Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR
(1981)–Georgi Arbatov, Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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VII) Einige Worte zur ZukunftNachdem wir viele Stunden mit Diskussionen zugebracht haben und zahlreiche Wochen der Aufarbeitung folgten, möchte ich die eingangs gestellte Frage noch einmal an Sie richten: Werden die achtziger Jahre das Jahrzehnt des zweiten Kalten Krieges werden?
Ich würde nicht ein einziges Wort von dem zurücknehmen, was ich am Anfang zu dieser Frage gesagt habe. Aber ich könnte noch ein paar Worte hinzufügen.
Genau deshalb habe ich diese Frage noch einmal gestellt.
Zu dem bereits Gesagten wäre noch hinzuzufügen, daß ein zweiter Kalter Krieg sich auch in dieser Hinsicht vom ersten unterscheiden würde, daß er ein unechter Kalter Krieg wäre, ein ‘drôle de guerre froide’, wie die Franzosen sagen würden. Er wäre deshalb unecht, weil anders als beim ersten Kalten Krieg kaum echte Überzeugung hinter ihm stünde. Die Überzeugung, die dem ersten Kalten Krieg zugrunde lag, war falsch, ging von unangebrachten Ängsten aus, von Vorurteilen und Unwissenheit - trotzdem gab es sie, und sie war ein wichtiger psychologischer Faktor. Dieses Mal muß man schon eine sehr geringe Meinung von den geistigen Fähigkeiten der Leute haben, Herr Oltmans, wenn man von den Europäern erwartet, sie sollten in den achtziger Jahren noch all das glauben, was etwa Ihre Familie in den vierziger Jahren dazu bewogen hat, nach Südafrika auszuwandern. Ja selbst die Amerikaner scheinen mir etwas zu aufgeklärt zu sein, als daß man sie so ohne weiteres in jenen Zustand versetzen könnte, der für sie in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren bezeichnend war. Es fällt schwer zu glauben, daß ihre Propheten abermals Leute werden könnten wie Senator Joseph McCarthy oder der Kongreßabgeordnete Parnell Thomas - diese Hohepriester des ersten Kalten Krieges, die, wie sich später herausstellte, simple Betrüger waren (oder Betrüger, denen der Kalte Krieg half, Hohepriester zu werden - wie man's nimmt). Tatsächlich würde es sich um einen künstlichen Kalten | |
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Krieg handeln, in dem nur wenige Sinn und Zweck sehen könnten. Wesentlicher noch: Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Entspannung würden nicht viele in einem solchen Krieg die einzige Alternative zum heißen Krieg sehen. Auch wäre es ein künstlicher Kalter Krieg in dem Sinn, daß die Vereinigten Staaten versuchen würden, ihn anzuzetteln, ohne über die notwendigen Mittel zu verfügen, um ihn zu gewinnen Sie konnten den ersten Kalten Krieg nicht gewinnen, als ihre Position gegenüber der Welt ungleich stärker war als heute. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daß die USA solch einen Krieg im letzten Viertel dieses Jahrhunderts gewinnen. Die Tatsache jedoch, daß es sich bei denen, die ihn trotzdem zu entfachen versuchen, um Amerikaner handelt, deutet auf eine starke Gefährdung des Weltfriedens und der Stabilität hin.
Wie stellen Sie sich die Zukunft der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen vor?
Ob es überhaupt eine Zukunft geben wird, hängt davon ab, ob es wenigstens ein bescheidenes Minimum an Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA gibt. Wenn es um die wünschenswerteste Zukunft geht, so würde ich ohne Zögern sagen, daß sie von friedlicher Koexistenz, Entspannung, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sowie von einer breiten Zusammenarbeit und wachsendem gegenseitigem Vertrauen geprägt sein müßte. Aber leider muß ich sagen, daß es in diesem Moment nicht den Anschein hat, als gingen wir solchen Beziehungen entgegen. Es macht sich - auch bei manchen Amerikanern - Besorgnis darüber breit, daß die Vereinigten Staaten einen Kurs eingeschlagen haben, der verstärktes Wettrüsten, Anstrengungen zur Stärkung ihrer militärischen Allianzen - diesmal nicht nur des Trilaterialen Blocks, sondern auch Chinas - und im Bedarfsfall eine größere Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt vorsieht. Wenn es dazu kommt, dann wird sich die Situation wahrscheinlich erst einmal verschlechtern, ehe sie wieder besser wird.
Kann sie sich denn überhaupt noch verschlechtern?
Unglücklicherweise ja. Ohne Zweifel hat Washington 1980 alles unternommen - von direkten militärischen Feindseligkeiten abgesehen -, um die politische Atmosphäre zu verderben, die verbale Auseinandersetzung aufzuheizen und wirtschaftliche, kulturelle und andere Beziehungen abzubrechen und die Gespräche einzufrieren. | |
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Am Schluß der Amtszeit hat die Carter-Administration Schritte unternommen, um die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen in nahezu allen Bereichen sogar noch weiter zu verschlechtern. Es ist denkbar, daß das gemacht wurde, um den Nachfolgern ein möglichst schweres Erbe zu hinterlassen. Dennoch, es kann noch schlimmer werden. Und zwar insofern, als das Einfrieren der Beziehungen auf einem so niedrigen Niveau zusätzliche Schwierigkeiten schafft und den Preis, der für die angespannte Lage zu entrichten ist, erhöht. Ich spreche vor allem von den Gefahren, die aus einem verstärkten Wettrüsten, aus weiteren Verzögerungen beim Abschluß von Vereinbarungen zu den drängendsten Fragen der Rüstungskontrolle und aus einer Eskalation der Konflikte in den verschiedenen Regionen der Welt erwachsen. Bestehen die Spannungen auf dem gegenwärtigen Niveau weiter, so werden dadurch die feindseligen und negativen Gefühle verstärkt und weiter gefestigt, wodurch es immer schwieriger wird, zu normalen Beziehungen zurückzukehren. Die Kontakte auf den verschiedenen Ebenen werden dabei geschwächt und zerstört, wobei man die ungeheuren Anstrengungen, die unternommen wurden, um sie zustande zu bringen, vergeudet. Was den Handel anbelangt, so werden unsere entsprechenden Stellen daraufhin zu anderen Partnern überwechseln, und zwar auf langfristiger Basis.
Würden Sie ausschließen, daß es zu irgendwelchen mutigen neuen Initiativen oder zu unerwarteten Maßnahmen kommt bzw. daß die Ereignisse eine unerwartete Kehrtwendung nehmen, wodurch es, was die Weltlage einschließlich der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft, zu bedeutsamen Verbesserungen kommen könnte?
Natürlich, solche Initiativen, Maßnahmen oder Kehrtwendungen können nicht ausgeschlossen werden. Mehr noch, ich bin sogar sicher, daß die Sowjetunion solche Initiativen ergreifen wird, wie sie das auch in der Vergangenheit getan hat. Aber eine Verbesserung der Beziehungen erfordert auf beiden Seiten guten Willen, und ich bin mir keineswegs sicher, ob wir von der anderen Seite solche Initiativen erwarten können. Nun sicher, Ihre Frage gait unerwarteten Ereignissen - jenen, die gegenwärtig nicht vorherzusehen sind. Wenn es angenehme Überraschungen gibt, würden wir das natürlich begrüßen. Aber man sollte nicht vergessen, daß Überraschungen auch unangenehm sein können, und - so fürchte ich - in einer Situation zunehmender internationaler Spannungen wären unangenehme Überraschungen sehr viel wahrscheinlicher. Auf jeden Fall ist es immer sehr schwer, unerwartete Ereignisse vorherzusagen. | |
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Vorhersagen werden folglich immer ungenau sein, denn das Leben ist voller Überraschungen.
Sicher. Deshalb auch bewahrheiten sich Vorhersagen, die einfach darauf basieren, gegenwärtige Tendenzen in die Zukunft zu projizieren, so gut wie nie. Folgendes ist ein gutes Beispiel dafür. Mir wurde von einem der allerersten Versuche erzählt, die Entwicklung urbaner Probleme vorherzusagen, den die Pariser Behörden in der Mitte des letzten Jahrhunderts unternommen haben. Die Behörden baten die Experten, eine Prognose zu den wichtigsten Problemen abzugeben, denen die Hauptstadt Frankreichs im 20. Jahrhundert gegenüberstünde. Die Fachleute dachten darüber nach, und ihre Antwort lautete: Pferdemist. Sie sagten angesichts der damaligen Zuwachsrate bei Pferdefuhrwerken voraus, daß Paris unter ihm buchstäblich begraben werden würde. Ich glaube nicht, daß wir dem Beispiel dieser frühen Futurologen folgen sollten. Wir müssen in Betracht ziehen, daß es möglicherweise zu Überraschungen kommt, sowohl zu positiven wie auch zu negativen. Ich würde noch weiter gehen. Eines der Hauptargumente, das für die Entspannung spricht, besteht darin, daß sie zusätzliche Garantien für den Fall schafft, daß es zu bösen Überraschungen kommt und damit den Frieden wie auch die internationale Ordnung beständiger macht. Deshalb ist es auch so schlimm, daß sich mit dem Eintritt in die achtziger Jahre die internationalen Beziehungen durch den Rückfall in Feindschaft und Kalten Krieg so ernsthaft verschlechtert haben.
Die Wahl 1980 muß Ihren negativen Erwartungen im Hinblick auf das kommende Jahrzehnt weitere Nahrung gegeben haben. Selbstverständlich will ich Sie nicht zu einer endgültigen Beurteilung dieses Themas drängen, denn schließlich finden diese unsere letzten Gespräche am Vorabend der Amtseinführung von Ronald Reagan statt. Dennoch die Frage: Welche Auswirkungen könnte diese Wahl auf die amerikanische Außenpolitik haben, insbesondere auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen?
Der Wahlkampf hat sicherlich neue Probleme geschaffen, wie das ja auch manche Wahl in der Vergangenheit schon getan hat. Die Beziehungen zwischen unseren Ländern sind für zu viele amerikanische Politiker, die für ein Amt kandidieren, zu einer Spielwiese geworden, auf der sie sich austoben. Eine Menge guter, vernünftiger Ideen blieb während dieses Wahlkampfs auf der Strecke, genauso wie eine beträchtliche Zahl fähiger politischer Führer, die über jahrelange Erfahrung in der Außenpolitik und in Fragen der Rüstungskontrolle verfügen. Was schließlich | |
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das Ergebnis der Wahl anbelangt, so ist es schwieriger, seine Auswirkungen auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen einzuschätzen. Schließlich waren diese unter Carter und Brzezinski schlecht genug, und wer weiß, was eine zweite Amtszeit dieser beiden alles gebracht hätte. Andererseits brachte der neue Präsident einiges an ideologischem Gepäck ins Weiße Haus mit - einschließlich der entsprechenden ideologischen Gepäckträger -, was die Aufgabe, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder ins Lot zu bringen, weiter erschweren kann.
In einem Fernsehinterview haben Sie kurz nach der amerikanischen Wahl gesagt, Reagan bewege sich auf die Mitte zu.
Ich glaube, die letzten Wochen des Wahlkampfs haben das sehr deutlich gezeigt, vor allem, was den Bereich der Außenpolitik und der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft. Es war z. B. offensichtlich, daß Reagan besorgt darüber war, er könnte als Kriegstreiber erscheinen, konnte das doch ihn und die GOPGa naar eind1 um den Sieg bringen. Tatsächlich erwuchsen aus dem Thema ‘Krieg und Frieden’ die größten Gefahren für Reagans Chancen auf einen Sieg. Reagan antwortete darauf mit dem Versuch, gemäßigtere Positionen einzunehmen, was ihm auch ohne Zweifel geholfen hat, die Wahlen zu gewinnen. Einige der Erklärungen, die er nach der Wahl abgab, ließen auch anklingen, daß er es für angebracht hielt zu zeigen, daß er sehr wohl um den Unterschied wisse, der zwischen einer Bewerbung um die republikanische Präsidentschaftskandidatur und der Ausübung der Regierungsgewalt besteht. Was das alles für die praktische Politik der neuen Regierung bedeutet, bleibt abzuwarten.
Die Verfechter einer harten Linie unter den Anhängern Reagans sind aber darauf eingeschworen, jegliche Mäßigung bei den Sachaussagen zu verhindern. Was ist zu den Gruppen der ‘Neuen Rechten’ zu sagen, die, wie sich herausstellte, eine so wichtige Rolle im Wahlkampf 1980 spielte?
Je näher ich die sogenannte ‘Neue Rechte’ betrachte, desto weniger neu erscheint sie mir. Sicherlich gibt es einige neue Gesichter, Organisationen und Taktiken, einige neue, sehr wesentliche Verbindungen zu jenen, die an der Spitze der amerikanischen Machtstruktur stehen, vielleicht auch eine neue Fähigkeit, aus den Ângsten und Frustrationen der amerikanischen Mittelklasse Kapital zu schlagen. Aber ihre Ziele sind die gleichen wie die der extremen Rechten vor 10, 20 oder 30 Jahren: mehr Milliarden für das Pentagon, die Vorbereitung auf einen nuklearen Entscheidungskampf mit der Sowjetunion, die Entsendung von Marine- | |
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infanteristen für den Fall, daß es zu Schwierigkeiten kommt, und schließlich das Herumstoßen der Verbündeten. Innenpolitisch treten sie für den Polizeistaat ein - dieses Mal vielleicht mit einer speziellen Polizei zur Überwachung der Gesinnung - und für alles, was sonst noch das alte Programm der extremen Rechten ausmacht.
Sehen Sie in der ‘Neuen Rechten’ eine ernstzunehmende, einflußreiche Kraft des politischen Lebens Amerikas?
Ich glaube, daß ihr Einfluß von den amerikanischen Medien ziemlich überschätzt wird, was z. T. auch deshalb geschieht, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von weniger in Erscheinung tretenden und wichtigeren Leuten des rechten Flügels abzulenken. Dennoch ist es denkbar, daß die Neue Rechte an Einfluß gewinnt, wenn sich die vielschichtige Krise der amerikanischen Gesellschaft weiter zuspitzt. Wenn die Bürger eines Landes den Eindruck gewinnen, es gehe bergab; wenn sich Enttäuschung breit macht über die wachsende Unfähigkeit der Gesellschaft und des Staates, jene Probleme zu lösen, denen man zu Hause wie auch draußen in der Welt gegenübersteht; wenn die alten Wege nicht mehr länger akzeptabel und zugleich neue noch nicht klar zu sehen sind - dann kann es sein, daß die skrupellosen Demagogen der extremen Rechten eine Chance haben. In der Regel ist es so, daß diese Leute nicht gerade die Gescheitesten sind, wenn es gilt, die komplexen Realitàten der heutigen Welt zu begreifen, wohl aber können sie recht clever sein, wenn es darum geht, die öffentliche Unzufriedenheit so zu steuern, daß ihnen ein Vorteil erwächst. Sie sind sich ihrer Sache so absolut sicher - oder sehen wenigstens so aus, als waren sie es -, daß gar mancher hilflose Kleinbürger in Versuchung kommen kann, ihnen zu folgen. Wenn es dazu käme, wäre das für alle Menschen eine Tragödie - Amerika selbst aber würde am meisten darunter leiden. Im Moment jedoch halte ich die Neue Rechte nicht für eine so starke Kraft. Amerika mag in Schwierigkeiten stecken, aber ich glaube, in einer so tiefen Krise noch nicht.
Präsident Reagan macht den Eindruck, als fühle er sich diesen Leuten zu Dank verpflichtet.
Ja, sie betrieben seine Kandidatur seit langem, und er möchte auch ihre Unterstützung nicht verlieren. Aber ich glaube, er hat ziemliche Schwierigkeiten, für sie Verwendung in seinem Regierungsapparat zu finden. Sie sind Ideologen und keine Politiker der Tat, noch dazu Ideologen einer ganz besonderen Art. William F. Buckley jr., ein ‘Neuer Rechter’ | |
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der vorhergehenden Generation, hat es einmal als die Aufgabe seiner Bewegung bezeichnet, sich dem Zug der Zeit in den Weg zu stellen und ‘Halt’ zu rufen. Erwachsene wissen, daß man mit der Eisenbahn keine solchen Spielchen treibt. Außerdem haben die ‘Neuen Rechten’ etwas an sich, das die Leute erschreckt - und zwar auch Leute aus dem Establishment. Es sieht heute so aus, als würden in der neuen Regierung nicht sehr viele wichtige Ämter an ‘Neue Rechte’ vergeben werden - vielleicht mit Ausnahme des Stabs des Nationalen Sicherheitsrates. Die Mitarbeiter der Reagan-Administration sind konservative Leute, einige davon sogar sehr konservativ, aber ich glaube, es verläuft zwischen ihnen und der Neuen Rechten eine Trennungslinie.
Was ist von der Reagan-Administration hinsichtlich der sowjetisch-amerikaniscken Beziehungen zu erwarten?
Ich glaube, niemand kann das heute mit Sicherheit sagen. In den Vereinigten Staaten braucht eine neue Administration für gewöhnlich mindestens ein Jahr, ehe sie mit allen Einzelheiten vertraut ist, selbst ein Regierungsapparat mit mehr Erfahrung und einer anderen ideologischen Ausgangsbasis. Was die Ideologie anbelangt, so möchte ich, nebenbei gesagt, ihre Auswirkungen auf die praktische Politik der US-Regierung nicht allzu vereinfacht darstellen. Ich erinnere mich an mehr als nur eine Administration mit liberalen Neigungen, mit der wir am Anfang große Schwierigkeiten hatten.
Aber es sieht so aus, als würde es Reagan ernst meinen, wenn er von einer härteren Gangart spricht: ‘Meine Haltung der Sowjetunion gegenüber kann in einem Satz beschrieben werden. Wir erklären dem russischen Reich, daß wir keine weiteren Zugeständnisse mehr machen werden, wenn es nicht im Gegenzug ebenfalls zu Zugeständnissen kommt.’Ga naar eind2
Falls Reagan von Gegenseitigkeit spricht, so handelt es sich dabei genau um das Prinzip, auf dem wir unsere Beziehungen zu den USA aufbauen möchten - auf gegenseitigen Zugeständnissen und Kompromissen. Schließlich haben uns die USA nie einseitige Vorteile gewährt. Nehmen Sie die Entspannung, die Abmachungen zur Rüstungskontrolle, die Verbesserung der politischen Atmosphäre - all das beruhte auf gegenseitigen und nicht auf einseitigen Zugestàndnissen. Ist damit gemeint, die Aufrechterhaltung des Friedens sei ein einseitiges Zugeständnis Amerikas gewesen? Natürlich beruhten unsere Beziehungen auf der Basis der Gegenseitigkeit, wie das ja auch zwischen gleichberechtigten Partnem der Fall sein | |
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muß. Aber vielleicht beabsichtigte Reagan damit gar nicht, das Offenkundige erneut zum Ausdruck zu bringen? Es scheint, daß seine Feststellungen über die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen darauf abzielten, einen Schatten von Argwohn auf all jene Vereinbarungen zu werfen, die unsere beiden Staaten vor ihm getroffen haben. Falls dies mit der von Ihnen zitierten Erklärung beabsichtigt war, gibt das zur Besorgnis Anlaß, bedeutet es doch, daß - entgegen seinen eigenen Worten - von der Sowjetunion einseitige Zugeständnisse gefordert werden; darauf einzugehen, war die Sowjetunion nie bereit und wird es auch nie sein.
Bei den Hearings vor dem außenpolitischen Ausschuß des Senats anläßlich seiner Nominierung für das Amt des Außenministers sagte Alexander Haig: ‘Wir müssen für unsere Ideale kämpfen.’Ga naar eind3 Aus dem Munde eines Generals hört sich das alarmierend an.
Wir erwarten von den Vereinigten Staaten nicht, daß sie ihren Idealen entsagen, genausowenig, wie wir unseren entsagen werden. Das ist ein grundlegendes Prinzip der friedlichen Koexistenz. In diesem Sinne mag an Haigs Worten nichts auszusetzen sein. Aber wenn Haig dabei von Idealen spricht, wie z. B. von gottgegebenen Notwendigkeiten und von amerikanischen Ansprüchen auf besondere Rechte und Privilegien, was internationale Angelegenheiten anbelangt, so verspricht eine solche Haltung neue Probleme in der Welt zu schaffen. Auch bin ich nicht sicher, ob Haigs Vorstellungen von dem Begriff ‘kämpfen’ hinreichend zivilisiert sind. Einige Amerikaner geben ihrer Besorgnis Ausdruck, daß die Vereinigten Staaten eine Zeitlang zwei Verteidigungsminister und keinen Außenminister haben werden. Im Rahmen dieser Anhörungen traf Haig, nebenbei gesagt, auch folgende Feststellung: ‘Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Frieden.’ Nun, das klingt reichlich ominös, und es wundert mich nicht, daß es so negative Reaktionen in Westeuropa hervorrief. Wenn sich die amerikanische Politik solche Ideen zur Leitlinie wählt, wird niemand darauf Gewinn ziehen und Amerika wird der größte Verlierer sein.
Offenbar fördern solche Erklärungen nicht gerade optimistische Erwartungen.
Sicher nicht. Andererseits waren auch einige andere Stellungnahmen zu hören. Während seiner Wahlkampfauseinandersetzungen mit Präsident Carter beschrieb Ronald Reagan seine Haltung gegenüber der Sowjetunion als Partner bei der Rüstungskontrolle folgendermaßen: ‘Wir werden mit ihnen Solange verhandeln, wie es sich als notwendig erweist, | |
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um eine vernünftige Reduzierung der nuklearen Waffen zu erreichen, so daß keiner von uns für den anderen eine Bedrohung darstellt.’ Falls das Präsident Reagans Standpunkt sein sollte und die Verhandlungen unvoreingenommen aufgenommen werden sollten, dann besteht Hoffnung auf eine Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Die Sowjetunion würde keine Zeit verlieren und auf eine solche Verbesserung hinarbeiten.
Aber es sind so viele gegenteilige Worte gesagt worden...
Wissen Sie, die Welt hat so oft erlebt, daß positive Versprechen gebrochen wurden, so daß es vielleicht an der Zeit ist, einige negative zu brechen. Wenn jedoch die negativen Versprechungen eingehalten werden, dann steht uns allen mit großer Wahrscheinlichkeit ein Wettrüsten von unverminderter Heftigkeit bevor, was zur wahrscheinlich gefährlichsten Phase der Menschheit in der Nachkriegsgeschichte führen würde. Die politischen Entwicklungen werden dann von Tendenzen verstärkt, die, einerlei wer gewählt wurde und wer welches Regierungsamt inne hat, wirksam werden. Ich denke hierbei zuallererst an die Beschleunigung der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung, die viele neue tödliche Waffenarten hervorbringen, wie auch die Gefahr der Weiterverbreitung nuklearer Waffen erhöhen kann.
Richard Barnett hat darauf hingewiesen, daß im Jahr 2000 schon etwa 100 Länder in der Lage sein werden, Nuklearwaffen herzustellen.
Gut möglich, und einige könnten sich tatsächlich für Nuklearwaffen entscheiden, wenn die Welt nichts unternimmt und die Zeit verstreichen läßt. Die jüngsten Entwicklungen bei der Weiterverbreitung sind in der Tat sehr alarmierend. Es gab Berichte, wonach Südafrika und Israel eine Bombe gezündet haben bzw. daß Peking Pakistan angeboten hat, seine erste Bombe auf chinesischem Territorium zu testen. Hier kommen wir auf einen weiteren sehr gewichtigen Faktor zu sprechen, den wir auch schon vorher erwähnt haben und der dazu führt, daß sich die Ereignisse der achtziger Jahre nur sehr schwer vorhersehen lassen: nämlich die zunehmende Zahl derer, die an der Weltpolitik teilhaben werden. Um auf die Vereinigten Staaten zurückzukommen, mir scheint, daß unvorhersehbare, reflexhafte Reaktionen immer typischer werden für das amerikanische Verhalten in weltpolitischen Angelegenheiten. | |
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Bisweilen ist das vielleicht absichtlich so. Richard Nixon ist ein aktiver Verfechter der ‘mad president’-Theorie, laut der Amerikas internationaler Einfluß zunimmt, wenn die andem glauben, dem Präsidenten sei alles zuzutrauen, bis hin zu einem völlig unverantwortlichen Handeln. Ich wurde daran erinnert, als ich von dem im April 1980 unternommenen Versuch hörte, die amerikanischen Geiseln im Iran zu befreien.
Besteht Ihrer Meinung nach überhaupt Aussicht auf eine Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen?
Auf lange Sicht ist das fast unvermeidlich, weil es im wahrsten Sinne des Wortes keine akzeptable Alternative zur Entspannung gibt. Sollte es jedoch in naher Zukunft zu einer spürbaren Verbesserung kommen, so wäre das eine angenehme Überraschung. Auch bin ich überzeugt, je später es zu solch einer Wende kommt, desto größere Anstrengungen sind erforderlich, um das wieder aufzubauen, was so übereilt zerstört wurde.
Wenn wir hier die Möglichkeit, die Entspannung in naher Zukunft zurückzuerlangen, nur als eine angenehme Überraschung bezeichnen, dann sind die Aussichten für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und für die internationale Lage insgesamt sehr düster.
Lassen Sie mich das näher erklären. Wir stehen bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen am Scheideweg. Es muß eine Entscheidung getroffen werden, wohin die Reise gehen soll - größeren Spannungen entgegen, in die Schützengräben eines weiteren Kalten Krieges oder in die Richtung von Verhandlungen, Entspannung und Zusammenarbeit. Sehr viel wird davon abhängen, was in allernächster Zukunft geschieht - also 1981. Unglücklicherweise hat dieses Jahr mit einer sehr schwierigen Situation begonnen. Unbestreitbare Tatsache ist nun einmal, daß die gegenwärtigen Tendenzen in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten und einiger anderer Länder sehr negative Auswirkungen auf die weltpolitische Lage haben können. Man muß aber auch die gegenläufigen Tendenzen sehen, die heutzutage wirksam sind und das gewiß auch in den achtziger Jahren bleiben werden. Diese Tendenzen resultieren aus sehr konkreten, und ich möchte hinzufügen, immer zwingender werdenden Interessen der beiden Länder und der ganzen Welt, nämlich aus dem Interesse an der Sicherung des Friedens, an einem Abbau der Bürde, die das Wettrüsten darstellt, und an einer Entwicklung der Zusammenarbeit. Wenn ich die langfristigen Entwicklungen betrachte, so bin ich nach wie vor überzeugt, daß die positiven und realistischen Tendenzen wieder erheblich stärker werden | |
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und daß sie angesichts der tatsächlichen Probleme, denen wir gegenüberstehen, noch mehr an Relevanz gewinnen.
Warum sind Frieden und Koexistenz in diesem Jahrzehnt noch maßgeblicher?
Ich möchte nicht behaupten, daß meine Beurteilung der Lage frei von Emotionen ist - ich möchte, daß es so ist. Und das ist nicht nur meine persönliche Haltung. Ich bin sicher, daß ich hier die allgemeine sowjetische Haltung wiedergebe. Ich glaube, die meisten Europäer und Amerikaner fühlen genauso. Aber hinter dieser Haltung steht mehr als nur Gefühle. Meine Analyse läßt mich zu dem Schluß kommen, daß eine Politik, die auf eine Rückkehr des Kalten Krieges abzielt, nicht von allzu großer Dauer sein kann, und zwar deshalb nicht, weil ihre Ziele weder mit den vitalen Interessen der Staatengemeinschaft - die Vereinigten Staaten eingeschlossen - in Einklang zu bringen, noch zu erreichen sind. Die militärische Aufrüstung und das Vorantreiben des Wettrüstens, so wird gesagt, seien für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit der USA erforderlich - tatsächlich aber ist es das Wettrüsten, das die Hauptgefahr für diese Sicherheit darstellt. Die Bemühungen um militärische Überlegenheit sind genauso verkehrt, denn es ist ausgeschlossen, daß Amerika oder irgend jemand sonst sie erlangen kann. Die Wiederbelebung der Interventionspolitik ist gleichermaßen sinnlos imd gefährlich. Ich glaube nicht, daß selbst die denkbar beste ‘mobile Eingreifreserve’ eine Situation wie die im Iran hätte verhüten können. Außerdem werden die USA kaum in der Lage sein, ein größeres oder besseres Expeditionskorps aufzustellen als das in Vietnam besiegte. Keinerlei militärische Kraft wird je in der Lage sein, einen ununterbrochenen Ölstrom aus dem Nahen Osten zu garantieren. Noch halte ich das Nato-Programm für realistisch, das eine stetige Steigerung der Rüstungsausgaben in den nächsten Jahren vorsieht.
Erwarten Sie, daß der Westen wegen dieses Programms bankrott macht?
Nein, aber für Kanonen und Butter zugleich zu sorgen, wird in zunehmendem Maße problematischer. Amerika stehen, wie vielen anderen Ländern, magere Jahre ins Haus. Die Unruhen von Miami Beach von 1980 waren eine unerbittliche Erinnerung daran, daß sich in den amerikanischen Städten ein Pulverfaß aus Groll und Unzufriedenheit anfüllt. Sogar für das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft zu sorgen und ihren Energie- und Rohstoffbedarf zu decken, wird immer schwieriger, | |
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was auch für die Wahrung von Amerikas Stellung auf dem Weltmarkt gilt. Unter diesen Umständen werden viele Dinge zu einem Luxus, den man sich nicht mehr länger leisten kann.
An welchen Luxus denken Sie dabei?
An uneingeschränktes Wettrüsten, an Spannungen und an das Fehlen von Zusammenarbeit. Wenn wir für unser Überleben und für ein leidlich gutes Leben auf diesem immer kleiner und immer komplexer werdenden Planeten Sorge tragen wollen, dann werden wir unser Verhalten ändern müssen. Ich fürchte, die Erde ist für eine gesteigerte internationale Rivalität zu zerbrechlich. Zusammenarbeit wird zum Gebot der Stunde, wenn wir überleben und ein annehmbares Dasein führen wollen.
Heißt das, daß die Probleme und Schwierigkeiten, denen die beiden Länder und die Welt ganz allgemein gegenüberstehen, bei der Verbesserung der Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten letztlich die treibende Kraft sein werden?
Aus dem einen oder anderen Grund erweisen sich Gefahren und Schwierigkeiten als stärkerer und wirkungsvollerer Ansporn für eine Zusammenarbeit als abstrakte Erwägungen über den gegenseitigen Nutzen. Angesichts der Aggression Hitlers brauchten Amerikaner, Briten, Franzosen, Holländer und andere nicht sehr lange, um unsere Verbündeten zu werden. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir, sollten außerirdische Wesen in feindlicher Absicht auf unserem Planeten auftauchen, über Nacht wieder zu Verbündeten werden würden. Immer dann, wenn es einen besonders greifbaren gemeinsamen Feind gibt, insbesondere einen tödlichen Feind, wird die Zusammenarbeit sehr leicht. Unglücklicherweise ist es weitaus schwieriger zusammenzuarbeiten, wenn die Bedrohung nicht so deutlich verkörpert wird und personifiziert ist, auch wenn diese Bedrohungen genauso ernst sind wie der Kerl, der mit der Pistole auf uns zielt.
Welche tödlichen Gefahren könnten letztlich Ost und West enger zusammenbringen?
Nun, eine offensichtliche Gefahr ist die Kriegsgefahr, die wir schon ausführlich erörtert haben. Eine weitere ist die Verschlimmerung weltweiter Probleme wie die Ver- | |
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sorgung mit Energie und Rohstoffen, das Problem der Ernährung, des Umweltschutzes und der Armut in der Dritten Welt. Man kann über die Genauigkeit der Schätzungen des Club of Rome und anderer Experten streiten. Aber ich glaube, daß sie ein echtes Problem ansprechen. Es wird erwartet, daß die Weltbevölkerung von gegenwärtig 4,5 Milliarden Menschen auf über 6 Milliarden im Jahr 2000 anwächst, d.h., wir werden in den nächsten beiden Jahrzehnten Aufgaben bewältigen müssen, die früher in Jahrhunderten bewältigt wurden. Die Nachfrage nach Rohstoffen wird unerhört zunehmen, besonders die nach Energieträgern. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln wird schwieriger zu bewerkstelligen sein. Falls die gegenwärtigen Tendenzen anhalten, wird die Zahl der Arbeitslosen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1 Milliarde anwachsen.
Und Sie erwarten, daß das unabweisbare Gebot, für diese Probleme Lösungen zu finden, ein mächtiger Ansporn zur Entspannung und Zusammenarbeit sein wird?
Ja. Um einen Satz von Präsident Carter aufzugreifen, diese Bedrohungen können als moralisches Äquivalent zum Krieg aufgefaßt werden, in dem Sinn, daß sie die größtmöglichen Anstrengungen erfordern und die Zusammenarbeit aller Staaten notwendig machen, in erster Linie die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten.
Bedrohungen und Ängste bleiben starke Antriebskräfte, wenn es darum geht, vernünftig zu handeln.
Nun, die Menschheit befindet sich immer noch in einer Entwicklungsphase, deshalb ist das verständlich. Außerdem gibt es die Bedrohungen tatsächlich, sie sind nicht nur ein Mythos. Was die Angst anbelangt, so bleibt sie eines der stärksten menschlichen Gefühle. Das Wichtige dabei ist, daß sie nicht mißbraucht und fehlgeleitet wird. Ich würde es sehr viel lieber sehen, wenn Barmherzigkeit und Liebe die Beweggründe der Menschen wären, aber dazu sind wir noch nicht reif genug.
Sie erwarten von mir wohl nicht, daß ich glaube, Sie würden solche Gefühle für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen für wichtig erachten. | |
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Nein, und zwar nicht aus Zynismus heraus. Vielleicht kommt es hier in der Zukunft zu Veränderungen - heute jedoch sprechen wir nicht von Liebe, sondern von einer vernünftigen und genauen Wahrnehmung der eigenen Interessen. Als Russe muß ich Amerika nicht gleich lieben, um für gute sowjetisch-amerikanische Beziehungen einzutreten - es ist ausreichend, wenn ich ein zutiefst überzeugter sowjetischer Patriot bin, sind doch solche Beziehungen im Interesse meines Landes. Das gleiche gilt für jeden Amerikaner. Es ist nicht erforderlich, daß der einzelne die Russen oder die Kommunisten liebt, nicht einmal, daß er den Russen vertraut, um gute Beziehungen zur UdSSR anzustreben. Es genügt, wenn jemand ein guter amerikanischer Patriot ist und sein Land liebt. Sicherlich, falls nach einiger Zeit zu diesen rationalen Überlegungen und Eigeninteressen noch freundliche Gefühle hinzukommen, so ist das nur hilfreich. Aber in diesem Moment stellt das einen weiteren Luxus dar, auf den wir verzichten können.
Aber werden die Russen, die Amerikaner und alle anderen vernünftig genug sein, um diese Bedrohungen zu vermeiden?
Auf lange Sicht, glaube ich, wird das der Fall sein - vorausgesetzt, sie überleben bis dahin. Ich denke, der bekannte sowjetische Wissenschaftler und Nobelpreisträger Nikolai Semjonow hat das Problem sehr treffend formuliert. Er vertritt die Ansicht, daß die Menschheit entsprechend den Kriterien und Gesetzmäßigkeiten sowohl organischer als auch anorganischer Natur aus dem Stadium der frühen Kindheit noch nicht herausgekommen ist. Wenn sie sich weiterentwickelt und heranreift, wird es kein Problem geben, das sie nicht lösen könnte. Die Gefahr besteht darin, daß sie in der ‘Kindheit’ einige fürwahr üble, nicht mehr zu korrigierende, unwiderrufliche Fehler begeht. Semjonow denkt dabei an zwei Möglichkeiten: an einen Atomkrieg und an einen nicht mehr gutzumachenden Zusammenbruch des Gleichgewichts zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt.
Welche Prognose würden Sie der Menschheit stellen: Gedeihen oder Verderben?
Wissen Sie, jede Vorhersage von gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen ist unweigerlich bis zu einem gewissen Grad wertorientiert und programmatisch. Das ist anders als bei der Wetter- oder Erdbebenvorhersage. Wir nehmen an den Geschehnissen teil und wir treffen | |
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Vorhersagen, damit wir sie besser beeinflussen können, damit wir sie nach Möglichkeit in den Griff bekommen. Der programmatische Leitfaden, der in meine Vorhersage eingeht, ist die Entspannung. Die Verbindung, die zwischen der Entspannung und der Verhütung eines Krieges besteht, liegt offen zutage. Was die weltweiten Probleme anbelangt, so werden sie durch die Entspannung an sich nicht gelöst, aber ohne Entspannung ist es zwecklos, auch nur daran zu denken, mit ihrer Lösung zu beginnen. Worauf ich hinaus will, ist dies: das Überleben, ja sogar Wohlstand, sind sehr wohl möglich, aber eine Vorbedingung dafür ist die friedliche Koexistenz und die Entspannung.
Aber wie findet man auf den Weg der Entspannung zurück? Wann werden beide Seiten reif genug sein, um ihre Notwendigkeit zu begreifen?
Ich kann Ihnen versichern, daß man sich in der Sowjetunion nach wie vor dessen bewußt ist, daß die Entspannung im allgemeinen und normale Beziehungen mit den Vereinigten Staaten im besonderen eine Notwendigkeit sind.
Professor Dieter Senghaas von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung bemerkte kürzlich, daß niemand auf der Welt wirklich weiß, was Moskau denkt.
Ich halte das für eine Feststellung, die von Unwissenheit zeugt. Es ist weithin anerkannt, daß die sowjetische Außenpolitik folgerichtiger und vorhersehbarer ist als die Politik vieler anderer Länder. Es ist keineswegs schwierig, in Erfahrung zu bringen, was man in Moskau denkt. Außerdem unterhalten wir mit praktisch allen Ländern die Art von Beziehungen, die es erlaubt, im Bedarfsfall Fragen zu stellen. Das wäre, was ich Professor Senghaas antworten könnte.
Er hat möglicherweise dabei an die allerjüngste Vergangenheit gedacht, also an die Zeit seit Ende 1979, als die Verschlechterung der weltweiten Situation zu einem Zusammenbruch des Dialogs führte und zu einer allgemeinen Schwächung der Kontakte.
Jede Verschlechterung dieser Art hat unausweichlich solche Folgen, und zwar nicht nur weil die Kontakte erschwert werden. Mir scheint, daß Spannungen immer nachhaltige emotionale Auswirkungen auf das Denken der Menschen haben und auf ihre Fähigkeit wahrzunehmen und zu begreifen. Jemand, der von Emotionen wie Haß und Hurrapatriotis- | |
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mus erfüllt ist, ist ein schlechter Partner für einen Dialog, weil ihm die Fähigkeit, zu verstehen und verstanden zu werden, abhanden gekommen ist.
Nein, die Umstände für eine Rückkehr zur Entspannung sind im Moment wahrhaftig nicht günstig. Die Welt wird warten müssen, bis das Pendel wieder auf die andere Seite ausschlägt, ehe sich neue Möglichkeiten ergeben werden.
Herkömmliche Einsicht würde genau dies nahelegen: Wie bei einem Familienstreit sollte man sich abwartend verhalten, bis sich die Leidenschaften gelegt haben, und erst dann wieder Frieden schließen. Aber die Logik des politischen Geschehens paßt sich nicht herkömmlichen Einsichten an. Ginge es nach herkömmlichen Einsichten, hätte die Entspannung nicht einmal eingeleitet werden können. In den frühen siebziger Jahren waren nicht nur die Leidenschaften in hellem Aufruhr, sondern es gab auch einen Krieg - den Krieg in Vietnam. Junge Amerikaner starben in diesem Krieg, viele durch Waffen, die aus der Sowjetunion stammten. Junge Männer aus der Sowjetunion starben in Haiphong und Hanoi durch amerikanische Bomben und Minen. Das Verhalten Amerikas war von unserem Standpunkt aus zügellos und unglaublich: in Vietnam, im Nahen Osten und an anderen Orten. Man kann sich gut vorstellen, daß es in unserer Politik viele Dinge gab, die Washington nicht behagten. Das erste Gipfeltreffen hing an einem seidenen Faden. Und dennoch wurde die Entspannung eingeleitet. Hätten wir aber auf günstigere Umstände gewartet - was hätten wir dabei gewonnen?
Glauben Sie, daß diese Frage auch heute wieder zutrifft?
Ja, es wäre keineswegs sinnvoll abzuwarten, bis die Situation für eine Rückkehr zur Entspannung günstiger geworden ist. Die gegenwärtigen Tendenzen sind dergestalt, daß die Situation möglicherweise nicht von selbst zur Ruhe kommen kann. Man kann damit rechnen, daß die Spannungen weiter zunehmen, wenn wir nur warten und nichts unternehmen. Mit anderen Worten, die Zeit arbeitet nicht für uns.
Gut, nur irgend jemand muß den ersten Schritt machen.
Ich glaube nicht, daß wir die Situation unter diesem Blickwinkel betrachten sollten. In diesem Augenblick besteht das Problem nicht darin, daß niemand wagt, das erste Wort zu sagen, weil man nicht der sein möchte, | |
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der die Nerven verliert, oder weil man Angst hat, zurückgewiesen zu werden, oder einfach nur aus Vorsicht. Wir haben einen Versuch unternommen und wären abermals dazu bereit, aber so, wie es von Moskau aus gesehen den Anschein hat, wollte die US-Regierung bis zum heutigen Tag (d.h. bis zum Januar 1981) einfach keine Minderung der Spannungen.
Würde sich die Situation ändern, wenn die Sowjetunion den Amerikanern einen Schritt entgegenkäme und, sagen wir, mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan beginnen würde?
Wenn Sie darunter auch eine politische Lösung des Afghanistanproblems verstehen, so sind wir uneingeschränkt dafür. Das ist unsere offizielle Haltung. Auch die afghanische Regierung unterstützt eine politische Lösung. Wenn Sie aber damit den Abzug unserer Militàrkontingente aus diesem Land meinen, ohne daß eine Lösung getroffen wird - was würde das schon bringen? Die Bestätigung dafür, daß die Sowjetunion nur die Sprache der Drohungen, der Erpressung und des Drucks versteht? Ich habe ganz massive Zweifel, ob dadurch irgendwelche Möglichkeiten geschaffen würden, um die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen auf den Weg der Entspannung zurückzubringen. Außerdem gibt es ja die Probleme, die zu der gegenwärtigen Situation in Afghanistan führten. Die Gründe, die uns bewogen haben, ein militärisches Kontingent dorthin zu entsenden, müssen beseitigt werden.
Welche weiteren, konkreten Schritte könnten unternommen werden, um die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder ins Fahrwasser der Entspannung zurückzubringen?
Ich glaube nicht, Herr Oltmans, daß wir - Sie und ich - so beschlagen sind, um bestimmte diplomatische Maßnahmen zu erörtern. Vorausgesetzt, daß auf beiden Seiten die Absicht besteht, zur Entspannung zurückzukehren, sollte es nicht allzu schwierig sein, eine Möglichkeit zu finden, um einen ersten Schritt in diese Richtung zu tun. Haben wir nicht schon einmal erlebt, daß ein Tischtennisturnier einen ernsthaften ersten Schritt zur Aufnahme von Beziehungen darstellte?
Allerdings. Aber es gibt da noch eine andere Frage: Sollte die amerikanische Seite, die nach Ihrer Ansicht diese Beziehungen verdorben hat, auch den ersten Schritt zu deren Verbesserung tun? | |
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Ganz allgemein gesprochen wäre es nur logisch, zumal in vielen Fragen - an erster Stelle ist hier die Ratifikation von SALTII zu nennen - die Amerikaner am Zug sind. Aber ich denke nicht, daß die Sowjetunion die Frage, wer den ersten Schritt tun sollte, zum Prinzipienstreit erheben will. Ganz im Gegenteil: Im Verlauf des Jahres 1980 hat sie bereits eine Reihe von Schritten unternommen, die man als Einladung an die amerikanische Führung betrachten kann, unsere Beziehungen zu normalisieren.
Welche zum Beispiel?
Beispielsweise die Unterbreitung des Vorschlags, sofort Verhandlungen über die Begrenzung der nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa aufzunehmen, und zwar in Verbindung mit dem dortigen amerikanischen System der Vorwärtsverteidigung, sowie unsere neuen Vorschläge zu den Wiener Gesprächen. Unsere Bereitschaft, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern und mit der neuen amerikanischen Regierung in einen Dialog einzutreten, wurde wiederholte Male in öffentlichen Erklàrungen unserer Führung zum Ausdruck gebracht, wie auch in Gesprächen mit Senator Charles Percy im November 1980 und bei vielen weiteren Gelegenheiten.
Falls es ein zweites Mal zur Entspannung kommen sollte, in welcher Hinsicht sollte sie dann besser angelegt sein als die erste Entspannungsperiode?
Zum einen ware zu sagen, daß die Rüstungsbegrenzung wàhrend der Entspannung weit hinter dem Fortschritt auf politischem Gebiet zurückblieb. Um genauer zu sein, das Wettrüsten wurde fortgesetzt und sogar noch verstärkt, obwohl es zu politischen Fortschritten, zu atmosphärischen Verbesserungen und sogar teilweise zu Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle kam. Dadurch geriet die Entspannung in große Bedrängnis, wie Leonid Breschnew bereits 1973 gewarnt hatte. Das Bestellen gegenläufiger Tendenzen zur gleichen Zeit konnte unmöglich lange andauern. Deshalb lautet die Lehre daraus; den Problemen der Rüstungsbegrenzung muß größere Aufmerksamkeit gewidmet werden, und sie müssen schneller und tiefgreifender gelöst werden. Und selbstverständlich sollten keine Versuche unternommen werden, militärische Überlegenheit zu bewahren oder wieder zu erlangen - es muß zu wesentlich stärkeren Einschränkungen bei den militärischen Programmen kommen. | |
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Eine weitere wertvolle Lehre aus der ersten Entspannungsperiode ist die, daß es sich dabei nicht um ein neues geologisches Zeitalter handelt, das Tausende, wenn nicht gar Millionen von Jahren währt, sondern um eine Situation, die einige Möglichkeiten eröffnet, die dann auch entsprechend schnell genutzt werden sollten. Es ist wichtig, daß man ständig Ergebnisse erzielt. Ich würde den Entspannungsprozeß mit dem Radfahren vergleichen: je schneller, desto sicherer - kein Stillstand. Zu einer weiteren Beobachtung. Ich habe bemerkt, daß unsere westlichen Partner, besonders die Amerikaner - und hierbei spreche ich nicht von führenden Regierungsvertretern, sondern von einigen sehr einflußreichen politischen und akademischen Kreisen-unter dem durchaus akzeptablen Vorwand, sich greifbarere Resultate zu wünschen, anfingen, wachsende Skepsis an den Tag zu legen. Nahezu von den allerersten Schritten der Entspannung an nahmen sie in gewisser Weise eine abwertende Haltung ein, was die Bedeutung der Gesamtatmosphäre der Beziehungen, der weiteren Arbeit an allgemeinen Prinzipien und anderen ähnlichen Problemen betraf.
Nun, Sie haben aber selbst gesagt, daß die abwertende Haltung gegenüber mehr allgemeinen Themen von dem schlichten Verlangen motiviert gewesen sein könnte, greifbare Resultate auf bestimmten Gebieten zu erzielen.
Das könnte sein. Aber unglücklicherweise fehlt solch einem Verlangen oftmals die Grundlage und läßt es sich unmöglich verwirklichen. Mir scheint, daß diese Leute tatsächlich unterschätzten, welches Maß an Arbeit geleistet werden mußte, um eine feste Grundlage für Beziehungen zu schaffen, die die Kluft, die durch die Asymmetrien im politischen Denken und in den politischen Ansätzen bedingt ist, überbrücken zu können - einfach, um zu lernen, die andere Seite, ihre Besorgnisse, ihre Ängste und ihre Enttäuschungen besser zu verstehen. Ein kluger amerikanischer Freund von mir hat das einmal so ausgedrückt: Wenn man bei der Beurteilung der anderen Seite gleich das Schlechteste annimmt und alle kleineren Übel ausschließt, könnte tatsächlich das Schlimmste heraufbeschworen werden. Ich möchte noch auf ein weiteres, sehr wesentliehes Problem hinweisen, darauf nämlich, wie wichtig es ist, an der Schaffung von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen zu arbeiten. Die Bedeutung, die dem zukommt, sollte nicht nur von der Regierung, sondern auch von den Medien erkannt werden. Die Entspannung liegt im Interesse der überwiegenden Mehrheit. Aber das bedeutet, daß man für sie eine Anhängerschaft schaffen muß, die so breit wie möglich ist, sich artikuliert, sowie aufgeklärt und politisch aktiv ist. | |
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Nichts von alledem ist leicht.
Richtig. Aber nur diese Dinge können die Entspannung - die ‘zweite Entspannung’, wenn man so will - dauerhaft machen. Die Erfahrungen, die wir mit den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen gemacht haben, zeigen unmißverständlich, daß es eine quälend harte Arbeit ist, die Überbleibsel des Kalten Krieges auszuräumen, Zurückhaltung an den Tag zu legen, für das gegenseitige Verständnis zu arbeiten, Lösungen zu suchen, die für beide Seiten akzeptabel wären, Kompromisse zu schließen - kurzum all das zu tun, was für die Entspannung erforderlich ist; diese Arbeit erfordert große Anstrengungen, Geduld, Weisheit und politischen Mut. Entspannung verlangt diese Qualitäten in einem ungleich höheren Maß, als dies der Kalte Krieg tut, mit seinen gefühlsgeladenen Ausbrüchen und seiner Zurschaustellung von politischer Männlichkeit bzw. Kraftmeierei. Entspannung ist zugegebenermaßen schwer zu betreiben. Aber ich bin sicher, daß nur die Entspannung die geeignete Elle ist, um im Atomzeitalter politische Führer zu messen und auf die Probe zu stellen. Heute ist die richtige Wahl der Politik wichtiger als je zuvor. In der Tat stehen nicht mehr viele Wege offen. In letzter Konsequenz gilt die ewige Wahrheit, die vor langer Zeit Plato ausgesprochen hat: ‘Jeder muß sein Leben in Frieden leben, so lang, und so gut wie möglich.’
Darf ich eine persönliche Frage an Sie richten. Wir haben in unserer Diskussion ein breites Spektrum an Problemen erörtert. Wie betrachten Sie die Dinge persönlich, als Mensch, als Bürger Arbatow?
Ich glaube, ich sollte wiederholen, was ich einmal in Newsweek geschrieben habe, denn ich bin sicher, daß dieser Gedanke in der Sowjetunion von den meisten Menschen meiner Generation geteilt wird. Mein Vater zog in den Krieg, als er 18 war. Ich zog in den Krieg, als ich 18 war. Wir hatten beide Glück - wir kamen wieder zurück nach Hause. Und ich bin sehr froh, daß mein Sohn, der jetzt 30 ist, in keinem Krieg kämpfen mußte. Denn aus dem Krieg, der die Menschheit heutzutage bedroht, wird niemand mehr heimkehren. Und es wird keine Sieger geben.
Hegen Sie Sympathien für jene jungen Leute von heute, die pessimistisch in die Zukunft blicken und die Hoffnung auf eine vernünftigere und friedlichere Welt aufgegeben haben?
Antonio Gramsci bezeichnete als die beste Verbindung, die Pessimismus | |
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und Optimismus im menschlichen Gemüt eingehen können, den Pessimismus des Verstandes und den Optimismus des Willens. Ich glaube, er meinte damit, daß die Menschen in der Lage sein sollten, all die Bedrohungen und widrigen Tendenzen zu sehen und zu erkennen, daß sie aber entschlossen sein sollten, diese zu überwinden und eine bessere Welt zu errichten. Unglücklicherweise erleben wir recht oft die umgekehrte Verbindung, wenn die Leute nâmlich vor einer wirklich unerbittlichen kritischen Überprüfung der Realität zurückschrecken und sich hilflos und verzagt den Krisen ausgeliefert fühlen. Mich persönlich würde es schaudern, das Schicksal der Welt einer Generation anzuvertrauen, die die Hoffnung verloren hat. Sicher, einige der gegenwärtigen Herausforderungen sind einzigartig, was das Ausmaß der Gefahr anbelangt, die sie für die Menschheit bedeuten. Aber nach all dem, was meine Generation zu meinen Lebzeiten erfahren hat, bin ich überzeugt, daß die Menschheit über die Mittel verfügt, um sich mit diesen Herausforderungen zu messen. Der entscheidende Faktor ist der Wille, diese Herausforderungen anzunehmen. Ich denke nicht, daß die gesamte Jugend von heute pessimistisch ist. Diejenigen, die es sind, kann ich in gewissem Maß verstehen. Sie stoßen auf ernste Probleme und erfahren tiefe Enttäuschungen. Und man sollte ihnen dafür nicht die Schuld geben. Nach meinem Dafürhalten trägt die ältere Generation hier eine große Verantwortung. Wir müssen der Jugend nicht nur die Hoffnung auf ein besseres Leben auf diesem Planeten erhalten, sondem auch den Planeten selbst. |