Anlehnung und Abgrenzung
(1976)–Ulrich Bornemann– Auteursrechtelijk beschermdUntersuchungen zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts
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A. Elemente des unkritischen PurismusZu den wichtigsten Bemühungen um die Muttersprache gehören neben den Übersetzungen die theoretische Erörterung und systematische Erfassung. Beiden liegt die Überzeugung vom Wert der eigenen Sprache zugrunde, die eine Reaktion auf den Vorwurf der Italiener darstellt, das Deutsche sei ein barbarisches Idiom. Sie steht genetisch am Anfang und findet ihren direktesten Ausdruck in der Lobrede und im Lobgedicht. Eine bedeutende Quelle für das Verständnis der deutschen Dichtung und Sprache sind in erster Linie solche Gedichte, die gewöhnlich einem poetischen Werk vorangestellt werden oder es beschliessen.Ga naar eind1 In ihnen wirbt der Autor um eine günstige Aufnahme seiner Verse und begründet das Vorgehen, in der Muttersprache zu dichten. Oder der Freundeskreis richtet Gedichte an den Verfasser, in denen das an diesen gerichtete Lob häufig auf die Sache selbst, auf die deutsche Sprache und Dichtung übergeht. Der aus Autoren und Bewidmeten sich zusammensetzende Personenkreis stellt die geistige Welt dar, aus der heraus das Werk entstand, und er bildet zugleich einen Teil des angesprochenen Publikums. In beiden Fällen haben die Gedichte den Charakter von Manifesten über die muttersprachliche Dichtung. Wenn diese Gedichte überwiegend für biographische Argumente herangezogen und nicht nach ihrer literarischen Bedeutung befragt wurden, so hat das seinen Grund darin, dass ihre Zahl weder gross, noch ihr Inhalt abwechselungsreich ist. Aber gerade in der durchgehenden Gleichförmigkeit sind sie ein getreues Abbild der Motivation und des Standes der sprachlichen Bestrebungen im Frühbarock. Was man in den Bänden von Hudemann, Opitz und Rist antrifft, erweist sich als ein eng gespannter Themenkreis, dessen wichtigste Gedanken sich bereits in der gereimten Lobrede von Petrus Scriverius auf die Nederduytschen Poemata finden. Dass es sich dabei nicht um zufällige Übereinstimmungen, sondern um einen direkten Einfluss handelt, zeigen die deutschen Entnahmen aus Scriverius und die weite Bekanntheit seines Gedichtes.Ga naar eind2 Die poetischen Manifeste in niederländischer und deutscher Sprache sind durch eine patriotische Haltung, durch die Abwehr der antiken und romanischen Sprachen sowie der bisherigen Sprachpflege im eigenen Land gekennzeichnet. Athen und Rom sind untergegangen und mit ihnen auch ihre Kultur und Sprache. Das Spanische, Italienische und Französi- | |
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sche sind lediglich Ableger des Lateinischen, das selbst wiederum nicht das Alter und die Kraft des Deutschen erreicht. Sie können daher nicht das Prädikat der Eigenständigkeit beanspruchen. Dagegen zieht man in Deutschland und den Niederlanden eine durchgehende, wenn auch zuweilen verdeckte, Verbindung von den Germanen, zu deren Lob immer wieder Tacitus herangezogen wird, bis zur Gegenwart. Zwar habe man sich auch in der Vergangenheit gegen die deutsche Sprache versündigt, aber das führte nicht zum Bruch mit der Tradition. Als Beweis gelten das gerade besungene Werk und vorbildliche poetische Leistungen anderer. In diesem Zusammenhang wird Heinsius oft als Maßstab und Autorität genannt. Seine Nederduytschen Poemata waren ein überzeugendes Beispiel für die Fähigkeiten der Muttersprache. Sie zeigten, dass man den Vergleich mit den romanischen Literaturen nicht zu scheuen brauchte, da man sie weit übertreffe und selbst den Platz von Athen und Rom erobert habe.Ga naar eind3 Das ist auf eine knappe Formel gebracht das gedankliche Gerüst einer Selbstbestimmung, auf der das Lob der Sprache beruht. Auch hier lassen sich eine Fülle von Gemeinsamkeiten im deutschen und niederländischen Schrifttum nachweisen. Dafür sei nur ein überzeugendes Beispiel aus dem Vorspann zu den Teutschen Poemata von Opitz genannt, und zwar das mit ‘Ad linguam Germanicam’ überschriebene Gedicht: O patria salve Lingua, quam suam fecit
Nec humilis unquam nec superba libertas,
Quam non subactis civibus dedit victor,
Nec adulteravit inquilina contages:
Sed casta, sed pudica, sed tui juris,
Germana priscae fortitudinis proles,
Lingua imperare nata, quae citos mentis
Sensus adaequas non minus brevi voce:
Cujus ratenta parte tot triumphatae
Adhuc fatentur arma Teutonum gentes
O patria salve lingua, et aeviter flore.Ga naar eind4
Es liegt in der Natur solcher Gedichte, dass in ihnen die überschwenglichen Lobesbezeugungen gehäuft sind. Souveräne Eigenständigkeit, Mass, Kürze, Reinheit und Spiegel der Tapferkeit und des Verstandes zu sein - das sind die wertvollsten Epitheta zum Schmuck der Muttersprache. Insofern fügt sich das Gedicht in die Reihe der Würdigungen aus dem Heidelberger und Strassburger Freundeskreis von Opitz. Es unterscheidet sich aber durch äussere Merkmale. Als einziges wurde es anonym abgedruckt, und es ist weder an Opitz gerichtet, noch durch sein Werk hervorgerufen. Die Unabhängigkeit von jedem persönlichen und zeitlichen Band verleiht den Versen den Rang einer allgemeingültigen Aussage. Ihr Autor ist Hugo Grotius, der sie auf die Lingua Belgica des Abraham van der Mijle verfasste, der die Vorzugsstellung der niederländischen vor anderen Sprachen an Hand vergleichender Wortlisten und | |
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spekulativer Betrachtungen zu beweisen versuchte. Es ist ein beachtenswertes Faktum, dass einem poetischen Werk, das die deutsche Dichtungsreform einleitete, ein programmatisches Gedicht vorangestellt wurde, das ursprünglich dem Lob der holländischen Sprache galt. Ein Manifest wird bestimmt durch die Verhältnisse, von denen es ausgeht, durch das angestrebte Ziel und die Mittel, die zu seiner Erreichung angewandt werden sollen. Wenn in deutschen Manifesten niederländische Dichter zum Maßstab werden, wenn sie selbst auf niederländische zurückgehen oder sie einfach übernehmen, dann muss man daraus folgern, dass in beiden Ländern Ausgangspunkt, Ziel und Methoden beim Aufbau der Muttersprache dieselben sind. Es war die gemeinsame Aufgabe der niederländischen und deutschen Reformer, eine Latinisierung und Romanisierung der Muttersprache abzuwehren und die Gleichwertigkeit mit oder den Vorrang vor den antiken und romanischen zu beweisen. Opitz hat sie in einer prägnanten Wendung ausgesprochen, die zu einer Grundformel des deutschen Purismus wurde: Jam a Latinis, jam Gallis, Hispanis etiam ac Italis
mutuamur, quod domi nascitur longe elegantius.
Man hat sich immer wieder auf diesen Satz berufen, und wir können ihm einen inhaltlich identischen, im Wortlaut weitgehend übereinstimmenden Grundsatz aus der Twe-spraack an die Seite stellen. Er enthält Coornherts Klage datmen zó ghantschelyck zonder alle nóód ghewoon was te lenen ende te lortsen van vreemde talen/ t'gheen wy zelve meer ende beter t'huys hadden...Ga naar eind5 Die Textstellen enthalten trotz ihrer Kürze zwei fundamentale Ansichten der Sprachauffassung der Zeit. Mit ihrem Wortreichtum übertrifft die deutsche Sprache alle anderen. Sie allein hat die Fähigkeit, die Vielfalt der Dinge zu erfassen. Hieran schliesst sich die Überzeugung, dass zwischen ‘res’ und ‘verba’ eine enge Verbindung besteht. Und das gilt nicht nur für die materiellen Dinge, sondern auch für geistige Begriffe und seelische Regungen. Die Sprache kann zum Spiegel des ganzen Menschen werden. Das wird in der Twe-spraack unter Berufung auf Sokrates ausgesprochen: ... de tale is een vroedwyf der zinnen/ een tolck des herten ende een schildery der ghedachten/ die anders binnen den mensche verborghen ende onzichtbaar zyn...Ga naar eind6 Diese Eigenschaften finden sich natürlich nicht unterschiedslos in jeder Sprache, der Verfasser meint vor allem seine niederländische. Simon Stevin zeichnet sie mit dem von Schottel übernommenen Prädikat der ‘beweeghlickheyt’ aus. Er meint damit zweierlei; einmal ihre Fähigkeit, sich allen Dingen und Gedanken anzupassen und sie angemessen auszudrücken, zum andern ist Beweglichkeit im Sinne von ‘movere’ zu verste- | |
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hen. Eine genau bezeichnende Sprache bewegt den Zuhörer und hat eine durchdringende Wirkung auf ihn: want soodanigher menschen Duytsche woorden, vaten inde hoorders herten als clissen an wolle, sy sijn als den breydel des peerts, als t'roer eens schips, duer t'welck de ghemeente ghevoert wort daert den stiermann belieft.Ga naar eind7 Stevin führt als Beweis für seine Auffassung den Freiburger Geschichts-professor Henricus Glareanus (1488-1563) an,Ga naar eind8 der in einer Rede auf Sueton bei der Darstellung der Laster römischer Kaiser deutsche Wörter zur Hilfe nahm, da er weder die griechischen, noch die lateinischen für aussagekräftig genug hielt, die Zuhörer abzuschrecken: Quid enim de Tiberio dicam? vlceroso in omnem inuidiam animo, quo nihil vmquam fucatius toto terrarum orbe, nihil nocentius, nihil turpius vixit. De eo sanè, quod vix Latinè dixeris, nostra linqua ornatissimè dici poterit: Ein abgfeimpter, eerloser, znichtigher boesswicht. Si licet Graeca immiscere Latinis, saepe etiam apud non intelligentes Graeca; cur non liceat inserere Celtica ac Germanicae non minus vetustae linguae verba, apud intelligenteis? Sed pudet plura de eo Diuo: dixissem libentius, von dem leidighen Tüfel. Producatur Caligula Imperator, merdosus ille pusio, Das schantlich physickguckly, pudenda Germanici Caesaris progenies, &c... Cui enim monstro potius comparabuntur helluones illi, bibones, comedones, lurcones, abdomines, ventres, brasser, schlemmer, pfuser, schlucker?Ga naar eind9 Stevins Ausführungen zur ‘beweeghlickheyt’ des Niederländischen sind vor allem deshalb aufschlussreich, weil er seine These mit einem Beispiel belegt, das dem Lob der hochdeutschen Sprache gilt. Wenn Schottel seinerseits dasselbe Beispiel nicht von Glareanus, sondern weitgehend wörtlich von Stevin übernimmt,Ga naar eind10 so zeigt das einen Kreislauf der Argumentation, der ein weiterer Beweis für die gemeinsamen Grundlagen und Ziele der deutschen und niederländischen Sprachbemühungen und für die Austauschbarkeit der Mittel ist. Weder bei Stevin, noch bei Schottel orientiert sich die These von der zweifachen Beweglichkeit der Muttersprache ausschliesslich am Lateinischen und am Ausdruck heftiger Gemütsbewegung. Sie gilt vielmehr für das Deutsche und Niederländische im Vergleich zu allen Sprachen und für alles zu Benennende.Ga naar eind11 Was hier für diese beiden Sprachen in Anspruch genommen wird, das hat jeder Sprachpatriotismus für sich behauptet. Seit der Antike gebrauchte man für die Angemessenheit der Sprache, für die Übereinstimmung von ‘res’ und ‘verba’, immer wieder ein Bild, das wie kein anderes dazu geeignet ist, die Kongruenz auszudrücken, nähmlich das der menschlichen Kleidung. Die Sprache umschliesst das Ding wie die Kleidung den Körper.Ga naar eind12 Dabei handelt es sich nicht um eine starre Norm, von der jede Abstufung ausgeschlossen wäre. In der wissenschaftlichen Literatur | |
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bemühte man ein ‘recht natürliches Kleid’,Ga naar eind13 in der gestalteten Rede konnte der ‘ornatus’ zu einem prächtigen Gewand werden. So schreibt Harsdörffer im Kapitel über die ‘imitatio’: die Römischen Redner und Poeten haben aus der Griechen alten Mänteln neue Kleider gemachet/ und sie mit guldnen und silbernen Borten verbremet...Ga naar eind14 Wenn die Angemessenheit auch verschiedene Grade der Annäherung zuliess, so blieb doch die Forderung bestehen, dass auf jeder Ebene weder gegen den Sprachgeist, noch gegen die Verständlichkeit verstossen werden durfte, das heisst: die Beziehung zwischen ‘res’ und ‘verba’ sollte bei jeder sprachlichen Äusserung gewahrt bleiben. Ein Verstoss dagegen musste die Sprachhüter auf den Plan rufen, und folgerichtitig kehrten sie die Bildlichkeit ins negative Gegenteil. In der puristischen Literatur Deutschlands und Hollands begegnet man immer wieder der Kleidermetapher. Im 16. Jahrhundert ist es vor allem Coornhert, der beklagt, dat vele jonge scrijvers een woort Franchoys oft Latijns verstaande sulcdanighe vreemde lappen voor een welstant ende beuallijcke chieraet opten mantel onser spraken brodden.Ga naar eind15 Er stellt sich daher als Aufgabe, seine moeders taal weder in haar oude ere te brenghen ende haar kleed// dat van zelfs ryckelyck was ende cierlyck/ vande onnutte lappen ende vuyle bródderyen te zuyveren...Ga naar eind16 Ähnlich stellt Opitz den Zustand der deutschen Sprache dar. Sie sei ‘deturbata cultu non suo et deformata,’Ga naar eind17 und Rist sieht in der Fremdwörterei Larven, die die Muttersprache zur Unkenntlichkeit vermummen.Ga naar eind18 Derjenige, der sich fremder Hilfe bedient, statt die Schätze der eigenen zu heben, der verunziert ihr Kleid, das er zu zieren meint, und trägt zu ihrer Verarmung bei. Bettelrock und Bettelsack sind dafür die Bezeichnungen, zerlumpt und verlappt die Attribute.Ga naar eind19 All diese Bilder haben den Zweck, die Disharmonie und Ärmlichkeit einer Sprachgestalt vor Augen zu führen, die durch die Fremdwörterei entstellt ist. War die Kleidermetapher zunächst zum Lob der Sprache bestimmt, so wird sie von den Puristen ins Negative gekehrt und in den Dienst ihrer Bestrebungen gestellt. Wenn auch der metaphorische Kampf nicht zu konkreten Ergebnissen in der Säuberung der Sprache gelangt - es sei denn das der eindringlichen Mahnung -, so bleibt das Vorhaben jedoch stets sichtbar. Wenn aber die Kleidermetapher mit ‘Teutsche Treu’ und ‘Teutschen Geist’Ga naar eind20 in Verbindung gebracht wird, dann deutet das auf eine moralische Haltung, die sich vor allem in den 40er Jahren mit dem Kampf um die Sprache vermischte und ebenso zu seiner Radikalisierung wie zu seiner Wirkungslosigkeit beitrug. Wir meinen den Streit gegen das Alamode-Wesen. Johann Rist empfiehlt den Verächtern der Muttersprache, sie | |
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solten wol bedenken/ wie schimpflich es uns Teutschen von anderen Völkeren werde fürgerükket/ daß wir uns in fast jahrlicher änderung unserer Sitten/ Kleider und Geberde so gahr leichtsinnig erweisen/ und ist uns dieses alles noch viel zu wenig/ angesehen wier uns nicht scheuen oder schämen unserer so trefflichen Mutterspraache einen so thörichten Gaukler-Mantel anzuziehen/ daß sie in demselben gahr schwerlich vor die Teutsche mehr kan erkennet werden.Ga naar eind21 Die beiden hier genannten Bereiche haben zwar in der Überfremdung durch das Ausland denselben Ursprung, sie müssen aber inhaltlich und formal getrennt werden. Der realen Beschreibung steht die Metaphorik gegenüber. Das Unwesen einer undeutschen Lebensart in Sitten, Gebärden und Kleidung wird mit dem Bild vom Gauklermantel der Sprache verglichen. Einmal handelt es sich um ein sprachliches, das andere Mal um ein moralisches Problem. Die Vermischung beider Aspekte ist charakteristisch für die Verfasser der Flugschriften, Sprachverderber und Ehrenkränze, zu denen auch Rist zu zählen ist. Sie trennen nicht zwischen moralischen und sprachlichen Irrwegen, oder mit Lesers Worten: ‘man vergisst zu unterscheiden zwischen Bräuchen, die undeutsch sind, und zwischen Worten, die fremd sind.’Ga naar eind22 Was diese Verlagerung für den Aufbau der Sprache zur Folge hat, lässt sich unschwer erraten. An die Stelle der enthusiastischen Spekulation der Lobgedichte, die ihren Grund in der zeitgenössischen Sprachwissenschaft hat, tritt der moralisierende Eifer und die Streitsucht, der Wille zur Überzeugung wird ersetzt durch vorschnelle Polemik. Der Gewinn für die Muttersprache ist gering, und tatsächlich haben diese Schriften wenig zu ihrer Wiederherstellung beigetragen. Soweit ich sehe, ist die Vermischung von Sprache und Moral in den Niederlanden nicht so ausgeprägt wie in Deutschland. Das soll nicht heissen, dass es hier das Alamode-Wesen nicht gab, man legte jedoch mehr Nachdruck auf den Aufbau der Sprache. Wie sehr sie in beiden Ländern mit Fremd- und Bastardwörtern durchsetzt war, lässt sich an einer Gattung der puristischen Literatur erkennen, die wir mit einer zeitgenössischen Bezeichnung Mengreden nennen. Schottel hat sie wie folgt beschrieben: eine knarrende/ rauhe/ grobe/ brummende Sprache/ voll undeutliches Barbarisches Gethöne/ vermengt/ verflikt und aufgebracht von unterschiedlichen anderen Sprachen/ wie verleumderisch und unverständlich von unser Muttersprache von etzlichen öffentlich geschrieben und gehalten worden.Ga naar eind23 In der Häufung der abwertenden Attribute klingt mit ‘verflikt’ noch einmal die Kleidermetapher an, aber die anderen gehören nicht mehr zur bildlichen Ebene. Entkleidet man sie des grimmigen Tones, dann kennzeichnen sie genau eine Art des Sprechens, in der die eigene Sprache mit | |
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fremden Wörtern vermischt wird. Somit erscheint die Gattung der Mengreden als das reale Gegenstück der negativen Kleidermetapher. Die Erörterung der Mengreden nimmt breiten Raum ein. Man richtet sich gegen ihre Verwendung in gebundener, ungebundener und alltäglicher Rede, wobei die tatsächlichen Verhältnisse als Ausgangspunkt dienen. Matthys de Castelyn hatte in De const van Rhetoriken den Gebrauch von Fremdwörtern empfohlen: sie glänzten in der Rede wie die Sonne am Tag und der Mond in der Nacht.Ga naar eind24 Die Ansicht, dass der ‘ornatus’ nicht in einer reinen, sondern gerade in einer vermengten Sprache bestehe, war in den Kreisen der Rederijker verbreitet. Hiergegen wendet sich wiederum Coornhert. Er verfasste einen ‘Rondeelbrief ... aen een vermaert brabantisch Rhetorycker, geschreven,’Ga naar eind25 in dem er mit spitzer Feder die Mengreden geisselt. Handelt es sich hier um die gehobene Sprache in Dichtung und Prosa, so wird in der Twe-spraack die Umgangssprache in diesen Kreis gezogen. Innerhalb kurzer Zeit sei sie so sehr mit fremden Worten vermischt worden, daß es im Volk ungebräuchlich geworden sei, ausschliesslich Holländisch zu reden.Ga naar eind26 Auch in Deutschland hat man gegen das Gebot der Reinheit verstossen. Dass im frühen 17. Jahrhundert die Situation in beiden Ländern ähnlich war, zeigt ein Zitat aus Zesens Spraach-übung. Am Problem der höfisch-galanten Modewörter schliesst sich folgender Dialog zwischen Adelmund und Deutschlieb, der die Ansicht Zesens vertritt, an: Adelmund: Wer will aber den jungen Leuten meritien/ serviren obligiren/ etc. aus dem munde nehmen und sie zugleich verstummen machen. Pflegen es doch die Niederdeutschen und Holländer auch zu thun. Beide Teile des Zitates sind gleichermassen aufschlussreich. In der Frage Adelmunds werden die Niederlande als Maßstab für den deutschen Sprachgebrauch angeführt, und ihre Autorität soll als Rechtfertigung für die Fremdwörterei gelten. Die Antwort nennt die Verbreitung und die Gründe der Mengreden. Sie kommen vor allem bei Ungelehrten vorGa naar eind28 und werden durch die Nachbarschaft zu Frankreich und den Handel ausgelöst. Zum Katalog der äusseren Gründe gehören weiterhin die Herrschaft fremder Fürsten, der Einfluss der Höfe, die oft berufenen negativen Folgen von Sprachenstudien und Reisen. Lässt sich in diesen Punkten weitgehende Übereinstimmung feststellen, so macht sich in Deutschalnd eine Tendenz stärker bemerkbar, die den Grund der Meng- | |
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reden in den verwerflichen Absichten des Sprechenden erblickt. Ehrsucht und Eitelkeit, Vortäuschung von Gelehrsamkeit und Sprachenkenntnis sind die am häufigsten genannten Vorwürfe.Ga naar eind29 Es handelt sich hier um eine ähnliche Vermischung von Sprache und Moral, die bereits bei der Kleidermetapher festgestellt wurde. Dieser Unterschied ändert jedoch nichts daran, dass die Fremdwörterei mit demselben Mittel, den literarischen Mengreden, verspottet wurde. Man beruft sich auf das Beispiel Juvenals, der griechische Wörter in seine Gedichte aufnahm, um diejenigen ‘auß zue lachen/ die sich in jhren buhlereyen mit griechischen wörtern behelffen.’Ga naar eind30 Die gleiche Absicht liegt all jenen literarischen Mengreden zugrunde, die im deutschen und niederländischen Schrifttum des Purismus in grosser Zahl vorkommen. Einige Merkmale sollen an einem Beispiel erläutert werden: Mein Hertz voltirt bereits der Geist geht in galop/
Die Kehle maintenirt, stringirt des Athems Tropp.
Mich wolt Amoris Pfeil Lampredenweis lardiren/
Vnd meine libertet gar in disordre
füren.
Daher ich resolut zu geben das valet.
Das macht das tractament, das mir von euch
entsteht.Ga naar eind31
Eine strenge Regel für die Setzung der fremden Wörter lässt sich nicht angeben, jedoch ist die Neigung bemerkbar, sie an metrisch auffälligen Stellen unterzubringen. Sie treten bevorzugt vor und nach der Zäsur auf, nur selten stehen sie am Anfang des Verses, aber fast immer im Reim. Die Menggedichte sind mit den makkaronischen verwandt, die nach Harsdörffer nur zu ‘Schertzgedichten’ zu gebrauchen sind und dann ‘am allerkünstlichsten’ klingen, ‘wann das Latein mit dem Teutschen reimt.’Ga naar eind32 Ähnlich sind die metrische Verteilung der Fremdwörter und ihre Vereinigung mit deutschen in einem Reimpaar zu beurteilen. Sie dienen der Erzeugung von Komik, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um die Fremdwörterei durch die Komik zu entlarven.Ga naar eind33 Das verbindet die literarischen Mengreden mit der Satire, welche die Fehler und Laster der Menschen höflich durchziehet und mitten unter dem Lachen und Schertzen nützliche Anweisung zur Tugend thut.Ga naar eind34 Diese Bestimmung trifft für die niederländischen und deutschen Mengreden gemeinsam zu. Sie stehen im Dienst der Didaktik und offenbaren so deutlich wie kaum ein anderes Mittel des Purismus, wogegen man sich wandte: griechische und lateinische Wörter wird man nur vereinzelt in den Mengreden antreffen; fast immer richtet sich der satirische Spott gegen die romanischen Sprachen. Mit dem Lob der Sprache, der Kleidermetapher und den Mengreden wurden drei Erscheinungsformen des Purismus vorgestellt, die in Holland und Deutschland gleich stark verbreitet sind. Sie werden von der spekulativen Sprachforschung des 16. Jahrhunderts mit ihren oft seltsa- | |
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men Beweisführungen und fantastischen Ergebnissen getragen.Ga naar eind35 Die Gemeinsamkeiten sind zahlreich und bedeutsam. Die Haltung der Autoren ist apologetisch, der Ton häufig polemisch und radikal. Die Verteidigung weist den Führungsanspruch anderer Sprachen und die Abwertung der eigenen zurück; die Polemik richtet sich gegen die Zustände im eigenen Land. Das Lob der Muttersprache kann zwischen dem Deutschen und Niederländischen ausgetauscht werden, wie die Texte von Grotius und Glareanus gezeigt haben. Kleidermetapher und Mengreden sind nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt identisch. Sie wenden sich in erster Linie gegen die romanischen und dann erst gegen die antiken Sprachen. An diesen drei Elementen zeigt sich deutlich, dass deutsche und niederländische Sprachreformer am gleichen Ausgangspunkt standen und dieselbe Problem- und Sachlage zu bewältigen hatten. Aber weder können Metaphorik und Satire die Mißstände beseitigen, die sie anprangern, noch kann das Lob die Sprache herbeiführen, die es verherrlicht. Es gibt in der Literatur zum Purismus den Gedanken der Entwicklung, der aus der chronologisch reihenden, statt der systematischen Betrachtungsweise entspringt. Noch kürzlich hat man Buchners Sprachpatriotismus einen ‘puristischen Akzent’ zugesprochen, ‘der bestimmte Richtungen des Spätbarock’ kennzeichne.Ga naar eind36 Aber Buchners Ausführungen zur Majestät der deutschen Sprache und zur Vermeidung der Fremdwörterei weisen sowohl in die Zukunft des Spätbarock wie in die Vergangenheit des Frühbarock.Ga naar eind37 Der hier angesprochene und am besten als unkritisch bezeichnete Purismus ist von auffälliger Konstanz. Er verfügt über eine bestimmte Anzahl von Argumenten und Verfahrensweisen, die sich während des gesamten 17. Jahrhunderts finden und die keine Entwicklung erkennen lassen.Ga naar eind38 Der unkritische Purismus stellt allerdings nur eine Ebene der Bemühungen um die Sprache dar. Zu unterscheiden ist die systematische Spracharbeit, der es um positive Ergebnisse beim Aufbau der Muttersprache geht. Sie lässt in der Tat Grade der Entwicklung erkennen. Aber nicht nur ihr Gegenstand ist verschieden, sondern auch die Haltung der Autoren. Die ekkelsucht und ausmusterey der jenigen/ so kein Teutsch/ als was jhren Ohren nur Teutsch klinget/ zulassen/ müssen bedenken/ daß ein anders sey ein Carmen oder eine Oration etwa verfertigen/ und ein anders von der gantzen Sprache Haubtsachlich etwas schreiben.Ga naar eind39 Damit wird zwischen einem radikalen oder unkritischen Purismus in Dichtung und gestalteter Rede und einem gemässigten in der Spracharbeit unterschieden. Letzterer tritt in der Regel dann auf, wenn sich der Reformeifer konkreten Fragen zuwendet, die praktikabele Lösungen erfordern. Das Beispiel Zesens lehrt, dass ein starkes Eingreifen des unkritischen Purismus in die Spracharbeit abgelehnt wurde. Im Idealfall wirken beide Arten in einem ansgewogenen Verhältnis zusammen. Vergleicht man die Situation in Deutschland und Holland, dann zeigt sich, | |
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dass hier die Einheit weiter gefördert ist, während dort der unkritische Purismus in der Zeit des Frühbarock vorherrscht. Erst Schottel hat beide in dem Werk von der Teutschen HaubtSprache vereinigt. | |
B. Grundlagen zur deutsch-niederländischen SpracharbeitEs stellt sich nun die Aufgabe, die Gemeinsamkeiten, die im unkritischen Purismus zutage traten, näher zu begründen und die Frage zu stellen, ob sie auch für das ganze Gebiet der Spracharbeit aufrecht erhalten werden können. Zunächst sei im Anschluss an Harsdörffer dargelegt, was unter dem Begriff der Spracharbeit zu verstehen ist. In einem Programm von sechs Punkten fordert er die Reinheit in Rede und Schrift, den Gebrauch der besten Aussprache und der angemessensten Rechtschreibung, ein unzweifelhaftes System der grammatischen und prosodischen Regeln, ein Wörterbuch mit allen Wurzelwörtern, Komposita, Ableitungen und Redensarten, die Sammlung aller Kunstwörter und eine ausgedehnte Übersetzertätigkeit, damit man sich auch ohne die Kenntnis fremder Sprachen bilden könne.Ga naar eind1 Der Unterschied dieser nüchternen und ganz auf die Praxis bezogenen Forderungen zum unkritischen Purismus ist offensichtlich. Man darf allerdings nicht übersehen, dass beide denselben Ausgangspunkt haben und dasselbe Ziel verfolgen, allerdings die Verfahrensweisen haben sich geändert. Nach der Auffassung dieses Programms wird die Fremdwörterei vermieden und der Aufbau der Muttersprache gefördert, wenn diese geordnet und systematisiert wird. Die Grammatik soll Anleitungen für den richtigen Gebrauch geben, aber sie wird nicht nur als Lehrbuch verstanden, sondern auch als die Wissenschaft, die die gottgegebenen Regeln der Sprache aufdeckt. Erst wenn sie ganz erforscht und erkannt ist, kann man ihr gerecht werden. Die Regeln sollen nicht von aussen aufgetragen, sondern aus ihr erschlossen werden. Wie alle Schöpfungen in der Welt hat jede Sprache ihre jeweilige, eingeborene Gesetzmässigkeit.Ga naar eind2 Eine solche, die sich nicht in Regeln fassen lässt, gehört zu den barbarischen.Ga naar eind3 Somit erscheint die Systematisierung der Muttersprache als Beweis ihrer Würde, und dieser musste umso überzeugender wirken, wenn er in ihr selbst ausgeführt wurde. Was Harsdörffer in seinem Programm fordert, das war in den Niederlanden schon in Angriff genommen und zu einem grossen Teil verwirklicht. Ihr Vorsprung ist bei ihm und seinen Zeitgenossen oft berufen. So schreibt Christoph Arnold, der Lerian der Pegnesischen Hirtengesellschaft: Die Niderländer sind noch heut zu Tag mit emsigen Nachsinnen bemühet/ jhre Sprache/ bei aller Welt-les- und lobwürdig zu machen.Ga naar eind4 Diese Feststellung lässt sich mit Zitaten aus dem 17. Jahrhundert belegen und gilt auch nur für dieses. Es soll nicht behauptet werden, dass die Spracharbeit in Deutschland völlig fehlte. Wendet man den Blick zurück ins 16. Jahrhundert, so wird man eine umgekehrte Situation vorfinden. | |
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In diesem Zeitraum sind es gerade die Niederländer, die mit Bewunderung die Leistungen der deutschen Sprachforscher anführen. Auch hier mögen einige Belege genügen. Coornhert, der als Verbannter mehrere Jahre in Deutschland verbrachte, lobt die ‘hoochduytschen’, die sich ‘naersticheyt, moeyte, arbeydt ende coste’ gemacht hätten,Ga naar eind5 ihre Muttersprache zu verbessern. Später spricht er die Hoffnung aus, dass das Niederländische in weynich Jaren (metter hulpen Godts) soo verre komen sal; als nu die Hoogduytsche gheclommen sijn.Ga naar eind6 Coornhert meint sicherlich die frühen grammatischen Leistungen von Ickelsamer, Frangk und anderen. Eine stattliche Anzahl von Lehrbüchern, Orthographien und Leseschulen für den deutschen Unterricht erschien während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Sie sind fast ausnahmslos in deutscher Sprache abgefasst. Aber nicht nur für diesen Zeitraum beobachtete man in den Niederlanden die deutschen Spracharbeiten mit Aufmerksamkeit. Der Hinweis in Spiegels Twe-spraack, dass die Hochdeutschen ‘naast korte jaren’ Grammatiken ans Licht gebracht hätten,Ga naar eind7 zielt wahrscheinlich auf die Werke von Albertus, Clajus und Oelinger. Es handelt sich um gelehrte Bücher für Gelehrte lateinisch geschrieben. Sie verfolgen die Absicht, dem Ausländer das Studium des Deutschen zu erleichten.Ga naar eind8 In keinem Fall wenden sie sich an die ‘ungelehrten Layen’,Ga naar eind9 die noch Frangk als sein Publikum ansprechen wollte. Aber genau dies ist das Ziel der niederländischen Sprachbücher, die etwa um dieselbe Zeit in holländisch erschienen. Wie gelehrte lateinische Werke zu beurteilen sind, das lässt sich einer Bewertung der Twespraack entnehmen. Becanus und Erasmus hätten sich um die Sprache verdient gemacht, beide aber versäumten es, ihr Wissen den Landsleuten in der angeborenen Sprache mitzuteilen.Ga naar eind10 Die frühen Versuche, für die Ickelsamer stellvertretend stehen möge, haben sich in Deutschland nicht durchgesetzt. Sie wurden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vom Humanismus abgelöst.Ga naar eind11 Vom Gesichtspunkt der Spracharbeit - wie sie oben beschrieben wurde - stellt das einen Rückschlag dar, der sich nachteilig auf das Frühbarock auswirkte. Sie haben keine wesentliche Beachtung gefunden, und es hat den Anschein, dass die geringe Wirkung einen zusätzlichen Grund in der Verachtung hat, mit der man seit Opitz auf die Dichtung des 16. Jahrhunderts blickte. An der Feststellung einer Diskontinuität in der Spracharbeit ändert sich auch nichts durch vereinzelte Versuche, die während des frühen 17. Jahrhunderts in Deutschland unternommen wurden. Es handelt sich meist um aus der Praxis entsprungene Reformbestrebungen des mutter-sprachlichen Unterrichtes,Ga naar eind12 die vor allem von Ratke vorangetrieben wurden. Aber seine Ausstrahlung reichte nicht weit; er hat einiges in Druck gegeben und vieles im Manuskript hinterlassen. Es verdient jedoch Beachtung, dass er die Anregungen für sein weitgespanntes Programm während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Holland sammelte | |
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(1603-1610).Ga naar eind13 Es ist gerade jene Zeit, in der die niederländische Sprach-arbeit intensiv betrieben wurde. Die Entwicklung nimmt hier einen entgegengesetzten Verlauf zu der in Deutschland. Sie setzt um die Mitte des 16. Jahrhunderts zögernd ein, wobei deutsche Werke als Vorbilder dienen, und sie erreicht in dem Zeitraum 1581-1635 einen Höhepunkt, der sich in einer Fülle muttersprachlicher Publikationen niederschlägt.Ga naar eind14 Eine ununterbrochene Linie führt vom 16. ins 17. Jahrhundert, und die-ser Kontinuität verdankt die niederländische Spracharbeit ihren hohen Stand und die grosse Wirkung. Als man in Deutschland um die Mitte des 17. Jahrhunderts begann, die Sprache zu säubem und aufzubauen, da nahm man nicht nur die eigene Tradition wieder auf, sondern orientierte sich auch in starkem Masse an den Errungenschaften der Niederländer. Eine vergleichende Betrachtung wird daher die zeitlichen Grenzen des Frühbarock nach beiden Seiten ausdehnen müssen. Und das erweist sich auch deshalb als sinnvoll, weil die Bedeutung der Werke von Simon Stevin, die von 1586 an erschienen, bisher nicht gewürdigt worden ist.Ga naar eind15 Der gegenseitige Austausch in der Geschichte der Spracharbeit wird nur dann verständlich, wenn man sich die Auffassung der Entwicklung der Muttersprache und das Verständnis von der Beziehung der Dialekte untereinander vergegenwärtigt. Jedem, der sich mit den zeitgenössischen Äusserungen über die deutsche Sprache und ihre Mundarten beschäftigt, begegnet die terminologische Unbestimmtheit. Zwar gibt es eindeutige Bezeichnungen, wie niederländisch und hochdeutsch oder ‘overlandsch’,Ga naar eind16 in ihrer Mehrzahl aber sind sie schwer zu definieren. ‘Teutsch’ oder ‘duytsch’ können sich auf das Hochdeutsche oder Niederländische beziehen, aber auch den ganzen Komplex der germanischen Sprachen umfassen. Die Namen ‘Lingua Teutonica’, ‘Lingua Celtica’, ‘Lingua Belgica’, ‘Lingua Cimbrica’ und ‘Lingua Germanica’ - sie alle kommen in van der Mijles Werk vor - sind ebenso mehrdeutig und können für die ganze Sprachenfamilie stehen wie für ihre einzelnen Glieder.Ga naar eind17 In der mangelnden Unterscheidung zeigt sich nicht nur ein Unvermögen, sondern auch die Ansicht von einer grundsätzlichen Harmonie der germanischen Sprachen, die dem Dialektbegriff zugrunde liegt.Ga naar eind18 Dabei geht man empirisch von den regionalen Unterschieden aus: Tis yder spraeck ghemeen datse in den eenen oirt des landts wat anders uytghesproken wort als op den anderen. By voorbeelt, daer de Neerlanders segghen Dat, Wat, Vat, d'Ouerlanders segghen Das, Was, Vas ...Ga naar eind19 Nicht immer sind die Gemeinsamkeiten zweier Dialekte so leicht zu erkennen wie in diesem Beispiel, aber selbst dann, wenn sie kaum noch Ähnlichkeiten miteinander haben und unverständlich erscheinen, entspringen sie demselben Ursprung.Ga naar eind20 In dem verwirrenden Durcheinander der Stellungnahmen soll Schottels Stammbaum der Dialekte als Leitfaden dienen.Ga naar eind21 Er ist eines jener keilförmigen Fächerschemata, die vielen sprachlichen Darstellungen des 17. Jahrhunderts zugrunde liegen | |
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und die Ursprung und Ergebnis leicht erkennen lassen. Als Grund setzt Schottel die ‘Lingua Celtica’ oder ‘alte Teutsche Spra[che]’ an, die sich nach den Mundarten in die Hauptgruppen ‘Remotiores’ oder ‘Abstimmige’ und ‘propiores’ oder ‘zustimmige’ aufteilt. Zur ersten zählt er neben den nordischen Sprachen das Englische, Schottische und Altgotische. Sie werden ‘abstimmig’ genannt, weil sie sich durch ‘unkentlich Machung der Teutschen und Einmengung der frömden Wörter’ vom gemeinsamen Grund so weit entfernt haben, dass sie wohl noch in der theoretischen Überlegung, aber nicht mehr in der Praxis zur deutschen Sprache gehören. Anders verhält es sich mit den ‘zustimmigen’ Mundarten, die in hoch- und niederdeutsche aufgeteilt werden. Beide stehen gleichberechtigt nebeneinander; keine ist der Dialekt der anderen, sondern sie haben wiederum ihre eigenen Mundarten.Ga naar eind22 Die Stellung zu der Fülle von Idiomen ist keineswegs eindeutig. Als verlust bucht man den Abstieg von der Grundsprache, der Lingua Celtica, der umso mehr Verästelungen hervorbrachte, je weiter sich der Stammbaum verzweigte. Auf der anderen Seite war gerade die Vielfalt der Dialekte und Ausdrucks-möglichkeiten ein Beweis des sprachlichen Reichtums. Der Gegensatz wurde gelöst, indem man grössere landschaftliche Mundarten gelten liess, die Zersplitterung von Ort zu Ort jedoch ablehnte, so dass man zu einer übersichtlichen und für die sprachlichen Überlegungen sinnvollen Einteilung der Mundarten gelangte. Für den praktischen Gebrauch war selbst diese Reduktion noch zu vielfältig. Schottel verweist in diesem Zusammenhang auf das Griechische: Es wird an der Grichschen Sprache als etwas sonderliches und sprachreiches ... gelobet/ daß die beredten Griechen eine solche überflüssige Menge der Wörter oder Endungen der Wörter darin aufbringen und ausüben können/ daß auch vier unterschiedene Mundarten/ als die Attische/ Dorische/ Eolische und Ionische/ daheraus entstanden seyn/ gleichsam vier Sprachen aus einer ...Ga naar eind23 Das ist ein im deutschen und niederländischen Schrifttum häufig bemühtes Argument. Wo immer die Rede von den Dialekten ist, da verweist man auf die griechischen Zustände, um sie auf die eigene Sprache zu übertragen. Sie dienen auch als Rechtfertigung für den Ausgleich zwischen den Mundarten. Ebenso wie die Griechen der attischen Sprache den Preis zuerkannten, so suchte man nach dem besten Dialekt, der als Hochsprache alle anderen vertreten könnte. Stevin hielt das Nordholländische dafür geeignet, dem Meissnischen wurde derselbe Platz innerhalb des Hochdeutschen zugewiesen.Ga naar eind24 Es war das Ziel des Purismus in Deutschland und den Niederlanden, die jeweilige Hochsprache aufzubauen und gegen fremden Einfluss zu schützen. Mochten beide Sprachen auch verschieden klingen und bei einer oberflächlichen Kenntnis vor allem die Unterschiede auffallen, so erschlossen sich einem genaueren Studium stets mehr Gemeinsamkeiten: | |
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De neder-duytsche Tale wort in Gront-woorden Buygingen ende Taelspreuken met de Hoog-duytsche hoe scherper aengemerkt/ hoe gelijker bevonden.Ga naar eind25 Das soll nicht heissen, dass die Unterschiede aufgehoben werden sollten, man betonte im Gegenteil die Eigenständigkeit.Ga naar eind26 Man war sich aber der engen Verwandtschaft des Hochdeutschen und Niederländischen so sehr bewusst, dass zahlreiche Erörterungen angestellt wurden, ob und in welchem Grade die andere Sprache zum Aufbau der eigenen herangezogen werden dürfe. Die Möglichkeit bot sich um so eher an, als man gemeinsam den romanischen Einfluss abwehren und verworfenes Wortmaterial ersetzen musste. Die Frage fällt in den Problemkreis des Pan-Germanismus, zu dem nicht nur die Mundarten, sondern auch die älteren Sprachstufen gehören. Eine einheitliche Regel lässt sich an Hand der zeitgenössischen Äusserungen nicht aufstellen, und schon gar keine, die für beide Sprachen verbindlich wäre. Man erkennt jedoch gewisse Tendenzen, die zunächst an den Vorschriften für die Verwendung alter Wörter gezeigt werden sollen. Die Frage, inwieweit fremde Wörter durch alte der eigenen Sprache zu ersetzen seien, bildete ein intensiv erörtertes Thema der Puristen,Ga naar eind27 das durch das neuerwachte Interesse an der älteren deuschen Literatur gefördert wurde. Buchners lapidare Anweisung, man solle sich der ‘itziger Zeit gebräuchlichen Wörter/ und Arten im Reden’ bedienen,Ga naar eind28 ist in der Folgezeit verschärft und von ihm selbst und anderen eingeschränkt worden. Rist stellt die Archaismen den Fremdwörtern gleich, wenn er schreibt: ... denn was kann müheseliger sein/ als daß man allerhand alte verlegene Wöhrter und Reden/ bey welchen doch gahr keine teutsche Reinligkeit zu finden/ hervor suchet ...Ga naar eind29 Er lehnt sie strikt ab, und den Dichtern, die sie gebrauchen, unterstellt er ähnliche Motive wie den Sprachverderbern des Alamode-Wesens. Im Grunde handle es sich um unverständliche Vokabeln, die die Verse in eine leere Erlesenheit kleideten. Rists Standpunkt wird zwar von den meisten Poetikern geteilt, aber selten mit dieser Schärfe vertreten. Man rich-tete sich nach dem üblichen Sprachgebrauch, ohne ihn als den alleinigen Maßstab anzuerkennen. Titz fordert, man müsse sich solcher Worte/ die gar zu alt vnd verlegen/ oder sonst bey vns nicht bräuchlich sind/ gäntzlich enthalten ... Jedoch/ was die alten Worte anlanget/ kan es vielleicht noch wohl geduldet werden/ wenn man bedachtsamlich vnd an seinem orte etwan eines miteinmischet.Ga naar eind30 Ähnliche Vorschriften finden sich bei Buchner und Tscherning. Sie orientieren sich alle an den Gedichten von Opitz, in denen einige alte | |
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Wörter vorkommen. Daraus leitet man einen sparsamen Gebrauch ab, denn sie können durch ihre fremde Gestalt der Rede ‘Ansehen’ und ‘Klang’ verleihen.Ga naar eind31 Es handelt sich also um ein Mittel, das ästhetische Wirkungen erzielen soll, und nicht um ein puristisches zur Bereicherung des Wortschatzes. Eine Ausnahme wird für die alten Wörter der Jurisprudenz gemacht. Sie können mit mehr Freiheit verwendet werden, wenn sie bei den Gerichten noch üblich sind.Ga naar eind32 Um welche Wörter es sich handelt, kann man Tschernings kurzer Aufzählung entnehmen: Fron, Fehde, Gift und Gaben, frank und frei.Ga naar eind33 Sie sind zwar alten Ursprungs, brauchten aber nicht der Vergessenheit entrissen zu werden, da sie ihren Platz im Sprachbewusstsein behauptet haben und für jedermann verständlich waren. Auch hier findet keine echte Neubelebung im Sinne des Purismus statt. Die Verwendung alter Wörter erweist sich somit als ein selten befolgter Weg zur Vermeidung der Fremdwörterei. Was als Mittel des Purismus diskutiert wird, wird mit puristischen Argumenten zurückgewiesen. Man betrachtete es nicht als Verbesserung, sondern als Austausch der Fehler. Der empörte Ton in Rists Zitat lässt auf eine persönliche Polemik schliessen. Es ist nicht abwegig, sie auf Zesen zu beziehen, der nachdrücklich den Gebrauch alter Wörter vertrat und sie auch - z.B. in der Romanübersetzung ‘Ibrahim Bassa’ von 1645 - anwandte.Ga naar eind34 Schon einige Jahre früher hatte er das puristische Prinzip an einem holländischen Werk erkannt und klar ausgesprochen: M. Kornelius Liens ... verwirfft die ausländischen wörter gar/ und braucht an derer statt gute alte Holländische; ja die auch sonst lange zeit hero/ bey seinen Landsleuten verschwiegen worden/ hatt er mit sonderlichem fleiß aus der vergeßligkeit und endlichem Verderben gerettet ...Ga naar eind35 Freilich muss auch Zesen bei allem Lob gestehen, dass Liens' Verse ‘offt zimlich hart gehen.’Ga naar eind36 Die Unbekanntheit des Wortmaterials und die metrische Unsicherheit waren wohl die entscheidenden Hindernisse gegen die Verwendung alter Wörter in gebundener Rede. Anders stellte sich die Aufgabe in der Prosa. In einem Brief von 1631 schreibt Grotius, er habe sich in seiner Inleiding tot de Hollandsche rechtsgeleertheyd (1631) bemüht, die Muttersprache mit dem Nachweis zu ehren, dass sie sich auch zur Beschreibung der Rechtswissenschaft eigne. Zu diesem Zweck habe er lateinische Bezeichnungen durch einheimische aus alten Urkunden und Verordnungen ersetzt. Grotius war sich natürlich bewusst, dass sein Werk dadurch nicht dem Rechtsgelehrten, sondern dem Sprachforscher zugänglich war. Er hat das Problem der Verständlichkeit zu lösen versucht, indem er die alten Termini auf dem Rand in die üblichen übersetzte: ... tot nader geryf van degeenen, die aan latijnsche ofte basterd | |
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Duitsche woorden zijn gewent, heb ik op den kant de Duitsche worden vertaald.Ga naar eind37 Andere Autoren sind ähnlich vorgegangen und haben ihren Werken Wortlisten beigefügt. Das Verfahren jedoch ist langwierig. Abfassung und Lektüre verlangen vom Autor und Leser eine umständliche Proze-dur des Suchens und Vergleichens. Der Nutzen der Übersetzungen liegt zunächst in der Verständnishilfe für ein spezielles Werk. Er konnte erst dann erweitert werden, nachdem der neue Wortschatz in alphabetische Ordnung gebracht worden war. Grotius hat zwar die Grundlage für eine Fachsprache errichtet. Erst drei Jahrzehnte später stellte A. Koerbagh u.a. auch dieses Material zu einem juristischen Wörterbuch zusammen.Ga naar eind38 In der Unverständlichkeit liegt einer der stärksten Widerstände gegen den Gebrauch alter Wörter. Harsdörffer stellt zwar die Frage, ‘warüm solt ich nicht sagen können Hürten/ luppen/ göcheln’, er muss aber so-fort hinzufügen, dass dies ‘stossen/ verzaubern/ Narrenthand treiben’ bedeute.Ga naar eind39 Rompler von Löwenhalt ist einer der wenigen konsequenten Benutzer von Archaismen: .... weil ich in lesung alter Teütscher sachen oft so ausbündigwol-bedeitliche wörter find ... trag ich keinen schäuen/ underweilen eines herfür zusuchen und zugebrauchen ...Ga naar eind40 Das klingt wie eine Entschuldigung für ein ungewöhnliches Vorgehen. Rompler beugt dem Vorwurf der ‘obscuritas’ mit Erklärungen von ‘Bar’, ‘wat’, ‘Wiganden’, ‘Räcken’ und ‘Vogt’ vor. Aber auch ‘Minne’ und ‘Mär’ müssen gerechtfertigt werden. Jenes habe allzeit Liebe bedeutet und sei ‘bei den Nider-teütschen ... noch stehts in gebrauch’, dieses habe einen Bedeutungswandel von ‘geschichterzählung oder verkündigung’ zu ‘falsch ertichteten dingen’ durchgemacht. Er selbst wolle es im ‘rechten [d.h. alten] gebrauch’ anwenden. Das zeigt deutlich, in welchem Masse die alten Wörter in Vergessenheit geraten waren. Sie sind in vielen Fällen ohne etymologische Kenntnisse nicht zu verstehen. Man könnte sie mit den ‘Hard Words’ der englischen Sprache vergleichen. Im Unterschied zu den meisten Komposita sind sie dissoziiert, da sie sich nicht auf die sichtbare Verwandtschaft zu anderen Worten stützen.Ga naar eind41 Die Archaismen erweisen sich als eine wenig taugliche und nur mit Mühe zu praktizierende Methode beim Aufbau der Muttersprache. Ein Vergleich lehrt, dass dieser Weg im niederländischen Schrifttum häufiger beschritten wurde. Der Unterschied ist gering, aber er deutet in dieselbe Richtung, die sich bei der Einstellung zu den Mundarten zeigt. Auch bei diesem Problem behauptet sich in Deutschland ein konsequenterer Purismus. Er hat seine Richtschnur an der Hochsprache, die nach Luther, den Kanzleien und dem Meissnischen gebildet werden soll, deren genaue Bestimmung aber unklar bleibt.Ga naar eind42 Titz setzt als Maßstab den Gebrauch | |
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der Leute an, ‘die rein reden’,Ga naar eind43 und Hannman nennt sie die ‘gemeine Sprache’ die ‘an keinem und doch fast allen Orten zufinden’ sei. Gemeint ist die Sprache, die die ‘viri vel literati vel sapientes & cultores’ verwenden.Ga naar eind44 In auffallender Einmütigkeit folgt man Opitz' Vorschrift, ‘derer örter sprache/ wo falsch geredet wird’ zu meiden.Ga naar eind45 Um ein reines Hochdeutsch zu erhalten, ‘muß man sich der Vnhochdeutschen Dialecten ... gäntzlich enthalten.’Ga naar eind46 Wenn die Praxis mit der starren Norm nicht übereinstimmt, und schon die Zeitgenossen in Opitz' Werk mundartliche Wörter feststellten,Ga naar eind47 dann ist das keine Änderung der ablehnenden Haltung, sondern erhellt vielmehr den Zwiespalt der Sprachreiniger. Sie konnten auf den Wortreichtum der Mundarten nicht verzichten, mussten das Verbot jedoch so eng wie möglich fassen, da sie Unerfahrenen nicht zutrauten, zwischen behutsamer Entnahme und wahlloser Übernahme zu unterscheiden. Obwohl es nicht ausdrücklich genannt wird, fällt auch das Niederländische unter dieses Verdikt. Wird es dennoch mit dem Deutschen in einem Text vermischt, so sind dafür keine puristischen Motive ausschlaggebend. In anderem Zusammenhang wurde bereits das Beispiel von Crombein angeführt, hier soll ein Gedicht von Hannman den Sachverhalt erläutern: Ich habe keine Sorg'/ ich darff nicht lange fragen:
Hoort u myn liever Frind, ryd van dem tag' een Wagen.
Ich darff auch warten nicht/ biß jener steht am Ort/
Vnd rufft mit vollem Mund/ vnd schreit: Harlinger
foort.Ga naar eind48
Hannman ist als Nachfolger von Opitz ein Verfechter der Hochsprache in der Dichtung. Seine Mischverse sind nicht unter dem Gesichtspunkt der Spracharbeit zu beurteilen und schon gar nicht als polemische Mengreden, die in dieser Form nicht vorkommen. Hannman gibt die Lösung selbst, indem er schreibt, dass er eine Mundart dann zulasse, wenn sie ‘die Sache besser darstellet’. So habe er keine Bedenken getragen, in einem deutschen Gedicht niederländische Verse einzumischen: wenn ich Hirten oder Bauern in einem Gedichte einführe/ ist es am besten/ daß ich sie auf jhre Baurische weise reden lasse.Ga naar eind49 Die fremde Sprache steht hier für eine einfache und kunstlose Ausdrucksweise. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass das Hochdeutsche die vornehmste Sprache innerhalb des Germanischen ist. Sie zeigt sich auch beim satirischen Gebrauch des Niederländischen. In Scherffers Gedicht ‘Waer blijft dat van’ wird die Adelssucht gegeisselt,Ga naar eind50 und in Sacers Reime dich/ oder ich fresse dich werden gelehrte lateinische Sentenzen mit sprichwörtlich-banalen auf holländisch kontrastiert.Ga naar eind51 Hier sind keine puristischen Motive im Spiel. Ähnlich dem erlaubten, sparsamen Gebrauch der alten Wörter dient das Niederländische der Erzeugung poetischer Wirkungen. Zesen, der oft als der radikalste Purist angesehen wird, steht dem | |
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Pan-Germanismus positiv gegenüber. Nicht nur, dass er den vorsichtigen Gebrauch niederländischer Wörter in der deutschen Dichtung empfiehlt,Ga naar eind52 sondern vor allem mit seinen Eindeutschungen aus dem Niederländischen. Mag er dabei oft zu sorglos vorgegangen sein, indem er die fremde Wortgestalt einfach beibehielt,Ga naar eind53 die grösste Anzahl jedoch zeigt das Bestreben, sie grammatikalisch und orthographisch dem Deutschen anzupassen. Die Eindeutschungen sind eine Spielart des Pan-Germanismus, die gerade bei so verwandten Sprachen mühelos zu einer Bereicherung des Wortschatzes führen konnte. Er verdankt dieses Verfahren seiner Kenntnis der niederländischen Literatur: ... ich vermerke/ das ihre [niederländischen] Poeten (welches sonderlich der Hoochgelahrte J. Katz gar meisterlich kan) aus der Hoochdeutschen [Sprache] ... zwar Wörter entlehnen/ die sie hernach auff ihre art brechen und schreiben.Ga naar eind54 Damit hat er seine Vorbilder genannt und gleichzeitig auch die Situation in den Niederlanden gekennzeichnet. Man stand hier dem Pan-Germanismus offener gegenüber als in Deutschland. Hans de Laet stellt die Ähnlichkeit beider Sprachen fest und leitet daraus die Konsequenz ab, einen Mangel in der eigenen durch Worte der hochdeutschen zu beheben, und van Hout empfiehlt den Dichtern, sie sollten zur Bereicherung der Muttersprache von den ‘Brüdern am Rhein’ entleihen.Ga naar eind55 Das sind nur zwei Stimmen aus der Schar der Befürworter des Pan-Germanismus, die sich von der Mitte des 16. bis weit ins 17. Jahrhundert zu Wort meldeten. Man denkt nicht nur an die Dichtung, sondern auch an die Spracharbeit, und es ist daher nicht verwunderlich, dass das Problem in Wörterbüchern, Grammatiken und Orthographien behandelt wird. Eine der bedeutendsten Stellungnahmen findet sich in Spiegels Twe-spraack . Als Voraussetzung steht die bereits erwähnte Harmonie der germanischen Sprachen, die schon bei Becanus ausgesprochen wurde: Ick spreeck (met Becanus/) int ghemeen van de duytse taal/ die zelve voor een taal houdende/ dóch dat ze zommighe wat te hóógh/ andere wat te laegh spreken ...Ga naar eind56 An die Feststellung der Einheit kann Spiegel folgerichtig das pangermanische Prinzip anschliessen. Zesens Begründung, die Niederländer entlehnten aus dem Hochdeutschen, ‘weil selbe die Hauptsprache’ sei,Ga naar eind57 erweist sich dabei als eine durch nationalen Sprachenthusiasmus entstellte Behauptung. Der Pan-Germanismus umspannt alle germanischen Sprachen, wenn auch das Deutsche und Niederländische oft im Vordergrund stehen. Int verrycken onzes taals/ zoud ick verstaan datmen uyt elcke verscheyden Duytsche spraack/ ia uyt het Deens, Vries ende Enghels, de eyghentlyckste wóórden behóórde te zoecken/ van de welcke de ene deze/ de ander de andere alleen int ghebruyck ghehouden heb- | |
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ben: ia datmen alser enighe wóórden voorvallen diemen meent uyt het Latyn te spruyten ... wel naarstelyck na zócht om te spueren/ ófse óóck uyt onze grondwóórden bestaan ...Ga naar eind58 Die ‘Bereicherung’ der Sprache ist durchaus konkret in dem Sinne zu verstehen, dass man die Lücken mit den Grundwörtern verwandter Mundarten auffüllt, ähnlich wie es de Laet und van Hout vorgeschlagen haben. Aber Spiegel nennt einen weiteren, wichtigen Aspekt. Das Forschen nach den Grundwörtern in den ‘deutschen’ Sprachen kann zur Bestimmung des germanischen Ursprungs führen, den man bisher im Lateinischen vermutet hatte. Es trägt also zur Kenntnis der eigenen bei, und das gilt vor allem dann, wenn man das Interesse auf den Ursprung richtet. So hat sich Kiliaan in seinem Wörterbuch des Pan-Germanismus bedient, um zu den ‘etymologias sive origines’ zu gelangen.Ga naar eind59 Wie ein Nachhall der Twe-spraack klingt Harsdörffers Feststellung, es möchte nicht ausser wegs seyn etliche alte Stammwörter aus der Schwedischen/Dänischen/alten Celtischen/ und Niederländischen Sprache herfürzusuchen ...Ga naar eind60 Man darf aber die Unterschiede nicht verkennen. Bei Spiegel hatte der Pan-Germanismus eine praktische Seite der Sprachbereicherung und eine theoretische der Ursprungsbestimmung; und auf dieser liegt das Hauptgewicht bei Harsdörffer. Kam es dem unkritischen Purismus darauf an, die Wörter nach ihrer äusseren Gestalt zu bewahren oder zu verwerfen, so fragt die Spracharbeit nach dem deutschen Ursprung. Erst wenn das Alter nachgewiesen werden kann, ist auch die Echtheit gesichert. Als Instrument der Wahrheitsfindung bediente man sich des Pan-Germanismus, der bei Schottel durch die niederdeutsche Sprache vertreten ist: Der Niederteutsche aber rahmet und trift gemeiniglich näher zum Ziel/ weil die alte Art/ Spruch/ Form und Norm im Niederteutschen ... kennlicher und unverrükter geblieben/ als in der mit der Zeit nur aufgebrachten/ angenommenen und ausgeschmükten Hochteutschen Mundart.Ga naar eind61 Eine Sprache, die sich dem Ursprung nähert, hat auch den Reichtum der alten Wörter bewahrt. Schottel hat auf dieser Grundlage eine Wertung des Niederländischen und Hochdeutschen vorgenommen, in der der Patriotismus durch die historische Einsicht abgeschwächt wird: Die Niedersächsische/ wie auch Niederländische Mundart/ kommt dem rechten Grunde/ und Uhrsprünglichem Wesen oft näher/ als das Hochteutsche/ ist auch fast an Wörteren reicher und nicht weniger lieblich.Ga naar eind62 Wenn Schottels Pan-Germanismus zum Lob der anderen Mundarten führt, so darf man aus einer passiven oder ablehnenden Haltung nicht | |
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ein negatives Urteil über die Nachbarsprache folgern. Pontus de Heuiter stellt einige Lehnwörter in seiner Muttersprache fest und verweist den Bewohnern der Grenzgebiete, dass sie ohne Not hochdeutsche Wörter aufgenommen hätten. Aber das ist keine Abwertung, de Heuiter ist vielmehr der Überzeugung, dass beide Sprachen gleich gut ausgerüstet sind: das Deutsche und das Niederländische seien alt, reich und rein, und darum bedürfe es nicht der gegenseitigen Hilfe.Ga naar eind63. Die Ablehnung des Pan-Germanismus entspringt hier also einer Hochschätzung beider Sprachen. Gemeinsamkeiten zeigen auch die Grundlagen zur Spracharbeit. Die Niederlande haben im 17. Jahrhundert zwar einen Vorsprung, jedoch sollte man die umgekehrte Situation im 16. Jahrhundert nicht vergessen. In der Praxis bedeutet das, dass es zu einem Kreislauf der Argumente und einem Austausch der Verfahrensweisen kommen kann. Sicherlich ist es richtig, dass die Deutschen im 17. Jahrhundert nachweisen mussten, ‘dass ihre Sprache älter und für die Poeterei mindestens ebenso geeignet sei wie die klassischen, die romanischen Sprachen’, man darf aber das Niederländische nicht vorbehaltlos in diesen Wettbewerb einbeziehen.Ga naar eind64 Heinsius hatte für die Dichtung, die holländischen Linguisten für die Sprache den Nachweis erbracht, und seine Gültigkeit wurde auch für den deutschen Bereich beansprucht. Aber die Übereinstimmungen sind nicht so weitreichend, wie der unkritische Purismus zunächst vermuten liess. Bei der Frage des Pan-Germanismus zeigt sich in Deutschland eine isoliertere Haltung als in den Niederlanden. Und wenn man ihn dennoch zulässt, dann sind dafür poetische und keine sprachlich-puristischen Motive massgeblich; oder aber er wird in der Forschung als die Methode beansprucht, mit der man die richtige Gestalt der deutschen Wörter erkennen kann. Sprache und Schrift sollten von fremdem Einfluss freigehalten werden. In den Niederlanden dagegen finden sich manche Autoren, die einen Mangel ihrer Muttersprache mit Hilfe der Mundarten beheben wollen. Daraus ergibt sich für die Spracharbeit ein Spannungsverhältnis von Anlehnung und Abgrenzung, das einmal durch die sprachliche Nähe, das andere Mal durch den Willen zur Eigenständigkeit bestimmt ist. Theoretische Einsichten können häufig von Deutschen übernommen werden, ebenso eine Anzahl von Methoden. Die Einmischung fremder Elemente in die konkrete Sprachgestalt wurde zurückgewiesen. Diese Feststellung soll an den Stammwörtern, den Komposita und der Orthographie geprüft werden. Diese drei Gebiete wurden ausgewählt, weil sie zu den wichtigsten und umfassendsten der Spracharbeit gehören. Dabei geht es jeweils nicht um eine systematische Gesamtbeschreibung, sondern darum, anhand der zeitgenössischen Belege die Übereinstimmungen und Unterschiede in den deutsch-niederländischen Beziehungen heraus-zuarbeiten. | |
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C Die StammwörterDie Stammwörter bilden die Grundlage des Sprachbegriffs im 17. Jahrhundert und bestimmen so wichtige Gebiete der Grammatik wie Wortzu-sammensetzungen und Rechtschreibung. Ihre Behandlung lässt all das erkennen, was über die geschichtliche Entwicklung und die gemeinsame Problemlage gesagt wurde. Schon Irenicus und Rhenanus hatten im 16. Jahrhundert über die deutschen Stammwörter geschrieben, und später hob Albertus die Vorzugsstellung seiner Muttersprache auf diesem Gebiet hervor.Ga naar eind1 Im 17. Jahrhundert ist es dann Schottel, der sich am eindring-lichsten mit ihnen beschäftigt. Seine Erkenntnisse hat man wegweisend genannt.Ga naar eind2 Ihm gebührt das Verdienst, die Stammwörter beschrieben, gedeutet und gesammelt zu haben, die Kenntnisse jedoch verdankt er seiner enzyklopädischen Rezeptivität. Das scheint Plattner mit der These verneinen zu wollen, Schottel beziehe sich zwar auffällig häufig auf die Niederländer Heinsius, Grotius und Stevin, aber diese hätten nur Anregungswert; ein ‘direkter Einfluss ... auf Sprachbegriff und Methode’ lasse sich nicht nachweisen.Ga naar eind3 Man fragt sich mit Recht, ob Plattner hier nicht eigene Vermutungen widerlegt und aus welchem Grunde Heinsius in diesen Zusammenhang gestellt wird, da er keinen Beitrag zur Spracharbeit geleistet hat. Auf der anderen Seite vermisst man Becanus, Schrieckius und eine Betrachtung von Simon Stevins Wirkung. Schottel kennt zwar auch die deutsche Tradition des 16. Jahrhunderts, er erweist sich aber als gelehriger Schüler der Niederländer und vor allem Stevins, dessen ‘Vytspraeck Vande Weerdicheyt Der Dvytsche Tael’ er oft zitiert und noch häufiger ausschreibt. Das mindert nicht den Wert seiner Darlegungen, sondern zeigt ein weiteres Mal, wie stark man sich an den Niederländern ausrichtete. In der Ausführlichen Arbeit wird die Bedeutung der Stammwörter mit zwei Bildern beschrieben. Wie jedes Gebäude auf einem festen, wohlgepfählten Grund stehe, so habe das Kunstgebäude der Sprache das Fundament in den Stammwörtem, die als ‘saftvolle Wurtzelen den gantzen Sprachbaum durchfeuchten.’Ga naar eind4 Ein wurzelreicher Baum werfe grosse Ernte ab, eine Sprache mit vielfältigen Stammwörtern bringe herrliche Früchte hervor. Der Widerspruch zwischen Statik und Dynamik ist nur ein scheinbarer. Die Stammwörter sind das unveränderliche Fundament, die Früchte, die sie treiben, zeigen sich in Herleitungen und Zusammen-setzungen. Je mehr Stammwörter eine Sprache besitzt, desto üppiger kann sie auswachsen. Um die Begriffe Ursprünglichkeit und Vielzahl kreisen die meisten Erörterungen: In nostra lingua omnia vocabula primogenia sunt monosyllaba, eorumque tanta copia, ut in ea interpretanda nulla unquam existat sententiarum diversitas, quanquam frequentem apud Hebraeos esse nemo diffitetur. Hac igitur parte lingua Germanica, Hebraicam vocum copia, Graecam & Latinam brevitate vincit ...Ga naar eind5 | |
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So hat es Becanus beschrieben, Schottel übernahm es wörtlich, und Albertus' Formulierung stimmt damit weitgehend überein. Grundsätzlich hat sich im Vergleich zum unkritischen Purismus an der apologetischen Haltung nichts geändert, nur dass man sich jetzt weniger gegen die modernen Sprachen richtet, sondern gegen das Hebräische, Griechische und Lateinische. Das aber zeigt, dass man den Blick auf die Ursprünge lenkt. In den Erörterungen gib es eine Konstante, die fast überall auftritt, nämlich die Gleichsetzung von Einfachheit (brevitas) oder Einsilbigkeit und Alter oder Ursprünglichkeit: ... die Wurtzeln oder Stammwörter Teutscher Sprach sind alle einsilbig / kurtz/ rein/ fest/ hell/ klar/ deutlich/ säfftig/ kräfftig und mächtig: wie sie von unsern Vhrahnen gemuntzet worden/ für das gelten sie noch heut bei jhren Nachkümmlingen.Ga naar eind6 Ob nun die Stammwörter von den Urahnen geprägt wurden oder göttlichen Ursprungs sind - in beiden Fällen besitzt gerade der Deutsche besondere Fähigkeiten zu einsilbigen Wörtern. Mit Zähnen, Lippen, Zunge und Kehle - so Schottel im Anschluss an Stevin - kann er unendlich viele bilden und jedes Ding mit einem nur diesem zukommenden, einfachen Laut benennen. Weniger ist fast unmöglich, mehr ist unnütz.Ga naar eind7 Schottel ist mit Becanus und Stevin der Ansicht, dass die Grundwörter der göttlichen Natur entstammen und ihre Geheimnisse aufdecken. Er führt in die sem Zusammenhang auch Schrieckius an: Miranda est consonantia & convenientia inter naturales existentias, linguamque Celticam seu Germanicam.Ga naar eind8 Zwischen Laut und Ding besteht eine Harmonie, die im Urzustand voll-kommen war und erst durch die sprachliche Entwicklung verdeckt wurde. Aber die Aufgabe der Sprache besteht nicht nur in der Offenbarung der Natur, sondern auch des Verstandes. Es sei an das Beispiel von Glareanus erinnert und an die Verse von Grotius: ‘Lingua imperare nata, quae citos mentis/ Sensus adaequas non minus brevi voce.’ Ähnlich hat es Stevin formuliert, und von ihm übernahm es Schottel: Unser Gedächtnis ... ist kurtz und schnell/ darum ist auch die Erklärung desselben die beste/ die kurtz und schneil/ rein und vernemlich daher klinget.Ga naar eind9 Die Harmonie von Laut und Ding, Wort und Geist zeigt sich zuerst in der Einsilbigkeit. Aus der gegenwärtigen Fülle schliesst man auf das Alter der Muttersprache, das das des Hebräischen nicht nur erreicht, sondern nach Becanus' weitverbreiteter Ansicht weit übertrifft. Um der Behauptung vom hohen Alter der deutschen Sprache den Anschein einer blossen Vermutung zu nehmen, ersetzt er den sprachlichen Ursprung durch die menschliche Kindheit. Wahrscheinlich bezieht sich Schottels Beobachtung auf Becanus: | |
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Man nehme den Anfang der Natur alhie ab an den Kinderen/ welche in Formirung der lallenden Zungen erstlich einsilbige Wörter hervor bringen lernen ...Ga naar eind10 Die Untersuchung der Kindersprache erlaubt weitere Folgerungen, die bei Schottel nur andeutungsweise vorhanden sind. In der Twe-spraack , die sich in diesem Abschnitt auf Becanus stützt, wird eine Reihe von Kinderwörtern aufgezählt: ‘taat, tit, nin, lepel, kack, pyp, pop, lel, lul.’Ga naar eind11 Es handelt sich nicht nur um einsilbige, sondern auch um Krebswörter. Man kann sie vor- und rückwärts lesen: sie behalten denselben Laut und Sinn. Sie beweisen die Eigenständigkeit eines Stammwortes und darüber hinaus der ganzen Sprache, wenn sie als unvollständiges Palindrom auftreten, d.h. in der Umkehrung nicht dasselbe Wort ergeben: zó hebben wy óóck veel onvolkomen kreeftwóórden/ die aerzelings gelezen zynde/ een ander wóórd maken ... als ai ende ia ... klóck ende kólck ... zack ende kas ... room ende moor ...Ga naar eind12 Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Sprache aus sich selbst heraus besteht und keiner fremden Hilfe bedarf. Becanus Gedankengang ist in sich folgerichtig: er setzt die Einsilbigkeit als Maßstab für das Alter, stellt in der deutschen Sprache mehr einsilbige Wörter als in anderen fest, und danach ergibt sich nach einem einfachen Schluss das höhere Alter des Deutschen. Aber schon Lipsius und Scaliger haben die Prämissen und die daraus resultierende Suche nach absurden Etymologien angegriffen. Der Humanistenstreit um Becanus hat seinen Niederschlag auch in Deutschland gefunden. Schottel gibt davon eine Zusammenfassung, die in ihrer Parteilichkeit seinen eigenen Standpunkt beleuchtet. Er wirft Becanus zwar vor, dass er ‘im Beweistuhme ... gar zu frey um sich greifft’, er steht aber dennoch auf seiner Seite. Den Grund für die Kontroverse sieht er bei den Gegnern. Lipsius soll ‘mehr wider Becanum gesagt/ als bewiesen haben’, und Scaliger habe ‘wider den Becanum zureichenden Beweistuhm nicht beygebracht’, weil er ‘der Teutschen Sprache unkündig gewesen’.Ga naar eind13 Schottel steht das Lob der Sprache höher als die Überzeugungskraft der Argumente. Er bleibt mit Schrieckius bei der Folgerung, ‘daß die Nomina universa einzig und allein jhre eigentliche Deutung in den Teutschen Wörtern finden.’Ga naar eind14 Auch Zesen hat sich am Streit um Becanus beteiligt. Das Dogma von Einsilbigkeit gleich Alter entkräftet er mit Lipsius durch die chinesische Sprache. Sie bestehe fast ausschliesslich aus einsilbigen Wörtern und werde nur durch den Akzent unterschieden, aber daraus folge nicht, dass sie allen anderen vorausgegangen sei.Ga naar eind15 Die Zurückweisungen richten sich gegen Becanus Methode, nicht aber gegen die Überzeugung, dass die deutsche Sprache alt und an Stammwörtern reich ist. Sie müssen auch unterschieden werden von den Vorschriften gegen den Gebrauch einsilbiger Wörter in der Dichtung. Was die Spracharbeit als ihren vornehmsten Gegenstand ansieht, das stösst in | |
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der Poetik auf Ablehnung. Optiz' Gebot, ‘Es siehet nicht wol auß/ wenn ein Verß in lauter eynsylbigen wörtern bestehet,’Ga naar eind16 ist oft wiederholt worden. Wenn es auch wegen der Fülle nicht streng befolgt werden kann, so gilt es stets zwei Gesichtspunkte zu beachten: den Klang des Verses und die richtige Wortgestalt. Ein Vers, in dem einsilbige Wörter gehäuft sind, wirkt ‘schwer’ und ‘klötzig’, weil ‘ein jeder wort vor sich ist/ und den klang endet.’Ga naar eind17 Schottel wendet sich gegen die ‘verstümlung und gesuchte Einsilbigkeit’,Ga naar eind18 und er meint damit sicherlich das Verfahren, ein Wort durch Elisionen und Synkopen zu verkürzen, das nach der hochdeutschen Mundart mehrsilbig ist. Die Kontroversen um Becanus offenbaren eine Unsicherheit in der Behandlung der einsilbigen Wörter. Es stellte sich daher die Aufgabe, eine konkrete Grundlage zu schaffen. Der Mathematiker Stevin setzte neben die spekulativen Betrachtungen den arithmetischen Beweis. Er ist wohl der erste, der statistische Erhebungen über die einsilbigen Stammwörter anstellte, die zu einem augenfälligen Ergebnis führten: im Griechischen zählte er 265, im Lateinischen 163 und im Holländischen 2170. Diese Zahlenreihe imponierte in Deutschland ungemein; sie wurde immer wieder zitiert.Ga naar eind19 Man übertrug sie auf die eigenen Verhältnisse und wertete sie als unwiderlegbare Bestätigung für die Überlegenheit der deutschen Sprache. Stevin ging es nicht um Vollständigkeit. Er bekennt, dass er die Stammwörter aus nur einem Lexikon, dem Schat Nederduytscher Talen von J.v.d. Werve, zusammengelesen habe. Dieses Werk sei unvollständig, und im Griechischen und Lateinischen habe er manches übersehen, an den Mehrheitsverhältnissen aber werde sich nichts ändern. Das zeigt deutlich, dass er nicht von philologischer Akribie geleitet wurde, sondern von einem sprachpatriotischen Konkurrenzdenken. Aus demselben Beweggrund stellte Schottel seine umfangreiche Sammlung ‘Von den Stammwörteren der Teutschen Sprache’ zusammen.Ga naar eind20 Es sei gleich vorweg gesagt, dass er von Stevin angeregt und beeinflusst wurde. Er hat viele Beispiele von ihm übernommen. Seine Absicht aber ist eine andere, und das zeigt schon der äussere Umfang, der um ein Vielfaches angewachsen ist. Auch er konnte keine Vollständigkeit erreichen, da er die Stammwörter aus den Handwerkskünsten nicht beherrschte, aber er tut dennoch einen wesentlichen Schritt über Stevin hinaus. Ihm verdankt er die Einsicht, dass in der gegenwärtigen Sprache etliche mehrsilbige Wurzelwörter seien, die früher einsilbig ausgesprochen wurden: statt Vater und Mutter habe man ‘Vaer’ und ‘Moer’ gesagt.Ga naar eind21 Da nach seiner Auffassung das Niederländische eine ältere Sprachstufe darstellt, muss es nicht nur zur Erklärung, sondern auch zur Ergänzung herangezogen werden, wobei er die Sammlung von Stevin benutzte: Niederteutsche Stammwörter/ so in dem Hochteutschen gemeiniglich unbekant/ sind anhero gesetzt/ wan aber das Hochteutsche bekant/ ist das Niederteutsche ausgelassen; Es sind sonder zweiffel | |
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in den Hochteutschen Mundarten viele Wörter befindlich/ so in den Niederteutschen unbräuchlich/ und in diesen nicht weniger viele bräuchlich/ so in jenen unbekant.Ga naar eind22 Schottel ist also bemüht, seine Sammlung auf eine möglichst breite Grundlage zu stellen. Er berücksichtigt ältere Sprachstufen und andere Dialekte und stellt damit das Prinzip des Pan-Germanismus in den Dienst der Sprachforschung. War Stevins Liste dazu bestimmt, den Vorzug der Muttersprache anhand konkreter Zahlen nachzuweisen, so geht es Schottel auch um die Sprache selbst. Seine Ziele sind dieselben, die für die zahlreichen ‘vocabularia’ und Fachwortschätze der Zeit verantwortlich sind: er will den Bestand feststellen und bewahren und eine Norm gegen die Willkür errichten. Für ihn sind die Stammwörter ‘das erste und letzte im Sprachwesen’, ‘die Ekk- und Grundsteine.’Ga naar eind23 Sie bilden das Fundament, und somit bedeutet ihre Sammlung und Erklärung die Festigung des ganzen Sprachgebäudes. Es hat sich gezeigt, dass Schottels Verständnis der Stammwörter den Niederländischen Sprachforschern mehr als eine Anregung verdankt. In der Deutung und der Einschätzung der Bedeutung für die Muttersprache stimmen sie überein. Darüber sollten auch nicht die unterschiedlichen Ansätze seiner und Stevins Sammlung hinwegtäuschen. Er hat gerade die Vollkommenheit der Stammwörter im Anschluss an Stevin in vier Eigenschaften zusammengefasst. Sie besteht darin, dass sie ‘jhr Ding eigentlich ausdrükken’ und zahlreich vorhanden sind, dass sie in ihren ‘Natürlichen Letteren’ bestehen und ‘allerley Bindungen/ Doppelungen und artige Zusammenfügungen’ hervorbringen.Ga naar eind24 Die beiden ersten Eigenschaften wurden hier besprochen, die Wirkungen auf die Komposita und die Orthographie werden die beiden folgenden Abschnitte zu untersuchen haben. | |
D. Die Wortzusammensetzungen | |
a. Zur TheorieDie Lehre von den Komposita ist unmittelbar mit dem Dogma der Einsilbigkeit als ihrer hinreichenden und notwendigen Bedingung verbunden, sie scheint es aber auch einzuschränken. Hinreichend, weil die Kürze der Wurzeln die vollkommenen Zusammensetzungen erst ermöglichen; notwendig, weil jede Sprache nur über eine beschränkte Anzahl von Stammwörtern verfügt, die noch nicht einmal ‘der hunderste Teihl in gleichgeltender Gegenzahl der mannigfaltigen Dinge’ ist.Ga naar eind1 Das ist zunächst ein Widerspruch, denn eine Sprache, die jedes Ding mit einem einsilbigen Laut benennen kann, bedarf nicht der Komposita. In diesen aber sah man mehrmalige Einsilbigkeit, und somit wird die Fähigkeit zu Wortzusammensetzungen neben den Stammwörtern zum Maßstab für den Wert der Sprache überhaupt erhoben. Der Deutsche braucht nicht | |
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zu weitschweifigen Umschreibungen zu greifen, da er eine Sprache besitzt, die sich ‘künstlich / kürztlich und deutlich doppelen lest/ daß man fast jedes und alles mit einem deutlichen Worte anzeigen künne.’Ga naar eind2 Die Anweisungen zur Bildung von Komposita in den Lehrbüchern des Frühbarock sind gering. Opitz nennt nur eine Art, bei der ‘das nomen verbale ... allzeit ... muß hinten gesetzt werden’, und Buchners Vorschrift geht darüber nicht hinaus.Ga naar eind3 Einen Fortschritt bedeuten die Ausführungen von Titz. Er zählt fünf Arten auf und gibt jedesmal an, welches Glied vor- oder nachgestellt werden muss, aber das Bildungsgesetz hat auch er nicht klar erkannt.Ga naar eind4 Der Grund liegt in der Sache selbst und in der Zielsetzung dieser Schriften. Die einfachen Anweisungen zeigen, dass man noch keine differenzierte Kenntnis der Komposita besass, und es lag nicht in der Absicht von Poetikern, diese zu untersuchen, sondern ihnen einen angemessenen Platz innerhalb des poetischen Regelsystems zuzuweisen. Die Untersuchung der Komposita ist ein Gegenstand der Sprachforschung. Es ist längst erkannt worden, dass Schottel als erster eine Theorie über sie aufgestellt hat,Ga naar eind5 die Rolle der Niederländer aber wurde bisher nicht genügend beachtet. Es ist keine Übertreibung, wenn man Schottels Darlegungen in der sechsten Lobrede von den ‘wunderreichen Eigenschaften ... in Verdoppelung der Teutschen Wörter’Ga naar eind6 als eine aufgeschwellte Kompilation aus Stevins ‘Vytspraeck’ und ‘Wysentyt’ bezeichnet, die das für ihn typische Bild der Arbeitsweise zeigt. Er fügt wenige Gedanken hinzu, aber eine Fülle von Beispielen; sein Sammeleifer erstellt voluminöse Wortlisten, sein analytischer Verstand trifft Einteilungen und Differenzierungen bis ins kleinste Detail. Die Grundlagen aber fand er bei Stevin vor: alles, was sich bei diesem über Theorie, Verwendung und puristische Apologetik der Komposita findet, enthalten auch die sechste Lobrede und die Wortsammlungen. Die einzelnen Gruppierungen sollen hier nicht vorgestellt werden, sondern die von Stevin übernommene, massgebliche Erkenntnis der Zweiteiligkeit. Schottel ist wohl der erste im deutschen Sprachbereich, der eine Trennung zieht zwischen ‘Subiectum’ und ‘Adiunctum’, oder - wie er in Anlehnung an die holländische Terminologie schreibt - zwischen ‘Grund’ und ‘Beygefügtem’: Der Grund ... ist allezeit dasselbige auf welches Deutung vornehmlich ... unser Sinn und Gedanken sich lenken ... und allezeit die Hinterstelle des Wortes einnimmt ... Das Beygefügte aber ist das ... vorderste Glied des Wortes ... daß durch dessen bey- oder Vorstand/ das Grundwort gleichsam anders gefüget/ und zu einer anderen Deutung gebracht werde ... Zum Exempel ... in Seestadt/ Landstadt/ wird bey das Grundwort Stadt gefüget See und Land/ durch welche Vorfügung wird die eigentliche Deutung des Grundwortes Stadt ... verendert ...Ga naar eind7 Die Erkenntnis der Kompositionsteile bedeutete für die Lehre der Zu- | |
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sammensetzungen einen grossen Fortschritt. Sie war richtungsweisend für die folgende ZeitGa naar eind8 und öffnete den Weg zu einer weiteren Beobachtung: ‘Subiectum’ und ‘Adiunctum’ sind bei nominalen Fügungen vertauschbar und ergeben jeweils ein eigenes Wort: es können ... verdoppelte Wörter also umgewant werden/ daß der Grund ... werde das beyfügige ... hinwieder aber ... das beyfügige werde der Grund ... im Worte/ und wird allemahl dadurch die Deutung verändert ...Ga naar eind9 Simon Stevin lieferte die Anregung auch für diesen Gedanken.Ga naar eind10 Er ist ein erneuter Beweis für den Reichtum der Muttersprache und wird nach der Methode der unvollständigen Krebswörter ausgeführt: dort waren es die Buchstaben, hier sind es die Bestandteile, die umgekehrt gelesen ein anderes Wort ergeben. Daran schliesst sich die Folgerung, dass die Muttersprache autonom ist. Sie schöpft aus sich selbst und kann die Vielfalt der Dinge ohne fremde Hilfe ausdrücken. Er ist eine geläufige Praxis Schottels, bei theoretischen Äusserungen seine Vorbilder zu verschweigen. Man wird eine Quellenangabe in diesen Ausführungen vergeblich suchen, aber weit über tausend Seiten später findet sich dann der versteckte Hinweis: ‘Simon Stevinus hat ... von den Fundamentis, modis componendi ... der Teutschen Sprache Anweisung gegeben/ maaßen der Leser in diesem Opere ... wird wahrnehmen können.’Ga naar eind11 Er hat ihn auch ausführlich bei der apologetischen Beurteilung herangezogen. Wenn bei einem konkreten Problem der Wettstreit mit anderen Sprachen auftritt, so liegt das daran, dass keine linguistische Betrachtungsweise, sondern das Dogma der einsilbigen Stammwörter zugrunde gelegt wird. Die Sprache, die die meisten ‘monosyllaba’ besitzt, ist allen anderen in der Zahl und der Qualität der Komposita überlegen. Derjenige, der das leugnet, handelt mehr aus Unkenntnis als aus Einsicht in die Muttersprache.Ga naar eind12 Die Argumentation ziehlt daher nicht gegen die modernen Sprachen, wie im unkritischen Purismus, sondern auf die antiken und vor allem das Griechische. In der Kunst der Doppelung ist das Deutsche nicht nur seine gleichwertige Schwester, sondern übertrifft es bei weitem.Ga naar eind13 Blume hat die Wortschöpfungen in seiner Arbeit über Zesen auf zwei Formkräfte zurückgeführt, die er schlagwortartig ‘Name für eine neue Sache’ und ‘Neuer Name für eine alte Sache’ nennt.Ga naar eind14 Die erste Form-kraft aber spielt beim Aufbau der Muttersprache im 17. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle. Es geht in den wenigsten Fällen darum, neue Sachen zu benennen, sondern alte erstmals in der Muttersprache, und das ist die Voraussetzung dafür, dass man ausländische Wörter zum Vorbild nehmen konnte. Blume selbst spricht bei Zesen von Lehnwörtern und Lautumsetzungen und nennt eine Fülle von fremdsprachigen Entsprechungen. Die beiden Formkräfte für Neologismen lassen sich also auf die zweite reduzieren, diese aber wird im Folgenden nach dem | |
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sachlichen Gesichtspunkt der Kunstwörter und dem ästhetischen der Epitheta unterschieden. | |
b. Die KunstwörterDer Wettstreit mit dem Griechischen findet eine Fortsetzung bei der Behandlung der Kunstwörter, dem wichtigsten Anwendungsbereich der Komposita. Auch hier leitet der Sprachpatriotismus die Urteile: Ten derden moeten wy segghen vande bequaemheyt deses taels tot de leering der Consten, waer af wy ... de volghende Weeghconst ... tot voorbeelt stellen ... want waer wildy spraken halen daermen duer segghen sal Euestaltwichtich, Rechthefwicht, Scheefdaellini ... sy en sijnder niet, de Natuer heeft daer toe aldereyghentlicxt het Duytsch veroirdent.Ga naar eind15 Schottel hat dieses Zitat Stevins auf deutsch paraphrasiert und kommentiert. Der Niederländer habe den Beweis dafür geliefert, dass man ‘mit Lust’ in den Wissenschaften ‘verständige teutsche Kunstwörter’ gebrauchen könne; und er habe die Griechen und Lateiner herausgefordert, die Überlegenheit des Deutschen anzuerkennen.Ga naar eind16 Die Übereinstimmung zwischen Schottel und Stevin in der Einschätzung der Kunstwörter ist grundsätzlicher Natur und findet keine Entsprechung in der Praxis. Schottel geht theoretisch und rezeptiv vor. Er ist auf diesem Gebiet schöpferisch kaum tätig gewesen, und sogar in der Sprachkunst stützt er sich zu einem grossen Teil auf das Vorhandene. Stevin hingegen kommt von der praktischen Sprachbildung bei der wissenschaftlichen Darstellung zur lobenden Beschreibung der Muttersprache. Die Forderung nach einer deutschen Gelehrten- und Fachsprache verbindet sich mit der Idee der Popularisierung des Wissens. Man wollte auch die in den Fremdsprachen Unbewanderten zu den Wissenschaften führen, denn keine Fakultät sei an eine Sprache gebunden und keine Sprache an eine bestimmte Disziplin.Ga naar eind17 Diese in beiden Ländern verbreitete Devise entspricht dem letzten Punkt von Harsdörffers Programm der Spracharbeit, in dem die Sammlung der Kunstwörter und die Übersetzung gefordert werden, damit sich auch der Laie bilden könne.Ga naar eind18 Es ist hier nicht der Ort über die Geschichte des muttersprachlichen Unterrichtes zu handeln. Costers ‘Duytsche Akademie’ und Stevins technische Schule bilden bedeutende Wegmarken. In ihnen sollten Sprachen, Philosophie und die Realfächer in der Landessprache gelehrt werden. In Deutschland kommt Ratke diesen Vorstellungen am nächsten, und es wurde bereits erwähnt, dass er die Anregungen dafür in den Niederlanden erhielt.Ga naar eind19 Im Frankfurter ‘Memorial’ fordert er die Einführung des Deutschen in der Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und Medizin, stellt aber zur Bedingung, dass zuvor die ‘Vocabula Artium ... erfunden’ werden müssten.Ga naar eind20 Sie sind die Voraussetzung für die pädagogischen Reformbestrebungen, und von dieser Aufgabe hing ihr | |
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Erfolg ab. Keine Disziplin kann ohne Regel und keine Regel ohne Fachwörter auskommen.Ga naar eind21 Auf der anderen Seite verhinderte das Scheitern die Einrichtung neuer Schulen: Daher es dan kommen/ als vor etzlichen Jahren aus vornehmer Fürsten und Herrn Vorschub und Veranlassen/ die Teutsche Sprache man hat auf Academien und in die Faculteten bringen wollen/ daß es zum besten vornemlich deshalber nicht gerahten wollen noch können/ weil man ... so fort Bücher wollen schreiben und darin allerhand hohe Wörter und ‘terminos artium’ verteutschen/ die schwerer und unbegreiflicher gewesen/ als das Ding selbst ... Und weil keine richtige ‘Fundamenta’ ... vorher gangen/ und man ... die höchstbenötigten Kunstwörter vorher nicht bekant gemacht/ sonderen ein jedweder/ nachdem jhm etwas eingefallen/ ‘terminos’ und ‘Composita’ gemacht/ daher es zu gemeinem Misbehagen ausgeschlagen.Ga naar eind22 Die Kunstwörter sind die Grundlage des Unterrichts in der Muttersprache. Die hier angesprochenen Schwierigkeiten betreffen ihre Erfindung und die Einführung eines allgemein gültigen und verbindlichen Bestandes. Noch heftiger als Schottel hat J.B. Schupp die deutschen Schulen getadelt und ihnen ein positives Gegenbild an die Seite gestellt. Man brauche nicht mehr, sondern bessere Anstalten. Zeiller berichtet darüber: Bey den Holländern seyn allenthalben so wolbestellte Schulen/ daß vnter den Handwerckern Leuthe gefunden werden/ die in der H. Schrifft/ Himmelslauff / vnd in den Historien so erfahren/ daß er/ Herr Schupp/ sich/ wann er mit jhnen geredt/ daß er gstudirt/ zu sagen geschämbt habe.Ga naar eind23 Die Feststellung Schupps wird bestätigt und ergänzt durch die zahlreichen Äusserungen über die Leistung der Niederländer in der Schaffung einer wissenschaftlichen Fachsprache. Es muss hier noch eine Erscheinung des barocken Büchermarktes erwähnt werden, die sich an das aufgeklärte Bürgertum richtete und die durch Anlage und Auflagenhöhe zur Popularisierung des Wissens beitrug. Gemeint sind jene voluminösen Kompilationen, wie sie z.B. von Zeiller und Harsdörffer zusammengetragen wurden und die sich als ‘Sendschreiben Von allerhand Politischen Historischen und anderen Sachen ...’ geben und so bezeichnende Titel tragen wie ‘Frauenzimmer-Gesprächspiele’ oder ‘Philosophische und Mathematische Erquickstunden.’Ga naar eind24 Mit einem Themenkatalog von enzyklopädischem Zuschnitt versuchen sie in der Form von ‘epistolae’, Gesprächen, Frage- und Antwortspielen ein Wissen zu verbreiten, das nicht nur die Sprachkunst im weitesten Sinne, sondern auch Soziologie, Naturwissenschaften, Mechanik, Astrologie und eine Fülle von anderen Gebieten umfasst. Es ist eine ähnliche Art der geselligen Unterweisung, wie sie später in moralischen | |
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Wochenzeitschriften und Almanachen geübt wurde. Die Hochachtung vor der Muttersprache und die dargebotenen Themen werfen notwendigerweise das Problem einer Fachsprache auf. Die Autoren tragen eine empirische Freude über die Erkenntnis der wissenschaftlichen Details zur Schau und auch darüber, komplizierte Sachverhalte im Deutschen ausdrücken zu können. Die Kunstwörter werden daher gerade in diesen Werken häufig diskutiert. Die wortreiche Behandlung des Problems deutscher Termini entspringt nicht nur der Überzeugung vom Wert der Muttersprache, sie ist auch ein Hinweis auf die Schwierigkeiten bei der Einführung. Das hat die Gegner der Kunstwörter bestärkt, die Frage zu stellen, ob es nicht zweckmässiger sei, die üblichen griechischen und lateinischen zu behalten, statt sie durch unbekannte deutsche zu ersetzen. Aber dieser Einwand richtet sich im Grunde nicht gegen die einheimischen Kunstwörter an sich, sondern gegen die willkürliche Bildung und die ‘monstra’.Ga naar eind25 Die Unsicherheit währte das ganze Jahrhundert, sie führte aber nicht zu einer vollständigen Ablehnung. Die ausländischen Termini waren ja auch mit dem Makel der Unbekanntheit behaftet und bereiteten nicht weniger Mühe: Also nun wird niemand vermeinen/ daß er straks/ augenbliklich alle die teutschen ‘Terminos’ wolle verstehen/ da er doch auf die Ausländischen Zeit und Fleiß ... muß wenden.Ga naar eind26 Es bedarf also einer Zeit der Einübung. Die Opposition wurde grund-sätzlich mit den Vorzügen der Muttersprache entkräftet. Die deutschen Doppelungen hatten im Unterschied zu Archaismen und Fremdwörtern, zu denen oft nur ein lexikalischer Zugang bestand, den Vorteil, dass sie ein Ding genau bezeichnen und auch von Ungelehrten verstanden und geprägt werden konnten. Der Deutsche hat eine natürliche Fähigkeit, Komposita hervorzubringen oder aufzunehmen. Stevin hat das am Beispiel von ‘corckmes’, Harsdörffer ihm folgend an ‘Leßbuch’ dargelegt. Selbst wenn man die Gegenstände nie gesehen habe, wisse man, was damit gemeint sei; und umgekehrt: wenn man den Namen nie gehört habe, so würde man ihn vom Gegenstand her richtig bilden. Niemand werde ‘mescorck’ sagen.Ga naar eind27 Schottel hat die Natürlichkeit der Komposita auf die Kunstwörter übertragen. Es fehle dem Deutschsprechenden nicht an Termini, sondern an der Kenntnis, sie richtig zu formen: Die unbeweglichsten HaubtGründe unserer Sprache ... befehlen uns also die Wörter zubilden/ und die Dinge außzudrükken: ist ... überdas ein Teutsches Gemüt also genaturet/ daß es solche teutsche Wörter leichtlich vernehmen/ und Kraft derer/ die vielerley Verenderungen des irdischen Wesens in seine Bildung gar vernemlich bringen kan.Ga naar eind28 An dieses Argument schliesst sich eine weitere Zurückweisung des Wi- | |
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derstandes gegen die Kunstwörter. Sie sind keine unbekannten Gebilde, sondern aus zwei bekannten Wörtern zusammengesetzt.Ga naar eind29 Trotz der behaupteten Vorteile deutscher Kunstwörter war man sich bewusst, dass die Ausmusterung der fremden und die Einführung der einheimischen auf Schwierigkeiten stossen mussten. Die Lösungsversuche, die man für eine Übergangszeit bis zur Konsolidierung vorschlug, sind in beiden Ländern dieselben. Zeillers Ausführungen geben wohl den ‘consensus omnium’ wieder: an die fremden Wörter, denen das Bürgerrecht erteilt werden soll, werden folgende Forderungen gestellt: sie müssen im Deutschen fehlen und sich ohne Umschreibungen nicht ausreden lassen; sie müssen allgemein bekannt sein, auch bei jenen, die fremder Sprachen unkundig sind; ihre Orthographie und Endungen sollen deutsch sein.Ga naar eind30 Das ist ein gemässigter Purismus, der allzu radikalen Reformeifer dämpfen soll. Ausschliesslich auf die Verständlichkeit sind die lexikalischen Hilfswege gerichtet: die Kunstwörter sollen in der Anfangszeit in einem Band gesammelt, einem Buch mit den lateinischen und griechischen Entsprechungen vorangestellt und auf dem Rand des Textes übersetzt oder kommentiert werden. Die zuletzt genannte Methode wird nur in Ausnahmefällen angewandt, aber die Beispiele sind aufschlussreich. Hier eines von Harsdörffer: ‘Mathematica’ oder die ‘Mathesis’ wird nach dem Niederländischen (‘Wisconst’) Weiskunst oder Weiskundigung geteutschet/ weil sie ihre gründliche Gewißheit Augenscheinlich weiset/ ihre Vrsachen unwidersprechlich beglaubet/ und ihre Kunstrichtige Warheit ungezweiffelt an das offenbare Liecht setzet.Ga naar eind31 Harsdörffer hat an anderer Stelle auf die Frage, ob es zulässig sei, neue Wörter zu gestalten, die lapidare Antwort gegeben: ‘Eine neue Sache muß einen neuen Namen habben.’Ga naar eind32 In diesem Beispiel beschreitet er den umgekehrten Weg. Er geht vom Namen aus und schliesst auf den Gegenstand. Das ist keine schöpferische, sondern rezeptive Wortbildung, für die der niederländischen Terminus als Ausgangspunkt dient. Mag die Erklärung der ‘Weiskunst’ dem besseren Verständnis dienen und somit vertretbar sein, so wird es völlig verwirrend beim ‘sichtender’, den Schottel von Stevin mit einer ausführlichen Erläuterung übernahm: Sichtender ‘Horizon’, (der Welt grösseste Ründe/ die das sichtbare Teihl von dem Unsichtbaren abscheidet. Stevin erkläret dieses Wort...: Onder veel Ronden, de in de Sternconst (Astrologia) bepalet (definiuntur) vverden, so isser een, heet allermerklickste, Scheidende oogensheinlick den oppersten halven VVerreltcloot van den ondersten, ende in ons ansien den Hemmel mit syn omtrek naeckende, t'vvelck volkommenlicxt schynt van de hoochste Plaets eender Contreien, ofte op een VVater, daer hem nergents Landt en vertoocht: Ende overmits ons Gesichte langs der Erden, ofte langs het VVater niet vorder en strecken en kan, dan tot diens Ronds vor- | |
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noemden Omtreck, ende darin eindet, so vvort dat Rond genoemt den Sichteinder, dat is, den einden van t'Gesicht.)Ga naar eind33 Neue Kunstwörter bedurften derart langatmiger Erklärungen und Rechtfertigungen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die gewählte Umständlichkeit als Kontrastfolie zur Präzision gedacht ist. Aus der Not der Unverständlichkeit macht man eine Tugend der Muttersprache, die sogar die weitläufigsten Umschreibungen in einem prägnanten Kompositum fassen kann. Auch die Schwierigkeit, Kunstwörter zu bilden, wurde beklagt. Es fehlte offenbar an sprachgewaltigen Geistern, die sie so zu formen vermochten, dass ‘sie nicht unverständlicher/ als die Lateinischen/ einem vorkommen.’Ga naar eind34 So konnte es immer wieder geschehen, dass ein Autor - wie Rist z.B. - am Herkömmlichen so lange festhalten will, bis jemand die fremden Termini durch angemessene deutsche ersetzt habe.Ga naar eind35 Den theoretisch behaupteten, natürlichen Vorzügen der deutschen Kunstwörter stehen in der Praxis die Schwierigkeiten der Bildung und des Verstehens gegenüber. Wenn es dennoch innerhalb kurzer Zeit zu beachtlichen Fortschritten kam, so deshalb, weil man für viele Wissenschaftsgebiete das niederländischen Schrifttum zur Hilfe nehmen konnte, in dem diese Probleme weitgehend gelöst worden waren. Die Holländer werden als Vorbild häufig genannt. ‘Noch täglichs pflegen’ sie die Übersetzung der Kunstwörter,Ga naar eind36 oder: In Dolmetschung ... [der] Kunst-Wörter sind uns die Klugen Niederländer rühmlich vorgegangen/ welchen wir auch den Fuß/ wo nicht nach Gebühr/ jedoch mit Begier ihnen zu folgen/ nachsetzen.Ga naar eind37 Die allgemeinen Lobesbezeugungen konkretisieren sich in der Person Simon Stevins, dessen gelehrte Arbeiten in der Muttersprache auch in Deutschland einen grossen Anteil an der Verbreitung der Wissenschaften hatten: Simon Stevinus hat bey der Teutschen Sprache nicht wenig gethan/ in dem er darin ... so fast schwere und mit Lateinischen Worten unbeschreibliche Sachen heraus gegeben...Ga naar eind38 Und er wurde zum direkt nachgeahmten Vorbild: Simon Stevin hat ... die Kunstwörter in das Niderländische gebracht/ welchen wir hierinnen nachgeahmt/ und anderen gerne den Ruhm überlassen wollen/ solche vernemlicher und nachdrücklicher auszureden/ oder diese zuverbessern/ welche der beliebte Gebrauch gültig machen kann.Ga naar eind39 Es wäre eine für die Sprachgeschichte dankbare Aufgabe, aus dem Bestand der deutschen Kunstwörter des 17. Jahrhunderts den Anteil der Niederländer herauszuschälen. Sie lässt sich aber nur mit Hilfe der | |
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schwer erreichbaren Fachliteratur lösen. Statt dessen soll hier die Frage gestellt werden, weshalb man ihnen in so starkem Masse folgte. Das umfangreiche Schrifttum über den Festungsbau z.B. richtete sich an das überwiegend sprachunkundige Publikum der Baumeister. Rists Forderung, auch die Termini der Festungen und Schanzen zu verdeutschen,Ga naar eind40 entspringt neben puristischen auch existentiellen Motiven. Harsdörffer leitet sein Kapitel von der Baukunst mit der Frage ein, ‘wie die frembden Kunstwörter in dem Kriegsbau ... zu teutschen’, und er will den Beweis antreten, ‘daß wir alles ja so wol/ als die Niederländer teutschen können...’Ga naar eind41 Es folgt eine Liste von knapp einem halben Hundert Kunstwörtern mit französischen, lateinischen und niederländischen Entsprechungen, und nach diesen ist die Mehrzahl der deutschen geprägt. Dasselbe Bildungsgesetz der Komposita und die verwandte Sprachgestalt erlaubten eine mühelose Übernahme. Lehnübersetzungen sind in der Minderzahl, einfache Lautumsetzungen häufig, und in einigen Fällen stimmen der deutsche und der holländische Terminus völlig überein.Ga naar eind42 Ähnliches lässt sich an den Kunstwörtern anderer Fachgebiete feststellen, aber das soll nicht heissen, dass die Rollenverteilung von Gebenden und Nehmenden im historischen Verlauf so eindeutig ist, wie sie sich im 17. Jahrhundert darbietet. Dem oben beschriebenen Kreislauf der Argumente entspricht bei den Kunstwörtern ein Austausch von konkreten Errungenschaften. Das zeigt die grammatische Terminologie, die die grösste Aufmerksamkeit der Zeitgenossen und der germanistischen Forschung gefunden hat.Ga naar eind43 In den Niederlanden hat Spiegel in der Twespraack Pionierarbeit geleistet. Er bekennt, dass er sein Werk verfasst habe te hulp nemende eenen ghedruckten Donaat tot Straasburg/ in Overlands/ van wóórd tot wóórd verduitscht zynde ende door den welgheleerden Henricus Glareanus lest ghezuiverd/ uyt het welcke wy veel ‘vocabula artis’, hier verduitscht zynde ontleent hebben/ op datmen niet en mene dat wy na ons eyghen hóófd vermetelyck die al ghestelt hebben/ óft óóck dat wy iemand van zyn ere willen beróven...Ga naar eind44 Vergleicht man die grammatische Terminologie der Twe-spraack mit der im Donatus, dann zeigen sich tatsächlich weitgehende Übereinstimmungen, z.B. bei der Deklination und den Wortbezeichnungen.Ga naar eind45 Spiegels Wirkung auf spätere Grammatiker war gross, wie sich u.a. an den Werken von van Heule erkennen lässt, und er hat direkt oder indirekt auch deutsche Autoren beeinflusst. Bei Ratke, von dem dann wieder Gueintz und Schottel Anregungen empfingen, hat Ising holländische Spuren festgestellt,Ga naar eind46 ohne jedoch die entscheidende Folgerung daraus zu ziehen. Die Mittlerstellung der Niederlande erfüllt sich nicht allein in bezug auf das Ausland, sie nimmt auch die Funktion eines Bindegliedes für die sprachlichen Leistungen in Deutschland vom 16. zum 17. Jahrhundert | |
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ein. Auch an diesem Punkt bestätigt sich die Feststellung von der Diskontinuität in der deutschen Spracharbeit.Ga naar eind47 Die Einführung deutscher Kunstwörter ist eine Aufgabe der Puristen, die alle Wissenschaftsgebiete erfasst. Schottel hat in dem Autorenver-zeichnis ‘Von Teutschlands und Teutschen Scribenten’Ga naar eind48 nicht nur Werke der Literatur, Rhetorik und Logik besprochen, sondern auch Fachbücher über Bergwerke, Vogelstellen, Medizin, Mathematik und Architektur. Eine Rezension des Inhalts war nicht seine Absicht: Der Leser wird auch wahrnehmen/ daß über etzliche Authores und derer Schriften meine unvorgreifliche Meynung/ so viel sonderlich die Teutsche Sprache betrift/ beygefügt/ dadurch eins anderen genauerem Uhrtheile ... nichts benommen wird; weil von der Teutschen Sprache Woll- und übelwesen ... zuhandelen der Zwek gewesen/ so hat die Beuhrtheilung ofters unvergönnet nicht seyn können;Ga naar eind49 Die Wertung gilt nicht dem Gehalt, sondern der Sprache. Die geglückte oder schlechte Verwendung der Kunstwörter entscheidet über das Prädikat, und damit wendet sich Schottel vom rein wissenschaftlichen Interesse des präzisen Ausdrucks zur Qualität der sprachlichen Gestaltung. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Harsdörffer, wenn er fordert, ‘daß der Poet in jeder Kunst und Wissenschaft die eigentlichen/ und der Sachen gemässe Wörter beobachten muß.’Ga naar eind50 Der gelehrte Dichter ist nicht nur Wissensvermittler, sondern auch Sprachwahrer und -gestalter. | |
c. Die dithyrambischen KompositaDas ist nicht mehr weit entfernt von den Vorschriften in Poetiken über die Neubildung von Wörtern, für die Opitz' Satz richtungsweisend war: Newe wörter ... zue erdencken/ ist Poeten nicht allein erlaubet/ sondern macht auch den getichten... eine sonderliche anmutigkeit.Ga naar eind51 Obwohl auch in der Dichtung das ausgesonderte Wortmaterial ersetzt werden musste, ist es in erster Linie kein puristisches Motiv, das die Neubildungen hervorbrachte, sondern das Ideal der ‘elegantia’. Im Kompositum sah man vor allem eine sprachlich-rhetorische Leistung, der es nicht auf wissenschaftliche Prägnanz und Genauigkeit, sondern auf poetische Zier und ‘wunderbare Deutungen’ ankommt.Ga naar eind52 Den letztgenannten Aspekt hat Schottel als die Verknüpfung verschiedener Vorstellungs-bereiche beschrieben. ‘Traurlust’, ‘Traurfreude’, ‘Froböser’ und Stevins ‘Wasserfeuer’ nennt er mit umständlichen Erklärungen als Beispiele.Ga naar eind53 Es liegt auf der Hand, dass sie dem Geist rationaler Dichtung widersprechen, für die als Maßstab gilt, etwas nicht anders zu beschreiben als es ist, und die um der Genauigkeit willen tautologische Fügungen wie weisse Milch und feuchten Wein als nachahmenswert empfiehlt.Ga naar eind54 | |
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Die Epitheta waren der Ausweis einer Dichtung, die es nicht auf den Gehalt, sondern auf die äussere Wirkung abgesehen hatte, und sie waren zugleich ein Beweis für die Erfindungsgabe des Dichters. Zwar behauptet auch Titz, dass sie nicht nur dazu dienen, ‘die Rede zu zieren/ sondern auch ... ein ding eigentlicher auszudrücken’, in Wirklichkeit aber hängt er dem Ideal der ‘elegantia’ an: Gleich wie ein köstlicher Edelstein einen Ring; also zieren die ‘Epitheta’ die Poetische Rede: vnd wird aus rechtem gebrauch derselben ein guter Poete nicht minder/ als aus den Klawen ein Lew/ erkandt.Ga naar eind55 Titz zählt zu den Epitheta die Adjektive als die eigentlichen und im Anschluss an Scaliger die ‘Quasi Epitheta’, zu denen er ‘Menschenwürger’ für Tod und ‘Lewenzwinger’ für Herkules rechnet. Die Komposita dienen also zur Bildung von Epitheta und mit deren Herrschaft gewinnen auch sie an Bedeutung für die Dichtung. Mit der Vorliebe für das Epitheton verbindet sich ein Stilmerkmal, das der lateinischen Dichtung entnommen wurde: die Anrede und besonders die ausgeweitete Anrede. Beide zusammen angewandt ergeben die Häufung dithyrambischer Komposita. Zunächst sei ein Beispiel für die ausgeweitete Anrede zitiert, und zwar Harsdörffers Übersetzung eines Gedichtes van der Veens, in dem der Krieg angesprochen wird: Vernichter im Getreid/
Verschlinger unsers Viehs/ Bannfieber böser Leut'/
O Anstand mit dem Pflug! O Schänder aller Bauren!
O Meister aller Dieb! Ein Schutzherr aller Lauren.
Der Huren Vattersmann/ des Todschlags Schild und Schutz/Ga naar eind56
Ähnliche Gedichte findet man allenthalben. Auf die Weise können die antiken Götter oder Christus, die Künste oder Jahreszeiten angerufen und das Lob von Personen gesungen werden. Ein Preisgedicht auf Anna Maria Schuurman verbindet Anrede mit Komposita: Kunst-Orakel, Schmuck der Welt,
Weißheits-Fackel, Tugend-Sonne,
Zeiten-Wunder, Musen-Wonne,
Gottes-Schrein und Gaben-Zelt.Ga naar eind57
Conrady hat die Form der wiederholten Anrede analysiert und folgende Eigenschaften hervorgehoben: sie dient der Verbreitung des Ruhms, indem sie mit der Anrede die Wirkungen und Tätigkeiten des Angesprochenen sichtbar macht, und dem ‘movere’, indem sie die Anrufung nachdrücklicher gestaltet.Ga naar eind58 Sie besitzt jene zweifache Beweglichkeit, die Stevin und Schottel der Muttersprache zuerkannten. Die Anrede wirkt auf den Leser durch das Vermögen, sich dem Beschriebenen anzupassen, denn es wird nicht mit einem Wort genannt, sondern von vielen Seiten her beleuchtet. Zur Wirkung trägt die angemessene formale Gestaltung | |
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bei, die zu einem artistischen Spiel von Sprache und Metrum verfeinert werden kann. Das berühmteste Beispiel für die Verbindung von Komposita und ausgeweiteter Anrede stammt aus der Bacchus-Hymne von Heinsius: Nachtlooper, heupe-soon, hooch-schreeuwer, groote-springer,
Goet-gever, Minne-vrient, Hooft-breker, Leeuwen-dwinger,
Hert-vanger, Herssen-dief, Tong-binder, Schudde-bol,
Geest-roerder, Waggel-voet, Straet-kruysser, Altijt-vol.Ga naar eind59
Die Beschreibung des Gottes und seiner Wirkung stehen ungeordnet nebeneinander. Die Verse finden sich am Ende der Bacchus-Hymne als Höhepunkt einer langen Anrufung. Nachdem der Autor Leben und Taten erzählt hat, wird er selbst vom Weingott heimgesucht. Der ‘bacchische Schreck’Ga naar eind60 entlädt sich in einer Fülle von Ausrufen, die wie eine Zusammenfassung des ganzen Hymnus erscheinen.Ga naar eind61 Vergleicht man sie mit der oben zitierten Anrufung des Kriegsgottes von Harsdörffer-van der Veen, dann bemerkt man sofort die intensivere Bewegtheit. Statt der schwerfälligen Genitivfügungen nutzt Heinsius die Komposita zu einem vermehrten und stärkeren Preis. Und im Unterschied zum Lobgedicht auf A.M. Schuurman verwendet er nicht ausschliesslich die Bildung von Nomen+ Nomen, sondern darüber hinaus noch Nomen + Verbalnomen und Adverb+ Adjektiv. Dadurch wird der Eindruck der Einförmigkeit vermieden. Zur Darstellung der heftigen Gemütsbewegung trägt nicht zuletzt die metrische Gestaltung bei. Es ist wohl das einzige Mal, dass Heinsius in seinen niederländischen Gedichten das Schema der strengen Alternation verlässt und antibacchische Wörter mit trochäischen in einem Vers mischt.Ga naar eind62 Das Ziel der kühnen Wortfindungen und der metrischen Variation ist die angemessene Abbildung des Weingottes. Scriverius hat in seinen Anmerkungen ausdrücklich darauf hingewiesen. Er verzichte auf eine Erklärung der niederländischen Epitheta, da sie leicht zu verstehen seien, da sie die Kraft und Natur des Weines deutlich genug darstellten: Dese Nederlantsche namen gaen wy meest voorby, om datse wel te verstaen sijn; sonderlinge om datse de kracht ende natuer van de wijn naecktelick uytdrucken.Ga naar eind63 Es ist ein leichtes Spiel, diese dithyrambischen Komposita als Produkt der Gelahrtheit oder tüftelnden Verstandesarbeit abzuwerten.Ga naar eind64 Wo es um ‘elegantia’ geht, da legt man den Maßstab des originären Sprachgenies an. Der Anachronismus solcher Urteile zeigt sich in der zeitgenössischen Aufnahme der Bacchus-Anrufung von Heinsius. Die Bewunderer sahen in ihr vor allem eine sprachliche Leistung, die Kritiker urteilen vom klassizistischen Standpunkt aus. Opitz hatte die Verse ins Deutsche gebracht und seine Übersetzung mit der niederländischen Vorlage als Paradigma in die Poeterey aufge- | |
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nommen. Von hier aus erreichten sie wohl die grösste Verbreitung und fanden Eingang in die poetischen Schatzkammern und Regelbücher.Ga naar eind65 Schottels Urteil über die deutsche Doppelungskunst, ‘Daniel Heinsius hat hierin/ was sonderlich die Poetische Art betrift/ gute Meisterstükke bewiesen,’Ga naar eind66 zeugt von der allgemeinen Hochschätzung. Heinsius spielt bei den Epitheta eine ähnliche Rolle wie Stevin bei den Kunstwörtern. Er hat einen überzeugenden Beweis geliefert für die Beweglichkeit der deutschen Sprache in der zweifachen Bedeutung als Überzeugungskraft und Ausdrucksfähigkeit. Man bewunderte die Zier und die Virtuosität der Komposita. Aber hierin liegt auch schon der Keim für die Kritik, die sich gegen das Neue und Ungewohnte,Ga naar eind67 gegen die Häufung und wahllose Verwendung dithyrambischer Komposita richtete. Wohlüberlegte Ausgeglichenheit war für klassizistische Dichter das oberste Gebot. Einen späten Nachhall dieser Haltung findet man bei Morhof: In allen Dingen muß Masse gehalten werden. Man muß allezeit auff den Gebrauch/ und die Eigenschafft der Sprache sehen.Ga naar eind68 Die Anweisungen zur Bildung von zusammengesetzten Epitheta werden meist von einem Zusatz, ‘wenn es mässig geschiehet’,Ga naar eind69 begleitet. Die Zier eines Gedichtes sah man in den Epitheta, aber nur dann, wenn sie sparsam gebraucht wurden. Die ausführlichste Kritik stammt von Buchner, der trotz der Hochachtung für Heinsius seine literarische Eigenständigkeit bewahrte.Ga naar eind70 Er beweist eine gründliche Einsicht in die metrische und sprachliche Form der dithyrambischen Komposita und stellt sie in den Zusammenhang der Tradition. Heinsius habe der ‘Griechischen Hymnus-schreiber Art nach kommen wollen’, denn seine Verse seien so beschaffen wie die ‘Dithyrambischen Gedichte/ bey den Griechen/ die dem Bachus zu ehren gesungen worden...’ Aber er schliesst das Urteil an, dass trotz der Autorität der antiken Autoren, ‘dieses nicht stracks zur Nachfolge zuziehen/ und überall ohn Unterscheid nach zu thun ist.’ Als Zeugen führt er du Bartas an, der diese Art des Dichtens selbst geübt, später aber als Fehler eingesehen und aufgegeben habe. Buchner erkennt die Absicht von Heinsius: da Bacchus ‘vor einem Gott des Rasens und der Trunckenheit gehalten worden/ hat er dasselbige auch in der Rede und Vers ... ausdrücken wollen.’ Er hat dieses Argument wahrscheinlich den Anmerkungen von Scriverius entnommen, aber er nutzt es nicht zur Verteidigung der dithyrambischen Komposita. Der Vers werde ‘Schwülstig und vollbrätig’, wenn man solche Wörter häufe, die in gewöhnlicher Rede nicht üblich sind. Buchners Kritik zielt auf das Gewählte und Unnatürliche dieser Verse und auf ihre manieristische Überladung,Ga naar eind71 und es hat den Anschein, dass sie auch durch den Missbrauch mitveranlasst wurde. Parodien lassen darauf schliessen, dass die dithyrambischen Komposita bis zum Überdruss verwendet worden waren. Dafür seien zwei Beispiele von Homburg und Stieler genannt: | |
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Stieler in einem Gedicht auf ‘Das mißtrauliche Alter’: Ungewitter/ Teufels-Braut/
Zahn-bruch/ Neid der guten Tage/
Schatten-körper/ Runzel-haut/
Bein-hauß/ Zorn-faß/ Todten-klage.Ga naar eind73
Die Komik beruht darauf, dass das Stilmittel aus seinem Zusammenhang gelöst wird. Die ausgeweitete Anrede richtet sich nicht mehr an erhabene, sondern lächerliche Adressaten, und somit erzeugen die Epitheta nicht mehr Lob, sondern Spott. Ob diese Beispiele auf Heinsius und Opitz zurückgehen, lässt sich schwer entscheiden. Sie gelten wohl mehr der ausgeweiteten Anrede allgemein als einem speziellen Vorbild. Anders verhält es sich mit Gedichten, die durch ihre Form oder durch einen direkten Bezug mit den Versen aus dem Lobgesang auf Bacchus verbunden sind. Assmann von Abschatz leitet sein Buch der Grabschriften mit folgendem Gedicht ein: Wind-Fänger/ Steige-Dach/ Teich-Meßer/
Enten-Fechter/
Lufft-Springer/ Wage-Hals; Grund-Fischer/ Flutt-Verächter/
Stein-Träger/ Büchsen-Hold/
Nacht-Wächter/ Bettler-Feind/
Zeit-Kürtzer/ Stunden-Dieb/ Lust-macher/
Gäste-Freund/
Bring-wieder/ Trage-nach/ Post-Renner/ Such-verlohren/
.......
Thür-Oeffner/ Sperre-Thor/ Feld-Mauser/
Schlüssel-Held.
Wild-Störer/ Katzen-Mord/ Wett-Lauffer/ Spring ins Feld/
Diß war mein wahrer Ruhm ...Ga naar eind74
Die Anklänge an Heinsius-Opitz sind leicht fassbar. Assmann wendet denselben regelmässigen Wechsel von antibacchischen und trochäischen Worten an, er benutzt die beiden Kompositumsarten und arrangiert sie in derselben Reihenfolge. Er hat keinen Zweifel darüber gelassen, wie das Gedicht zu verstehen ist: die Überschrift lautet ‘Schertz-Grabschrifft’, der Verstorbene ist der Hund Bellhumor, der im Garten begraben wurde. Worin besteht das parodistische Verfahren? Der Autor unterschiebt einem ursprünglich erhabenen Stilmittel einen banalen Gegenstand. Die Prägnanz des Vierzeilers bei Heinsius wird aufgehoben durch eine übertreibende Anzahl von Epitheta, die ins Häusliche und Kleinliche verkehrt werden. Und schliesslich erscheinen sie in einem andern Funktionszusammenhang: es handelt sich nicht mehr um eine Anrufung, sondern um die Selbstaussage eines Hundes, der von den Menschen verkannt gestorben ist.Ga naar eind75 Assmann war sich wahrscheinlich nicht bewusst, dass seine Parodie | |
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einen thematisch vergleichbaren Vorläufer hatte in dem Band Etlike korte und Verstendlike Kling-Gedichte (um 1650) von Anton Rulmann.Ga naar eind76 Einem Zitat aus der Poeterey und der Übersetzung der Verse von Heinsius folgt die Anrufung des Hundes Dencks: Na deßen Anleydinge vnd Exempel/ iß van vsem Hunde Dencks/ vp volgende Mate geschreven/ vnd staen demsülven sine Tonahmen wohl so fin an/ als jenne dem Götzen Bachus/ sind ock wol so wahr. Nachtschrier/ Veelfreter/ Vüledriter/
TevenRüter/ Hakkenkniper/ Sackbiter/
Vmmelöper/ Beddetramper/ Müsefenger/
Knakengnager/ Zegenverfolger/ Varckendwenger/
Burenhater/ Hörnerjager/ Balckenstiger/
Kattenverdriver/ Stertruker/ Wandtmiger/
Tellerlicker/ Lipenstriker/ Eyeruthsüper/
Flegenslüecker/ Gnarpeter / Kulenkrüper...
Durch die Voranstellung des Zitates aus der Poeterey wird die Disharmonie von Parodie und Parodiertem sogleich sichtbar. Da zeigt sich zunächst nur eine platte, vordergründige Komik, die ausser dem Gegenstand nichts mit Assmanns pointiertem Witz gemeinsam hat. Der Dialekt und die oft derben Epitheta scheinen das zu bestätigen. Aber die formale Gestaltung enthält Feinheiten, die das Ganze zu einer kunstvollen Parodie werden lassen. Als Kennzeichen der Verse von Heinsius-Opitz wurden der regelmässige Wechsel antibacchischer und trochäischer Wörter und die verschiedenen Kompositumsarten festgestellt. Beide Merkmale hat Rulmann geändert: er reduziert die Komposita auf die Bildung von Nomen + Verbalnomen und erzeugt Monotonie; er verändert das Metrum so, dass keine Stelle des Verses das ganze Gedicht hindurch dieselbe Qualität hat, und er wirkt damit ‘dithyrambischer’. Aus dem Gegensatz von Vereinheitlichung und Variation entspringt der Reiz seiner Parodie. Es wäre zu vordergründig, wollte man die verschiedenartige Aufnahme der Bacchus-Anrufung mit dem Verlauf von Heinsius' Reputation in Deutschland erklären, obwohl er mit ihr übereinstimmt. Die Bewunderung für die dithyrambischen Komposita fällt in die erste Hälfte des Jahrhunderts, als es noch um den Nachweis ging, dass die deutsche Poesie der ‘elegantia’ fähig war. Die Kritiken und Parodien entstammen in der Mehrzahl einer späteren Zeit. Ihre Autoren hatten einen Überblick über die Stilerscheinungen der vorangegangenen Jahrzehnte. Sie gehen alle von derselben Grundlage aus und wenden sich gegen die Häufung der Epitheta und die manieristisch gesteigerte ‘elegantia’, für die Buchner und Morhof schon die Bezeichnung Schwulst wählen. Bestimmt man die Parodie als literarische Erscheinung einer späten Zeit und ‘als Mittel zur Rückgewinnung der poetischen Freiheit,’Ga naar eind77 dann trifft das genau diesen Sachverhalt. Der Beweggrund für die kritische Beurteilung und | |
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Parodierung der dithyrambischen Komposita war zweifellos die Strapazierung einer kanonisch gewordenen Stilfigur und der Wille, das Festgeformte zu überwinden. Das lässt sich bei J.C. Göring bestätigen, dessen Gedichte 1660 in Hamburg erschienen. Im Vorwort heisst es: Die Erfindungen und Worte beträffend/ muß ich und will es zwahr gerne gestehen/ daß sie gahr nicht künstlich und zierlich/ sondern gantz einfältig...Ga naar eind78 Der Autor nimmt das Urteil seiner Kritiker vorweg. Die ‘Blutsaugenden Schrifft-Iegel’ und ‘Momus-Zungen’ würden ihn einen Verß-Verderber/ Karmen-Schmid/ Wort-Peiniger/ Sylben-Kräncker/ ... und was dergleichen Ehren- und Edel (ich hätte schier gesagt Esels-) Titul mehr ... nennen.Ga naar eind79 Das ist ein deutlicher Anklang an die Verse von Heinsius. Göring stellt sich bewusst gegen die gängige Poesie, und er sieht eines ihrer Kennzeichen in der Häufung dithyrambischer Komposita. Das Urteil seiner Kritiker entwertet er, in dem er es parodiert und in die Zierlichkeit kleidet, die er selbst ablehnt. | |
E Die OrthographieSchottels Bestimmung der Orthographie als einer Erforschung der Letteren oder Buchstaben/ wie nemlich dieselbige/ so wol eintzel/ als in Wörteren zusammen gesetzt/ recht nach gründlicher Eigenschaft der Teutschen Sprache zuschreibenGa naar eind1 nennt in allgemeiner Formulierung die Aufgaben einer Reform. Sie lässt weder etwas ahnen von den Kontroversen um die Orthographie, noch von der Bedeutung, die man ihr zumass, und die mit der Feststellung, dass es sich um einen traditionellen Bestandteil der Grammatik handelt, nicht ausgeschöpft ist. Die Orthographie bildet in Deutschland und Holland einen wichtigen Bereich der puristischen Spracharbeit. Rist sieht es als eine direkte Folge der Fremdwörterei an, dass ‘man das schöne reine Teutsch so unformlich schreibet.’Ga naar eind2 Noch deutlicher hat Schottel die Orthographie in die sprachreinigenden Bestrebungen eingereiht, indem er sie mit seiner Sprachauffassung verbindet. Die deutsche Hauptsprache sei ‘mit der Natur selbst künstlich verbunden und verschwestert’ und sie müsse daher ‘nach solchen jhren Eigenschaften rein/ klar/ unvermengt/ und deutlich... geschrieben/gelesen und geredet werden.’Ga naar eind3 Das Bild der Schrift achtete man ebenso bedeutsam wie den Laut der Rede, wobei der Rechtschreibung insofern der Vorrang gebührt, als die gelehrten Dichter das gesprochene Wort geringer achteten als das geschriebene. Unvollkommenheiten erkannten sie zuerst im Schriftbild. So ist es zu verstehen, dass man in der Orthographie die Grundlage für den richtigen | |
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Sprachgebrauch sahGa naar eind4 und das Fundament für das ganze Sprachgebäude.Ga naar eind5 Die Dichter hatten eine besondere Aufgabe für die korrekte Rechtschreibung. Plempius hat in seiner Orthographia Belgica deutlich ausgesprochen, dass es in ihrer Verantwortung liege, die Schreibrichtigkeit gegen den Missbrauch zu schützen: Monendum quoquè, plus esse poetis, & rhythmographis opportunitatis ad tuendam orthographiam, quàm prosaicis scriptoribus, qui vix audent committere, quod vulgari scribendi modo adversetur.Ga naar eind6 Harsdörffer, der Plemps Schrift gut kannte, hat diese Mahnung übernommen und mit einem Hinweis auf die gestaltete Rede erläutert: Ein anders ist Reden/ ein anders Wolreden/ ein anders Schreiben/ ein anders Rechtschreiben.Ga naar eind7 In den Niederlanden und Deutschland spielt das Problem der Schreibrichtigkeit eine gleich wichtige Rolle beim Aufbau der Sprache. Obwohl sie im Brennpunkt der Bemühungen steht, bleibt doch der Weg unklar, auf dem man zu einer unzweifelhaften Orthographie gelangt. Als Folge stellen sich heftige Auseinandersetzungen in beiden Ländern ein. Darauf nimmt Harsdörffer ausdrücklich Bezug, wenn er schreibt: Der gleichen unterschiedliche Meinungen von der Schreibrichtigkeit schwebet auch in der Niederländischen Sprache unter den Gelehrten...Ga naar eind8 Es soll hier kein System der Orthographie des frühen 17. Jahrhunderts entworfen werden. Und auch ein Vergleich der einzelnen Stationen und Ansichten in den jeweiligen Entwicklungen ist bei der Fülle der Lehrbücher weder möglich noch wünschenswert, da er zu keinem brauchbaren Ergebnis führt. Statt dessen werden die wechselseitigen Bezüge und die verschiedenen Formkräfte dargestellt, die in beiden Ländern am stärksten gewirkt haben. Anders als bei der Stammworten und den Komposita werden bei der Rechtschreibung die Gemeinsamkeiten durch unterschiedliche Auffassungen und Kontroversen verdrängt. Wie auf dem gesamten Gebiet der Spracharbeit hatten die Niederländer auch hier die Kontinuität vom 16. zum 17. Jahrhundert gewahrt und gegenüber Deutschland einen Vorsprung, sowohl was die Zeit als was auch den Fortschritt in der Sache betrifft. Hermann Conring hat das in einem Brief an Schottel ausgedrückt, den dieser seiner Ausführlichen Arbeit voranstellte.: Tu demun nos omnes rectè scribere, (quae laus ὀρθογραφίας me quidem judice, fuit huc usque unius Hollandiae)... docuisti.Ga naar eind9 Als Kritik wäre anzuführen, dass Conring weder die orthograpischen Leistungen deutscher Autoren berücksichtigt, noch die unterschiedlichen | |
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Prinzipien, die in beiden Ländern vorherrschten, nennt. Trotz dieser Einschränkungen hat die Äusserung ihren Wert als programmatische Feststellung; sie deutet im Vergleich die Gemeinsamkeiten von deutschen und niederländischen Aufgaben an und hebt den Vorsprung der niederländischen Reformer und ihren Vorbildcharakter noch 1663 hervor. Man kann daraus folgern, dass die Welle der orthographischen Publikationen während des 17. Jahrhunderts in Deutschland auch durch die holländischen beeinflusst wurde.Ga naar eind10 Zur Kenntnis der theoretischen Erörterung und praktischen Anwendung der Rechtschreibung in den Niederlanden haben kulturhistorische Faktoren wie Reisen und Buchverkehr beigetragen. Wenn die Lehrbücher auch nicht namentlich erwähnt werden und paradoxerweise eines der unbedeutendsten - nähmlich die Schrift von Plempius - in Deutschland eine Rolle spielte, so darf man dennoch annehmen, dass sie bekannt waren. Von der Nederdvitsche Orthographie des Pontus de Heuiter weiss man, dass die im ersten Jahr nach ihrem Erscheinen in mehreren Exemplaren nach Deutschland verkauft wurde.Ga naar eind11 Das Interesse an der niederländischen Orthographie wurde nicht zuletzt durch dieselben puristischen Zielsetzungen geweckt. Das Problem der ‘ausländischen’ Buchstaben ph, th, x, y wurde in beiden Ländern gleichartig diskutiert und gelöst. Sie sollten durch einheimische ersetzt werden, allerdings mit dem Zugeständnis des Fremdwortkonsonantismus, das ihre Verwendung in eingebürgerten Fremdwörtern zulässt. In diesem Punkte stimmt man auch weitgehend im Gebrauch von c überein, dem wohl am meisten diskutierten Buchstaben. Hier stellt sich die puristische Frage, ob er deutschen Ursprungs ist, und die phonetische nach der richtigen Aussprache. Die Antworten, die neben c auch ch, sch, ck, s und z einbeziehen, werfen ein bezeichnendes Licht auf die unterschiedlichen Verfahrensweisen deutscher und niederländischer Reformer. Die Tendenz, c zu verwerfen, ist weitverbreitet. Eine Ausnahme wird allgemein bei ch, sch und den Fremwörtern gemacht. Zesen - und mit ihm teilweise Klaj - geht darüber hinaus. Er will ck durch kk, sch durch s, ch durch gh ersetzen, wobei er von niederländischen Vorbildern ausgeht.Ga naar eind12 Aber diese Beispiele sind nicht repräsentativ. Offensichtlich hatte die Ausmerzung zur Unsicherkeit geführt, denn eine einflussreiche Strömung mahnt zur Mässigung. Die entschiedenste Gegenposition nimmt Buchner ein: ‘Errant, qui c Germanicam negant literam.’Ga naar eind13 Er stellt die bekannte Gleichung von Alter und Echtheit auf und will c behalten, ‘weil es in den allerältesten Schriften befindlich.’Ga naar eind14 Ähnlich argumentiert Schottel. Auch er ist gegen die radikale Verwerfung von c, da es in ‘alten ehrliche Teutsche Wörter’ vorkomme, die sonst ‘jhre hergebrachte bekannte Gestalt’ verlören.Ga naar eind15 Mit dem Nachweis, dass c ein eingebürgerter, deutscher Buchstabe sei, ist nur eine der beiden Fragen gelöst. Das Problem, ob er auf verschiedene Weise ausgesprochen werden darf, stellt sich nicht. Es ist im Gegenteil wahrscheinlich, dass Titz mit seiner Ansicht nicht alleine stand, dass | |
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in allen Sprachen offt Ein Wort unterschiedliche Sachen bedeuten kan: also kan es auch gahr wol geschehen/ daß Ein Buchstabe mehr als einerley Laut habe.Ga naar eind16 Das aber verstösst gegen den von der Mehrzahl der niederländischen Reformer praktizierten Grundsatz, dass ein Buchstabe nur einen Klang vertreten dürfe.Ga naar eind17 Van der Schuere hat als einer der ersten auf den inkonsequenten und willkürlichen Gebrauch von c hingewiesen.Ga naar eind18 Auch er erkennt, dass es sich um eine alte Gewohnheit handelt, die aber nicht bewahrt, sondern verbessert werden sollte. Wenn c drei Klänge hat und diese auch durch andere Buchstaben ausgedrückt werden können, dann muss es so viel wie möglich gemieden werden. Auch Ampzing verwirft c im Anlaut und setzt statt dessen k oder z.Ga naar eind19 Unumstritten ist die Aussprache von c als k vor a, e, o; vor palatalen Vokalen jedoch ergeben sich Schwierigkeiten über die Qualität. Mit vielen Zitaten aus griechischen und lateinischen Grammatikern - u.a. Erasmus und Lipsius - legt er dar, dass c an diesen Positionen ‘soet-scherp’ gesprochen werden müsse, und er verweist immer wieder auf das hochdeutsche z [ts], das die richtige Aussprache erhalten habe. Die Behandlung von c ist ein erster Hinweis auf die verschiedenen Kräfte, die bei der Reform wirkten: in Deutschland geht man auf alte Schriften zurück und hält an der Tradition fest, in den Niederlanden ermittelt man die Schreibrichtigkeit an Hand der Aussprache. Die Ähnlichkeit der Sprachen ist die Voraussetzung für einen ständigen Vergleich. Man verweist auf die anderen Verhältnisse, um die eigene Position zu klären und ihre Eigentümlichkeiten festzustellen. Dazu seien einige Beispiele aus Zesens Spraachübung genannt. Der Autor selbst gab sich als Experte und war der Meinung, dass das Niederländische oft falsch geschrieben werde. Er nennt einige Besonderheiten und warnt vor der Übernahme ins Deutsche. In den holländischen Triphthongen sieht er eine Nachahmung der Franzosen und Italiener, im vokalisch anlautenden w - also wt statt uyt - einen Missbrauch, den man den Niederländern lassen sollte. Und selbst Gewohnheiten, die die ‘uhralten Deutschen wie auch noch itzt die Holländer pflegen’ - nämlich die Verbindung g + h wie in ‘ghedanken’ - lehnt er als unnötige Konsonantenhäufung ab.Ga naar eind20 Die Urteile haben zufälligen Charakter und sind hauptsächlich in der individuellen Auffassung des Autors begründet. Prinzipielle und damit allgemeine Unterschiede in der deutschen und niederländischen Schreibweise zeigen sich in der Stimmkorrelation und der Notifizierung von Langvokalen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein stimmhafter Konsonant im An- und Auslaut als typisch für das Niederländische, ein stimmloser als typisch für das Deutsche angesehen wurde. Die Unterschiede liegen in der Bewertung der Tonqualität. Ein Stimmloser Konsonant wird von den Niederländern als hart und rauh, von den Deutschen als ‘mannhaft’ bezeichnet. Das zeigt sich bei Zesen in der Behandlung der alveolaren Verschlusslaute. D sei ‘eigend- | |
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lich ein Niederdeutscher Buchstabe’, der ‘von den Hochdeutschen gemeiniglich in ein hartklingend t verändert’ werde.Ga naar eind21 Eine ähnliche Unterscheidung trifft er bei f und v. Auch hier kennzeichnet der stimmhafte Konsonant das Niederländische, der stimmlose das Deutsche: ‘v. welches die Niederdeutschen noch gar sehr gebrauchen/ die Hoochdeutschen aber vielmahls verwerffen und das F. an dessen statt setzen... vloet/vloeken... Fluht/fluuchen.’Ga naar eind22 Zesen kannte sicherlich die lange Tradition dieser Auseinandersetzung, die in Holland zur Identifizierung der deutschen Fremd- und Lehnwörter führte. Schon Becanus hat den Unterschied formuliert. Er schreibt über die Hochdeutschen: Vitant enim quàm possunt maximè sermonis suauitatem; atque ideò in principio pro V. pronunciant F. vt pro Vrancryc, Francreich; pro vatten, Fassen... Nos ex inferiores Germaniae sermone hoc nobis sumimus, vocem non per F, sed per V consonantem in principio scribendam...Ga naar eind23 Ebenso hat es de Heuiter gesehen und den Unterschied von f und v zum Kriterium für die Echtheit eines Wortes gemacht: die Hoohduitsen... meest al met f. schriven dat wij met va... en daerom wil f. zeer zelden in dbegin van oprechte Neerlantse woorden gevonden warden.Ga naar eind24 Eine Einigung über die Bezeichnung von Langvokalen kam nicht zustande. Von den üblichen Mitteln spielten bei der deutsch-niederländischen Auseinandersetzung die Doppelschreibung und das Dehnungs-h eine Rolle. Zwar hatte schon Kolroß im Euchiridon (1530) die Schreibung von aa, ee befürwortet, er forderte aber daneben uh und oh.Ga naar eind25 Die Piscator-Bibel verwendet in starkem Masse Doppelvokale zur Längenbezeichnung.Ga naar eind26 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts aber setzt man sich kaum mit diesen Autoren auseinander, sondern orientiert sich am niederländischen Gebrauch. Eine strenge Regel gibt es nicht. Zesen lässt beide Mittel gelten und gebraucht sie nebeneinander.Ga naar eind27 Schottel verhält sich ablehnend: aa, ee lässt er zur Unterscheidung von Homophonen (meer, mehr) gelten, er wendet sich aber gegen die Doppelschreibung oo, uu, wie sie bei Zesen und Fleming vorkommt, und setzt sich dabei ausdrücklich gegen das Niederländische ab: Der Langlaut in oo/ möchte sich in Hochteutscher Mundart nicht leichtlich finden/ weil darinn auf solchen Tohn sich anfindende Wörter werden mit einem Mittelhauchlaut geschrieben... Die Niederländer... pflegen diesen Langlaut ofters zugebrauchen. Der Langlaut /uu/ ist gleichfalls in Niederländischen bräuchlich/ der Hochteutschen... Rechtschreibung aber/ nicht viel bekant.Ga naar eind28 Die Gegenüberstellung einzelner Schreibweisen zeigt, dass die Auseinandersetzung nicht auf das eigene Land beschränkt blieb, sondern auch die Grenze überschritt. Hier wie dort wird der Nachdruck auf die Eigenstän- | |
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digkeit des jeweiligen Dialektes gelegt: ‘Die Hochteutsche Mundart trit in vielen/ was die Letteren... betrift/ von der Niederteutschen in gemein ab.’Ga naar eind29 Bei Zesen erscheint diese Feststellung als ein Gebot: Wier aber sollen und können unsere Hauptspraache nach den andern Neben- und unter-spraachen gar nicht richten/ weil sie viel anders ausgesprochen wird und deßhalben auch anders muß geschrieben werden.Ga naar eind30 Auf der anderen Seite hat Spiegel ähnliche Gedanken ausgedrückt. Man solle den ‘Overlanders’ nicht nachfolgen, sondern sich auf die eigene Sprache konzentrieren: ‘dewyl wy nóch niet toestaan dat hun wyze van spellen beter is als de onze.’Ga naar eind31 Diese Forderungen schliessen zwar nicht aus, dass man in Einzelfällen die andere Sprache zur Hilfe nimmt, der Gesamtaufbau der Orthographie sollte jedoch den Gesetzen der eigenen folgen. Das Streben nach einer Norm führte zur Trennung beider Mundartbereiche. Geschichtliche Betrachtungen, die zur Klärung der Andersartigkeit deutscher und niederländischer Schreibweisen hätten beitragen können, wurden nicht angestellt. Es ist unbestreitbar, dass Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen, und zwar aus Gründen, die nicht in der Verfügung der Autoren lagen. Selten wird man ein Buch mit einer konsequenten und einheitlichen Rechtschreibung finden. Dagegen begegnen oft Formulierungen orthographischer Regeln, in denen gerade gegen diese Regeln verstossen wird. Man hat dafür die Unentschlossenheit der Verfasser und einen Vorrang der Tradition vor der Reform verantwortlich gemacht, ohne die Prozedur der Drucklegung genügend zu berücksichtigen.Ga naar eind32 Ihr hemmender Einfluss auf eine Reform der Orthographie sollte nicht unterschätzt werden. Es gehört zu den festen Bestandteilen einer Errata-Liste, dass man seine Abwesenheit vom Druckort beteuert. Die Klagen über die ‘typographos’, ihre Sorglosigkeit und ihr Gewinnstreben sind unzählbar.Ga naar eind33 Das Beharrungsvermögen des Korrektors und die geographische Herkunft des Setzers vermögen in der Regel mehr als die orthographischen Reformvorstellungen eines Autors, der nur ohnmächtig bedauern kann, dass ‘der Trukker-Gebrauch... gar zuweit eingerissen’ seiGa naar eind34 und ‘in den Druckereyen/ aus einem beliebten Mißbrauch’ falsch buchstabiert werde.Ga naar eind35 Es kann hier ausser acht bleiben, inwieweit solche Klagen Konvention und Selbstzweck sind, ihr Anlass jedoch ist unbestreitbar. Und er musste umso dringlicher hervortreten, wenn die Drucker Bücher in einer fremden Sprache zu setzen hatten. Die für jede Orthographiereform nachteilige Konstellation hat im deutsch-niederländischen Verhältnis eine bedeutende Rolle gespielt. Bei der Besprechung Hollands als Verlagszentrum wurde bereits erwähnt, dass viele deutsche Bücher dort gedruckt wurden. Damit war die Vermischung beider Schreibweisen gegeben; dass dies in weitem Masse geschehen ist, zeigt sich an einer Rezension Schottels. Er bespricht ein aus dem Französischen übersetztes deutsches Buch, das bei Elzevier in Amsterdam erschien: | |
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Und ist an dieser Edition zuloben/ daß die Holländer sich in so weit besinnen/ und der edlen Teutschen Haubtsprache jhre rechte Gestalt und von Natur kenliche Tracht und Bekleidung anlassen. Billig solten die Buchverlegere in Holland sich in Teutschland besser erkündigen/ (weil doch alle jhre verlegte Hochteutsche Bücher in Teutschland versandt und daselbst verkauft werden; was für eine gute bewehrte Schreibart... bewehrt und gebilliget wird: Wie würde es den Herrn Staden oder sonst jedermänniglich in Holland gefallen/ wan jhre Sprache und die darin durchgehends bewehrte Schreibart in Teutschland würde umgegossen und in eine unkentliche unholländische Form gezwungen/ nichts als ein Auslachen/ und gar keine Nachfolge/ möchte sich daselbst alsdan ereugen: Der albernen Neuerung kan in Teutschland ein gleiches/ wo nicht ein weit übeler Ausweg/ verhanden seyn.Ga naar eind36 Das ist eine der entschiedendsten Stellungnahmen für die Eigenständigkeit in der Orthographie. Die Kleidermetapher und der polemische Ton erinnern an die Elemente des unkritischen Purismus, der sich gegen die romanischen Sprachen richtete. Die Motive aber sind verschieden. Bei den romanischen Sprachen handelt es sich um die Abwehr des Fremdartigen, beim Niederländischen um die Abgrenzung gegen das Verwandte. Die oben genannten Hinweise auf die verschiedene Verwendung einzelner Buchstaben und Schottels Besprechung haben - ähnlich einem Vergleich - nur dann einen Sinn, wenn es eine gemeinsame Basis gibt und Unterschiede, die die verglichenen Glieder gegeneinander abheben. Aus dieser Position heraus ist es zu verstehen, dass die niederländische Orthographie einmal als Vorbild dienen konnte, zum andern aber in konkreten Einzelheiten nicht befolgt werden konnte. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass Schottel all die Schreibweisen verwerfen muss, die niederländische Elemente aufweisen. Am auffälligsten ist das bei Zesen der Fall, dem er vorwirft, die ‘Teutschen Worte/ der Schreibung und offenem Ansehen nach/ in eine andere Gestalt’ gekleidet zu haben.Ga naar eind37 Was darunter zu verstehen ist, lässt sich am einfachsten aus der Gegenüberstellung einiger deutscher Wörter bei Stevin mit Schottels Zitat erkennen. Im niederländischen Text heisst es: Ein abgefeimpter, eerloser, znichtigher boesswicht... von dem leidighen Tüfel... brasser, schlemmer... schlucker... Schottel hat durchgehend Änderungen vorgenommen: ein abgefeimter/ ehrloser/ zunichteter Bösewicht... vom leidigen Teuffel... Prasser/ Schlemmer/ Schlucker...Ga naar eind38 Er verwirft Konsonantenhäufungen, stumme Buchstaben, unzulässige Synkopen, vor allem typisch niederländische Eigenheiten wie ee, oe, gh und führt die Großschreibung der Substantive ein. Umgekehrt sind die | |
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zahlreichen holländischen Zitate aus Stevin in der Ausführlichen Arbeit orthographisch entstellt. Der Wille zur Abgrenzung entspringt puristischen Motiven und bezieht sich auf die Zusammensetzung der Buchstaben. Damit ist aber noch nichts gesagt über das prinzipielle Verständnis der Orthographie, das sich auf die Erforschung der einzelnen Lettern und die ‘gründliche Eigenschaft’ der Sprache als Maßstab der Rechtschreibung richtet. Auch hier lassen sich charakteristische Unterschiede in den deutschen und niederländischen Auffassungen zeigen. Bei der Erforschung der Buchstaben ist Schottel den spekulativen Sprachforschern gefolgt, deren Gedankengut ihm vor allem durch Stevin vermittelt wurde. Einsilbigkeit ist auch hier ein Zeichen hohen Alters und grösster Vollkommenheit: Merkt, dat de oude Duytsche t'selve oock gedaen hebben ... in de Bouckstafen of letteren, die sy all met eynsilbegen ghelyiden noemen, 't vvelck voorvvar d'uyterste Volcommenheit naerder is, dan de contrarj... VVant ghene ... in de consten het begin is moet het aldereenvoudichste syn, t'vvelck hier, so et de Duytshe ghetroffen hebben, ynckel gheluyt is.Ga naar eind39 Diese Eigenschaft hat das Deutsche sogar dem Griechischen und Hebräischen voraus. Das Wort ‘Dal’ muss hier mit ‘Delda, Alpha, Lamda’ oder ‘Daleth, Aleph, Lamech’ buchstabiert werden, während in der Muttersprache ‘De, A, eL’ in natürlicher und einsilbiger Folge fliessen.Ga naar eind40 Den Einwand, das deutsche Alphabet stamme aus dem Lateinischen, lässt Schottel nicht gelten. Er löst das umstrittene Prioritätsproblem mit der etymologischen Behauptung, dass ‘Letter’ kein lateinisches, sondern ein deutsches Stammwort sei, und wo es eine Bezeichnung gebe, da könne der Gegenstand nicht gefehlt haben.Ga naar eind41 Der einstimmige Klang der Buchstaben ist göttlichen Ursprungs und damit Dolmetscher der natürlichen Laute. Buchstaben und Stammwörter stehen in einem engen Zusammenhang. Die Einsilbigkeit wird metaphysisch begründet und als Zeichen der Ursprünglichkeit und des Alters gewertet. Der Grundsatz, den Schottel für die Orthographie daraus zieht, heisst, dass die ‘nach ... Anweisung der unfehlbaren Einsilbigen Gründen unserer Muttersprache’ beobachtet werden muss.Ga naar eind42 Seine Argumentation trägt die Handschrift der spekulativen Sprachforschung, wie sie von Becanus, Schrieckius und Stevin vertreten wurde. Schottel ist auch hier ihr gelehriger, wenn auch später Schüler. Von den traditionellen Eigenschaften der Buchstaben, ‘nomen’, ‘figura’, ‘potestas’, stehen in der vierten Lobrede Name und Klang und ihr innerer Zusammenhang im Vordergrund. Schottel gibt keine Beschreibung, sondern eine tiefgreifende Deutung, denn er will nicht lehren, sondern überzeugen. Das hat natürlich mit praktischen Anweisungen zur Schreibrichtigkeit wenig zu tun. Für diesen Zweck sind der Ursprung der Buchstaben und die Prioritätsfrage entbehrlich. Man wird sie in Handbüchern für Lehrer und Lehrbüchern für Schüler seltener diskutiert fin- | |
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den.Ga naar eind43 In der eigentlichen Darstellung der Orthographie (A.A. S.179) bleibt Schottel dem spekulativen Gedankengut weiterhin verpflichtet. Er legt zwar grösseres Gewicht auf die konkrete Behandlung der Buchstaben, ihre Zahl und Einteilung, ohne sich aber völlig der didaktischen Absicht anzuschliessen, wie sie in den niederländischen Lehrbüchern vorgetragen wird. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass er phonetische und lautphysiologische Beschreibungen weitgehend meidet.Ga naar eind44 Der hier angedeutete Unterschied lässt sich klar an der anderen Auffassung der Einsilbigkeit erkennen. De Heuiter, de Beerd und Dafforne sehen in ihr nicht in erster Linie einen Beweis des Alters, sondern einen Vorteil für den Lernenden: De letteren... moeten de kinderen aldus uytspreken: ef ha el em en qu er es Maer niet effe haetse elle emme enne quwe erre esse, & c... om dat deze na-staerten verhinderen de kinderen in't leezen...Ga naar eind45 Hier gilt die Unterweisung dem Zweck, den Zusammenhang zwischen Klang und Zeichen zu verdeutlichen als Voraussetzung für den richtigen Gebrauch im Lesen und Schreiben. Spekulative Betrachtung und didaktische Absicht bedingen unterschiedliche Prinzipien, nach denen die Rechtschreibung ausgerichtet werden soll. Die Frage Harsdörffers, ‘Welcher gestalt die hochteutsche... Haubtund Heldensprache in ihre... grundmässige Wortschreibung zu bringen’ sei,Ga naar eind46 ist die Kernfrage der Orthographie überhaupt. Wollte man zu einer einheitlichen Rechtschreibung kommen, dann bedurfte es eines zweifelsfreien Leitfadens. Der Streit um die Orthographie ist in Wirklichkeit ein Streit um Prinzipien. Zur Diskussion stehen Etymologie (Analogie), Phonetik und die Gewohnheit. Manche nennen alle Prinzipien oder stellen eine Rangordnung auf, andere verwerfen sie und erheben eines zur alleinigen Richtschnur. Die bei Harsdörffer genannte Reihenfolge ist in Deutschland weitverbreitet: DIe Rechtschreibung begründet sich erstlich auff dem Ursprung deren Wörter... Wann solcher Ursprung ermangelt/ so muß die Aussprache Richter seyn... In dem nun beyde Grundseul der Schreibrichtigkeit nicht zu ergreiffen/ muß man sich an die... beliebten Gewohnheiten halten...Ga naar eind47 Dieses Programm führt nicht zur Vereinheitlichung, sondern begünstigt die Willkür. Bei allen Äusserungen zur Orthographie lässt sich kaum eine Auseinandersetzung darüber finden, in welchem Verhältnis die Prinzipien zueinander stehen. Die Etymologia ist/ wenn wir den ursprung eines wortes besehen/ vnd daraus dasselbe recht schreiben... lernen.Ga naar eind48 Dieses Prinzip hat in Deutschland eine bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Tradition und wird im 17. von den einflussreichsten Ortho- | |
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graphen vertreten. Sein wirkungsvollster Verkünder ist Schottel, dessen fundamentaler Lehrsatz lautet, ‘daß in unserer Muttersprache die Stammwörter... oder Wurtzeln müssen nohtwendig... unzerbrochen bleiben.’Ga naar eind49 Auf dem Weg der Analogie gelangt man zur ‘Grundrichtigkeit’ der Rechtschreibung.Ga naar eind50 Das führt zur Häufung wie zur Vereinfachung des Konsonantismus. Bei den Stammwörtern soll an der Deklination und der Konjugation abgelesen werden, ob der Endkonsonant gedoppelt wird oder nicht. So schreibt man Stimm, Mann, schall, lauff, weil es Stimmen, Männer, schallen und laufen heist, und statt Pferdt, Bundt schreibt man Pferd und Bund, weil der Genitiv Pferdes und Bundes lautet. Schottels Regel, dass ‘alle die jenige Buchstabe/ welche der Rede keine Hülfe tuhn/ und also überflüssig seyn... ausgelassen’ werden müssen,Ga naar eind51 wird also dem Prinzip der Analogie untergeordnet.Ga naar eind52 Der Rückgriff auf die Stammwörter wirft die Frage auf, in welchem Grade Schottel die niederländische Sprache berücksichtigt, da sie ja nach seiner Meinung eine ursprünglichere Gestalt bewahrt hatte und ihm bei der Bestimmung der deutschen Wurzeln behilflich war. Hier zeigt sich, dass auch die Etymologie nicht konsequent durchgeführt wird. Im 5. Lehrsatz schreibt er: ‘Zwischen dem s/ und dem Buchstaben w/ l/ m/ n/ künte das ch wol ausgelassen werden...’Ga naar eind53 Er schlägt also die Schreibung ‘sweigen’ und ‘slagen’ vor, wie sie im Niederländischen gehandhabt wurde und die er im Mittelhochdeutschen vorfand. Und obwohl ihm sein Prinzip dies als die richtige Lösung eingibt, mag er sich nicht völlig für sie entscheiden. Er beruft sich auf den allgemeinen Brauch der Sch-Schreibung und auf den ‘Tohn und Ausspruch’, der ‘einem Oberländer... anderst vorkomme und laute/ als einem Niedersachsen oder Niederländer.’Ga naar eind54 Das etymologisch-analogische Prinzip wird im Endkonsonantismus konsequent angewandt, an anderen Stellen des Wortes ist es jedoch durchlässig und kann durch das phonetische oder den ‘usus’ verdrängt werden. Die Hauptschwierigkeit bei der Benutzung der Etymologie war die Voraussetzung grammatischer und sprachgeschichtlicher Kenntnisse.Ga naar eind55 Das aber bedeutet, dass sie vom Gelehrten und nicht vom Lernenden praktiziert werden konnte. Einen Ausweg hat Zesen angestrebt. In seinen Reformbestrebungen lassen sich das etymologische und phonetische Prinzip unterscheiden.Ga naar eind56 Auch er tritt dafür ein, dass die Abstammung der Wörter und die Ganzheit der Wurzeln bewahrt bleiben, er trifft aber auch die programmatische Feststellung: ‘An die Alten Deutschen dürffen wier uns nicht kehren.’Ga naar eind57 Und er verwirft die analogische Konsonantenverdoppelung, da man nicht beide aussprechen könne. Der Versuch der Harmonisierung der gegensätzlichen Prinzipien der Etymologie und der Phonetik in einem orthographischen System vermehrte die Unsicherheit, statt sie zu beseitigen. Zesen hat denn auch seine Bestimmungen oftmals geändert. Mit der Einbeziehung der Phonetik jedoch hat er die Orthographie ihres rein gelehrten Charakters entkleidet. Wahrscheinlich wurde er von den Niederländern dazu angeregt. | |
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Das phonetische Prinzip wird im deutschen Schrifttum meist an zweiter, untergeordneter Stelle genannt. Schottels gelegentliche Zugeständnisse dürfen nicht als Zustimmung gedeutet werden. Seine Ablehnung ist von Polemik gekennzeichnet: Es ist ... lächerlich/ daß ein und ander ... sich erkühnen/ nach jhrem Hörinstrument ... die Hochteutsche Sprache/ auch in jhrer natürlichen unstreitigen Grundrichtigkeit zuenderen ...Ga naar eind58 Das ‘judicium aurium’ spielte in den niederländischen Orthographielehren eine wichtige Rolle. Die Buchstaben werden nicht nach ihrem Ursprung, sondern nach ihrer gegenwärtigen Gestalt und Qualität befragt. De Heuiter ist nicht der erste, aber einer der nachdrücklichsten Verteidiger des phonetischen Prinzips.Ga naar eind59 Seine pragmatische Forderung, Feder und Aussprache müssten sich decken, hat er des öfteren erläutert. Die Buchstaben haben den Zweck, den Laut zu konservieren und dem Leser zu vermitteln (S.77); andrerseits soll man im Sprechen und Schreiben den harten Klang der Konsonantenverdoppelung vor allem am Ende des Wortes meiden (S.84). Das ist eine direkte Stellungnahme gegen das analogische Prinzip. Die Nachfolger de Heuiters haben sich ähnlich ausgesprochen. Van der Schuere fordert, ‘dat Elke Letter moet ... naer haer uytspraeks klank, ende kracht gebruykt worden,’ weil er ‘een eygentlijke uytbéldinge des geluyds/ofte der stemme’ sei.Ga naar eind60 Smyters verlangt eine Kongruenz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache, damit im Lesen und Schreiben kein Unterschied bestehe.Ga naar eind61 Die Belege zeigen ein Übergewicht der phonetischen Orthographie in den Niederlanden. Klang und Zeichen bedingen einander, sei es, dass man vom Buchstaben auf die Aussprache oder von der Aussprache auf den Buchstaben schliesst.Ga naar eind62 Das phonetische Prinzip trägt zur Vereinfachung der Orthographie bei und hat damit Vorteile für den Lernenden. Die Schwierigkeiten der Praxis liegen in dialektbedingten Verschiedenheiten der Aussprache. Aus diesem Grunde lehnt Harsdörffer die phonetische Rechtschreibung ab: Pronunciatio lubrica est, quotidie gliscit, & pro varietate Idiomatis immutatur, ut ... pro solido scriptionis fundamento non statuminanda videatur ... Quaenam dialectus optima sit, nemo facile definiet; & hoc modo semper dubio vacillabit calamus.Ga naar eind63 Auch in Holland hatte man die Hindernisse erkannt, ohne jedoch deswegen das phonetische Prinzip aufzugeben. Van Heule hat das mit aller Deutlichkeit ausgesprochen: Wy oordelen ... dat wy meerder reden hebben/ om volgens onze uytsprake te schrijven/ dan dat wy om des gevolgs wille/ anders zouden schrijven/ dan wy behoren te lezen.Ga naar eind64 Das etymologisch-analogische und das phonetische Prinzip stehen in Opposition zueinander, ohne jedoch autonom zu sein. Bei beiden kommt | |
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der Grundsatz des ‘usus’ und der übergreifende Leitgedanke der Ökonomie hinzu. Der allgemeine Gebrauch sollte nicht als alleiniges Prinzip, sondern als Korrektur angewandt werden. Es galt stets zu klären, ob er richtig oder falsch war. Man wollte ihn nicht ungeprüft übernehmen, aber auch nicht das grundlos verwerfen, was sich in der Tradition bewährt hatte.Ga naar eind65 Der ‘usus’ übernahm eine mässigende Funktion, die sich gegen allzu übertriebenen Reformeifer, gegen die ‘Novatores’ und ‘Neoorthographos’ richtete.Ga naar eind66 Er schränkt beide Prinzipien in ihren extremen Erscheinungssformen ein. Die Etymologie ist nicht so verbindlich und die Phonetik nicht so unfehlbar, dass man gegen den allgemeinen Gebrauch in jedem Fall streiten sollte. Das Prinzip des ‘usus’ lässt sich mühelos mit den beiden anderen in Einklang bringen. Anders verhält es sich mit dem Streben nach Ökonomie, deren Behandlung in deutschen und niederländischen Schriften breiten Raum einnimmt. Im rechten Mass sah man den Vorzug der Muttersprache. Der Grundsatz lautet, dass ‘ein jedes Wort/ mit seinen eigentlichen Buchstaben/ und mit derselben keinem zu wenig oder zu viel verfasset werde.’Ga naar eind67 Einigkeit herrscht bei willkürlichen Häufungen wie ck, th, dt, mb und der oft getadelten Schreibung von ‘vnndt’. Aber nur solche offensichtlichen Fälle lassen sich reibungslos dem Streben nach Ökonomie unterordnen. Die Kontroverse entzündet sich an der Deutung der ‘eigentlichen Buchstaben.’ Vertreter der analogischen Orthographie zählen auch die Konsonantendoppelung am Ende des Wortes zu ihnen, für die der phonetischen Orthographie verstösst sie gegen das Gebot der Ökonomie. Von dieser Position aus haben sich niederländische Reformer über die deutsche Rechtschreibung geäussert: De verdobbelinge der me-klinkeren op het eynde des eenvouds, naer de Hoogduytsche maniere, om het meervoud aen te wijsen, met beswaringhe van den druck, in vreemder gestalte, en soude ik tegenwoordig niet konnen prijsen; also wy die letter geenzins en konnen uyt spreken.Ga naar eind68 Den Maßstab für die Ablehnung liefert die Aussprache. Einfachheit wurde mit Wohl-, Häufungen mit Missklang gleichgesetzt. Das erkennt auch Harsdörffer,Ga naar eind69 aber er ist allzu sehr in seinem Prinzip gefangen, als dass er Folgerungen daraus gezogen hätte. Es gibt eine Reihe von Urteilen über die deutsche Sprache, die die unterschiedliche Auffassung der Orthographie verdeutlichen kann. Man geht von der Feststellung aus, dass das Deutsche männlicher und härter, das Niederländische lieblicher und sanfter klingeGa naar eind70 und wendet sich in polemischer Haltung gegen die deutsche Aussprache. Becanus' Vorwurf wurde bereits angeführt; van der Meerwede spricht von der ‘plompigheyd’,Ga naar eind71 und Isaac Vossius schreibt: ‘Plus ... ponderis, quam majestatis habet.’ Den Grund sieht er im ‘consonantium concursus’, den feinere Ohren nur schwer aufnehmen könnten.Ga naar eind72 Es handelt sich um phonetische Urteile, aber es hat den Anschein, dass sie nicht auf der Ausspra- | |
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che, sondern auf dem Schriftbild beruhen. Man geht von der Konsonantenhäufung aus und schliesst auf einen schwerfälligen Klang.Ga naar eind73 Auch diese Urteile sind Belege für die Opposition von analogischem und phonetischem Prinzip. Das Wirken unterschiedlicher Formkräfte beim Aufbau der Rechtschreibung bestimmt auch die deutsche Rezeption der Orthographia Belgica von Plempius. Das schmale Werk trägt den Charakter einer Streitschrift, die als erweiterte Fassung des holländisch geschriebenen Heftes Speldwerk anzusehen ist. De Vooys hat er als mehr kurios denn bedeutend beschrieben, und er hat damit sicherlich recht.Ga naar eind74 Im Zusammenhang der deutsch-niederländischen Beziehungen jedoch ist die Orthographia Belgica von Bedeutung, da sie von Harsdörffer und Morhof beachtet wurde.Ga naar eind75 Plempius verteidigt die Rechtschreibung, die er in früheren Veröffentlichungen praktiziert hatte. Er will am ‘usus’ festhalten und sich für die Tradition und gegen eine Reform entscheiden. Die Fehler der Alten seien nicht so schwerwiegend wie die der Neuerer. Hinter diesem Programm verbirgt sich in Wirklichkeit die konsequente Parteinahme für das phonetische Prinzip. In einer Fülle von Beispielen legt Plempius dar, daß man nur schreiben solle ‘soo't oor ons getuicht;’ eine andere Richtschnur hält er für das Machwerk derjenigen, die die Autoren ‘à la mode de France, anders wilden doen lesen, dan schrijven.’Ga naar eind76 Dieser Standpunkt schlägt sich in der Praxis als ein radikales Streben nach Ökonomie nieder. Harsdörffer kannte nach dem Zeugnis der Frauenzimmer Gesprächspiele und der ‘X. Disquisitio’ des Specimen wahrscheinlich nur die lateinische Fassung Plemps. Ihr entnimmt er die allgemeine Bestimmung der Orthographie: ‘AD artem poeticam pertinet accurata Orthographia’.Ga naar eind77 und er belegt seine Auffassung, dass gerade die Dichter die Verantwortung für die richtige Schreibung tragen, mit einem ausführlichen Zitat aus der Orthographia Belgica.Ga naar eind78 Auch bei der Aufstellung der Grundsätze beruft er sich auf Plemp: ‘Orthographia nostra nititur ratione vel autoritate ...,’Ga naar eind79 obwohl er im einzelnen von seiner Quelle abweicht. Unter ‘Autoritas’ versteht Harsdörffer etwa dasselbe wie Plemp, nämlich den Gebrauch berühmter Schriftsteller, den er aber in ‘certa’ und ‘ambigua’ unterscheidet. Die ‘Autoritas’ spielt eine untergeordnete Rolle gegenüber der ‘Ratio’, die Harsdörffer in sechs Regeln unterteilt: die Eigenschaft der Buschstaben, Ableitung, Flektion, die Natur des Gegenstandes, Unterscheidung von Homophonen und Analogie. Damit hat er sich in einen Gegensatz zu Plempius gestellt, der gerade die Phonetik als Richtschnur empfiehlt. Das hat zur Folge, dass Harsdörffer auch in der praktischen Orthographie von ihm abweicht und nur die erste Regel übernimmt. Plemp verwendet viel Mühe auf die Bestimmung von w und v als Konsonanten. Schreibungen wie ‘brouw, vrouw’ lehnt er ab. Die richtige Einteilung der Buchstaben wie die Ökonomie sind hier gleichermassen am Werke, und Harsdörffer ist ihm darin gefolgt,Ga naar eind80 ohne jedoch auf die Differenzen in anderen und den wichtigsten Punkten | |
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einzugehen. Er entnimmt Plempius genau das, was sich nahtlos in sein System einfügen lässt. Anders verhält sich Morhof, der zwar den zeitlichen, aber nicht den sachlichen Rahmen dieser Untersuchung sprengt, da er sich als Schüler Schottels erweist. Auch er sucht Gemeinsamkeiten mit Plemp, stellt jedoch die polemische Auseinandersetzung in den Vordergrund: Plempius hat ein Buch/ de Orthographiâ Belgica geschrieben/ worinnen er viel sonderliche Einfälle hat/ denen ich durchgehends nicht Beyfall geben kann.Ga naar eind81 Die Kontroverse entspringt dem Vorwurf Plemps, die Deutschen hätten eine bleierne Zunge. Er geht vom Schriftbild der Konsonantenverdoppelung aus und schliesst auf die Aussprache.Ga naar eind82 Umgekehrt aber behauptet er, dass in ‘Mann’ und ‘Sonn’ nur ein n geschrieben werden dürfe, da man auch nur eines ausrede. Morhof ist auf die Inkonsequenz dieser phonetischen Argumentation nicht eingegangen. Er führt seine Widerlegung mit dem Instrumentarium durch, das er bei Schottel vorfand. Sonne sei eigentlich ein zweisilbiges Wort und müsse bei einsilbigem Gebrauch die Konsonantenverdoppelung beibehalten; das Wort Mann werde mit nn geschrieben, weil es in den ‘obliquis casibus’ auch Verdoppelung habe. Es kommt also nicht zu einer echten Auseinandersetzung, sondern zu einer Gegenüberstellung von Prinzipien. Morhof kann daher leicht urteilen, Plempius hätte ‘mit seinem so groben Urtheile/ von der Teutschen Sprache/ wohl zu Hause bleiben können.’Ga naar eind83 Die deutsche Rezeption der Orthographia Belgica ist kennzeichnend für das gesamte deutsch-niederländische Verhältnis in der Orthographie, das sich quantitativ in einem ständigen Austausch und wechselseitigen Bezug, qualitativ in Anlehnung und Abgrenzung vollzieht. Die gleiche Einschätzung der Bedeutung für die Spracharbeit, die Ähnlichkeit der Aufgaben und die Verwandtschaft der Sprachen bilden die Voraussetzung für ein gemeinsames Vorgehen. Aber hierin liegt auch schon der Keim für die Abgrenzung. Die jeweilige Muttersprache betrachtete man als eigenständigen Dialekt in der germanischen Sprachenfamilie, der sich nach keinem anderen zu richten hatte. Diese Haltung, die der deutschen Einstellung zum Pan-Germanismus vergleichbar ist, wird mit puristischen Argumenten und puristischer Metaphorik vorgetragen. Daneben haben unterschiedliche Prinzipien der Rechtschreibung zu Auseinandersetzungen geführt. Die Stammworttheorie hat in der niederländischen Orthographie nur eine geringe, in der deutschen dagegen vor allem durch Schottels Ausführliche Arbeit eine grosse Wirkung ausgeübt, wie sich an der unterschiedlichen Deutung der Buchstaben zeigte. Der Streit dreht sich darum, welchem Prinzip der Vorzug zu geben sei. Die Entwicklung ist in beiden Ländern nicht gradlinig verlaufen, aber bei allen Unterschieden im einzelnen lässt sich eine Einteilung treffen. In den Niederlanden herscht das phonetische Prinzip vor, in Deutschland das etymologisch-analogische. Hier forscht man nach der Tiefe des Ursprungs, | |
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um die Schreibrichtigkeit zu erkennen, dort beschränkt man sich auf didaktische Zwecke, die die Einfachheit und die Übereinstimmung von Laut und Zeichen zum Ziel haben. Das korrespondiert mit der Stellung der Orthographiereformer. In Deutschland fand die Diskussion hauptsächlich im Kreise der Fruchtbringenden Gesellschaft statt, also unter Gelehrten, in den Niederlanden handelte es sich überwiegend um eine Schulbewegung, der es um den praktischen Unterricht ging. |
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