihnen finde man nicht nur keine Verteidigung der gesamten Götterschar, sondern ihre Verurteilung als eines Missbrauchs der alten Kirche. Wenn Buchner gegen Heinsius das Zeugnis der Kirchenväter ins Feld führt, dann erschüttert er dessen ganzes Argumentationssystem. Seine Stellungnahme enthält also die schärfste Ablehnung der These von Heinsius, dass der uneingeschränkte Gebrauch antiker Mythologie durch das Beispiel der altchristlichen Lehrer gerechtfertigt sei. Man wird der Stimme Buchners im Gelehrten- und Schülerkreis grosses Gewicht beimessen dürfen. Zu Buchners Studenten gehörte auch Johann Klaj, dem die Tragödie von Heinsius als Vorlage für das Trauerspiel ‘Herodes der Kindermörder’ diente. Klaj kannte nicht nur den Text, sondern auch die Kontroverse, die er ausgelöst hatte: Es hat der Edle und unvergleichliche Niederländer Heins von diesem Blutbade ein Trauerspiel gemacht/ welchem wir in vielen nachgangen ... Was der Frantzösische Redner Balsak/ und der übertreffliche Salmas darwider geschrieben/ wollen wir drunten anführen.Ga naar eind53 Nach dieser Ankündigung erwartet man eine ausführliche Auseinandersetzung in den Anmerkungen, aber Klaj scheint keine Konsequenzen aus dem Gelehrtenstreit ziehen zu wollen. Er verhält sich hauptsächlich referierend und durchbricht seine Neutralität nur einmal, wenn er sich bei der Darstellung von Styx gegen Heinsius und für Salmasius entscheidet.Ga naar eind54 Es ist aber auffällig, dass Klaj seinem Text einiges von dem Zündstoff genommen hat, der zur Auseinandersetzung führte. Zwar stehen auch bei ihm Mariamne und Furien nebeneinander, aber er übersetzt diese mit Plagegeister und löst damit die direkte Verbindung zum Heidentum.Ga naar eind55 Er hat bei seiner Bearbeitung die ersten beiden Akte von Heinsius fortgelassen und vermeidet damit das gemeinsame Auftreten von Engeln und Furien, was als der heftigste Streitpunkt den Angriff Balzacs ausgelöst hatte. Klaj trifft keine polemisch-radikale Entscheidung. Er nimmt eine distanzierte Haltung zur ganzen Kontroverse ein, | |
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was auf eine liberale Gesinnung schliessen lässt, wenn man aus den angeführten Beispielen auch folgern kann, dass er als Theologe mehr dem Standpunkt von Balzac und Salmasius zuneigt. Anders reagierte ein weiteres Mitglied der Pegnesischen Schäfergesellschaft. Harsdörffer hat in einem Brief an Klaj die Schrift Balzacs erwähnt,Ga naar eind56 und er urteilt in dessen Sinne: ‘... der heydnischen Goetzen Namen/ die ein Christlicher Poet billich vermeiden/ und sie auch nicht in dem Munde führen sol/ als zur Verachtung.’Ga naar eind57 Sie sollen nicht mehr als Götter, sondern allenfalls als Götzen und Götzinnen zugelassen werden. Die Stellungnahme nähert sich der von Rist, und sie scheint von diesem beeinflusst zu sein. A.H. Kiel hat den Gebrauch der antiken Mythologie bei Rompler von Löwenhalt untersucht, aber - wie mir scheint - in den wesentlichen Punkten unzutreffend.Ga naar eind58 Sie ist der Ansicht, dass er eine ‘ganz ungewöhnliche Stellung’ einnehme, in Wirklichkeit aber lässt sich Rompler mühelos in die zeitgenössischen Tendenzen einordnen. Wo Kiel eine unüberbrückbare Kluft zwischen lutherischer Religiosität und den mythologischen Figuren sieht, die ‘noch primitiv als durchaus reelle, feindliche Mächte’ gefasst würden, handelt es sich nicht um einen weltanschaulichen Gegensatz, sondern um den Unterschied von geistlicher und weltlicher Dichtung. Rompler wendet sich lediglich gegen die Verwendung der antiken Mythologie in den Gedichten, in denen Gott gepriesen wird.Ga naar eind59 Und einer Feststellung, dass auch da, ‘wo antikes Gedankengut herangezogen wird, wird es doch als einen dem Christentum untergeordneten Wert betrachtet,’Ga naar eind60 bedarf es weder für das frühe 17. Jahrhundert noch für Rompler. Was Kiel völlig ausser acht lässt, ist der Abschnitt der Vorrede, in dem Rompler über seinen Gebrauch der antiken Mythologie Rechenschaft ablegt:Ga naar eind61 er habe nur wenig Freude an den heidnischen Benennungen, aber solange keine deutschen Namen dafür vorhanden seien, könne er nicht auf sie verzichten. Er fährt fort: ‘Waß gestalt ich mich aber derselbigen gebraucht/ hab ich gleich in meinem ersten geticht angedeitet.’Ga naar eind62 Das Einleitungsgedicht hat programmatischen Charakter, und es weist Rompler als christlichen Dichter aus. Das Motto ist dem 143. Psalm entnommen: ‘Herr/ lähre mich thun nach deinem wolgefallen/ dann du bist mein Gott; dein guter Gaist führe mich auf ebener ban!’ Die Heidenschaft habe Gott nach seinen Wirkungen als Jupiter, Phoebus, Neptun, Apoll etc. bezeichnet, aber das sei aus Verblendung und nicht aus wirklicher Erkenntnis geschehen. Das deutsche Volk habe jetzt das wahre Heil erlangt, die heidnischen Götter könnten in den Abgrund fahren, und selbst ihre Namen hätten die ursprüngliche Bedeutung verloren: Das albar lugen-mähr/ das läppisch
spiegel-fächt
Ist längsten schon endtäkt/ und allerdings
vernichtet/
Auch ihre namen all' auf anders ding gerichtet:
Vulkan ist nichts/ als Feür; und Bakchus nichts als Wein;
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Apollo der bedeütt den klaren Sonnenschein;
Diana zaigt den Mon; die Pallas Kunst/ und Wafen;
Und waß dergleichen mehr ...Ga naar eind63
Für Rompler entsteht keine ‘Gewissensqual’Ga naar eind64 angesichts des antiken Götterhimmels, denn er versteht ihn allegorisch. Hatte Balzac in der Allegorie ein Asyl des Heidentums gesehen, so betrachtet Rompler sie als dessen Überwindung, da nur der Name, nicht aber der Gegenstand weiterlebe. Seine Einstellung fand er in der Apologie von Heinsius bestätigt. In polemischem Ton nimmt Rompler für Heinsius Partei und stellt ihn als Autorität vor das eigene Vorgehen: Solte/ wider verhoffen/ einen ein mehr abergläubig- als nöhtiger äufer so hitzig machen/ daß er auch solches nicht könt erdulten; der sey gebetten/ andere bequäme namen aufzubringen; oder von dem Daniel Heinßen/ aus dem getrucktem brief/ in welchem er/ von eben disem handel/ dem tadelsüchtigen Basak(sic.) geantwortet/ einen weiteren beschaid zuvernemmen!Ga naar eind65 In der weltlichen Dichtung erkennt Rompler die heidnischen Götter solange an, bis jemand ihre Namen durch einheimische ersetzt habe; in der geistlichen aber will er sie verwerfen. Aber auch er kann nicht völlig auf sie verzichten und greift manchmal wie schon Rist zur Götterschelte. Das Problem der antiken Mythologie wird im 17. Jahrhundert häufig und differenziert diskutiert, aber in der Auseinandersetzung hat es keine Lösung gegeben. Die Gegner konnten die Verwendung, die Befürworter die Einschränkung nicht verhindern. Die Grundlage bildeten zu einem grossen Teil die Schriften von Heinsius. Die Rezeption seines apologetischen Systems ist in der frühen Zeit durch genaue Nachfolge gekennzeichnet. Erst in späteren Jahren kommt es zu einer kritischeren Beurteilung, zu der der Gelehrtenstreit mit Balzac wichtige Anstösse gab. Mit der geschichtlichen Entwicklung bildet sich eine sachliche Unterscheidung heraus. Die allegorische Deutung hat sich für die weltliche Poesie durchgesetzt, z.B. bei Harsdörffer, Birken und Rist: Wenn ich aber die Namen der Minerva, Thetis, Mars, Apollo, vnd derogleichen bey den Poeten finde/ so verstehe ich dadurch/ zwar keine Götter oder Menschen/ sondern nur bloß die Weißheit/ das Meer/ den Krieg/ die Kunst vnnd Geschickligkeit/ wie solches ... den Gelarten genugsam bekand ist. Denn/ wer wolte doch heut zu Tage so thöricht vnnd so albern seyn/ daß er diese Namen ... vor Götter hielte/ oder jhnen in seinem Hertzen jennige Ehr erzeigte?Ga naar eind66 Dieselben Dichter aber haben sich gegen die Verwendung der Mythologie in geistlichen Werken gewandt. Ablehnung und Befürwortung stehen häufig nebeneinander. Wenn vom christlichen Dichter die Rede ist, dann bezieht sich das nicht immer und ausschliesslich auf die Frömmigkeit | |
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des Autors, sondern auch auf den Inhalt seines Werkes. Die oft gestellte Forderung, ein christlicher Dichter solle die antike Mythologie meiden, gilt demnach vor allem für die geistliche Dichtung. In diesem Sinne fordert Rist, ‘daß ... die Christliche Poeten/ sich d'Heidnischen Götter Namen ... in geistlichen Gedichten ... entschlagen.’Ga naar eind67 Die antiken Götter werden von Dichtern und Gelehrten nicht als wirkliche oder gar bedrohende Mächte aufgefasst. Balzacs provokative These ist nicht repräsentativ für die Auffassungen des frühen 17. Jahrhunderts. Die Kritik an Heinsius ist daher nicht primär religiös begründet. Seine Anweisung, die heidnische Mythologie auch in geistlicher Dichtung zu verwenden, verstösst gegen die Lehre vom Angemessenen, die eine Entsprechung zwischen den Darstellungsmitteln und dem dargestellten Gegenstand verlangt. |
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