Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse taal- en letterkunde (nieuwe reeks). Jaargang 1991
(1991)– [tijdschrift] Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse taal- en letterkunde– Auteursrechtelijk beschermd
[pagina 44]
| |
Louis Couperus: ‘De boeken der kleine zielen’ ‘een Haagse roman’?
| |
Ein Roman der guten GesellschaftIn diesem Roman wendet Couperus aufs neue seine Aufmerksamkeit dem Milieu zu, das er schon in Eline Vere geschildert hat: das der gehobenen Gesellschaftsschicht in Den Haag. Doch der Untertitel ist weggefallen: Eline Vere wurde ‘een Haagse roman’ genannt. Die Frage meldet sich, ob Couperus die literarische Geographie des neuen Werkes anders eingeschätzt hat, ob er ihr eine andere Rolle zugeschrieben hat. Daß Eline Vere ein Frauenschicksal darstellt, das von einem bestimmten, deutlich lokalisierbaren Milieu determiniert ist, steht außer Zweifel. Die Krankengeschichte der Hauptperson dramatisiert sich durch Konfronta- | |
[pagina 45]
| |
tionen mit den Normen und Sitten ihrer sozialen UmweltGa naar voetnoot(5). In De boeken greift Couperus zu demselben Milieu. Seine Schilderung nimmt ihren Ausgangspunkt in dem großen, vornehmen Haus der Familie Van Lowe in der Alexanderstraat in Den Haag. Insofern ist das Werk ein Beispiel für den europäischen Gesellschaftsroman seiner Zeit, der sein Interesse auf die Welt der Vornehmen, auf die ‘empirische Demographie der guten Gesellschaft’ richtetGa naar voetnoot(6). Doch die geläufige Rubrizierung des Werkes als ein ‘Haager Roman’ ist problematisch. Nachdem Couperus im ersten Teil des Werkes den Leser mit größter Sorgfältigkeit in die gesellschaftlichen Rituale der Welt der ‘richtigen Adresse’ in Den Haag eingeführt hat, werden Elemente introduziert, Perspektiven eingeblendet, die sich von der Welt der ‘gens du bon ton’ entfernen. Couperus läßt die Darstellung von Ritual und Etikette zurücktreten zugunsten einer Seelenschilderung, die man nur schwerlich mit dem Titel ‘Haag-Roman’ umreißen kann. Somit bildet De boeken eine Stufe auf dem Weg zu dem dritten großen Roman aus dem Haag-Milieu: Van oude mensen, wo das äußere Milieu an Bedeutung verloren hat, zugunsten einer Darstellung der Verstrickung von vier Generationen in einen Mord, der lange Zeit zurückliegt und nun mit beinahe ‘griechischem’ Schicksalszwang die von ihm berührten Menschen zur Rechenschaft zwingt. Die Entwicklung eines Schicksalsgedankens ist in diesem Werk wichtiger als die Darstellung eines sozialen MilieusGa naar voetnoot(7). Chronologisch wie thematisch nimmt De boeken eine Zwischenstellung ein; zwischen Eline Vere mit dem starken Interesse an der Haager Gesellschaft und Van oude mensen mit der streng durchgeführten inneren Handlung steht De boeken mit seinen vier Teilen, die die zunehmende Verlagerung des epischen Interesses auf innerseelische Vorgänge markieren. Schon die Benennung der vier Erzählblöcke signalisieren diesen Prozeß: ‘De kleine zielen’ (Teil 1); ‘Het late leven’ (Teil 2); ‘Zielenschemering’ (Teil 3); ‘Het heilige weten’ (Teil 4). Die Zentralfigur des Buches ist die (beim Erzählanfang) zweiundvierzigjährige Constance Van der Welcke, die nach zwanzig Jahren ‘Exil’ mit ihrem Ehemann Henri nach Den Haag zurückzieht: Sie ist die Scandaleuse der Familie, sie hat ihren ersten Ehemann mit Henri betrogen. Nach diesem ‘misstap’ heiratet sie Henri, sie kriegen den Sohn Addy | |
[pagina 46]
| |
und leben, von der guten Gesellschaft in Den Haag verbannt, im Ausland: an der Riviera, in England und Brüssel, bevor Constance, krank vor Heimweh nach Familie und Vaterland, mit ihrer kleinen Familie versucht, wieder in Den Haag Fuß zu fassen. Constances Konfrontation mit der Haager Gesellschaft ist der erzählerische Ausgangspunkt des Romans. Der erste Romanteil nimmt die Form eines Tests an: offenbar geht es Couperus darum, die Menschlichkeit der Haager ‘guten’ Gesellschaft zu überprüfen. Constances Heimkehr ist eine Provokation für die ganze Familie, deren Mitglieder gezwungen werden, der Außenseiterin gegenüber Toleranz oder Intoleranz, Liebe oder Haß zu demonstrieren. Daß die bourgeoise Welt in Den Haag es dem Menschen besonders schwer macht, aus seinem Herzen zu leben, wird der eigentliche Inhalt der Kritik sein, die Couperus an ihr übt. Im Laufe des Romans nimmt die Skepsis des Verfassers deutlich zu; um eine plausible Oase für Menschlichkeit und Liebe zu errichten, verläßt er das Haager Milieu und verlegt die Romanhandlung auf den Landsitz der Familie Van der Welcke, in Driebergen, weit weg von der Kleinlichkeit und dem engstirnigen Provinzialismus in Den Haag. Auf eine - mögliche - authentisch/selbstbiographische Note von Couperus' meistens starker und stellenweise bitterer Kritik an der Haager Gesellschaftsschicht, (der er selbst angehörte und die er natürlich sehr gut kannte), kann hier nicht näher eingegangen werden. Wie viele seiner Romanfiguren hat der Verfasser lange Perioden hindurch im Ausland gelebt, (De boeken ist größenteils in Nizza entstanden), und vermutlich hat er, wie sie, durch seine Auslandsaufenthalte eine Art Entlastung gesucht von dem, was er oft als die bedrückende Atmosphäre im bürgerlichen Den Haag erlebt hat. Ob seine Kritik berechtigt ist oder nicht, wird hier nicht diskutiert werden; hier geht es vornehmlich darum, wie diese ‘Gesellschaftskritik’ in die epische Welt eingebaut wird und welche Aussagekraft sie für den Romaninhalt besitzt. Die Wirkung des Romans ist kaum vom historisch-authentischen Material bestimmt, ein eventueller Realitätsbezug des epischen Geschehens wird in diesem Kontext der Strukturierung und dem Aufbau des Erzählganzen untergeordnet. Doch sollte man die exemplarisch-symbolische Bedeutung von Couperus' Darstellung nicht unterschlagen. Wie in Eline Vere meint wohl der Verfasser, daß er in De boeken ein ‘typisches’ Familienschicksal gestaltet hat, das wesentliche Merkmale einer Klasse und einer Epoche festhält. Wie viele seiner Verfasser-Kollegen aus dieser Zeit hat Couperus die empirisch erfahrene gesellschaftliche Wirklichkeit, in der er lebte, zu einem entscheidenden Bezugspunkt seines literarischen Schaffens gemacht. Doch die sozialgeschichtliche Darstellung der Haager Bourgeoisie ordnet sich einem Auswahlprinzip unter, das nicht nur zeittypische Situationen reproduziert, sondern nach überpersönlichen Zusam- | |
[pagina 47]
| |
menhängen und Symbolgehalten des menschlichen Lebens fragt. So ist die Bedeutung der Zeit der für Couperus wichtigeren Frage nach der Zeitlichkeit des Menschen untergeordnet. Die Beobachtung gesellschaftlicher Zustände wird immer auf die Frage nach den Möglichkeiten des Menschen zurückgeführt, der sich behaupten muß in seiner als drohendes Schicksal aufgefaßten Zeitlichkeit. Georg Lukács' Aussage in Die Theorie des Romans - ‘[...] die ganze innere Handlung des Romans ist nichts anderes als ein Kampf gegen die Zeit’Ga naar voetnoot(8) - trifft als geschichtsphilosophische Gattungsbestimmung für die innere Struktur von Couperus' Romanwelt zu. In diesem Roman kämpft der Mensch gegen Verfall und Untergang, eben gegen die Vergänglichkeit der irdischen Dinge. Die Einsicht in eben diese Vergänglichkeit ist Voraussetzung für ‘het heilige weten’, das Couperus am Ende des Romans durchleuchtet. Hier kann der Mensch gesellschaftlichen Schein vom menschlichen Sein unterscheiden, und gerade mit Hilfe von diesem ‘Wissen’ kann er sich mit seiner Zeitlichkeit versöhnen. Somit ordnen sich bei Couperus Zeitkolorit und Zeittendenzen einer Menschendarstellung unter, die ein simplifiziertes Realismuskonzept transzendiert. | |
Die ExpositionDer Anfang des Romans hat einen deutenden und antizipierenden Charakter. Die Großfamilie in Den Haag bereitet sich auf die Rückkehr und Wiederaufnahme von Constance vor; letztere wird auf dem üblichen Sonntagsempfang ihrer Mutter in der Alexanderstraat erscheinen. Bei der Darstellung dieses Milieus geht es Couperus offenbar um das Typische: als Ouvertüre des Werkes läßt er Constances Bruder Karel - dem der Verfasser nie mehr im Laufe des Buches sein Interesse widmet - aus dem Arsenal der Nebenpersonen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rükken. Er spielt im Romanganzen keine entscheidende Rolle, spiegelt jedoch in seiner Durchschnittlichkeit typische Wertsysteme der bürgerlichen Gesellschaftsschicht wider, mit denen Constance nun konfrontiert wird. Die kleine Hermes-Figur des Romans - die unverheiratete Schwester Dorine, die mit ihren ewigen ‘boodschappen’ als Bindeglied zwischen dem Oberhaupt der Familie, Mama Van Lowe, und den übrigen Familienmitgliedern funktioniert - meldet sich bei Karel und seiner Frau Cateau, um sich von dem Zusammenhalt der Familie zu überzeugen. Großen Akzent legt Couperus auf das Wetter; der heulende, kalte Wind - ein Leitmotiv im Roman - deutet die Bedrohtheit und allmäh- | |
[pagina 48]
| |
liche Auflösung der familiären Geborgenheit an, wie er auch als Kontrast zur Wärme der Familienhöhle dient. Das erste Interieur, in das Couperus den Leser einführt, soll das Abgekapselte und Selbstgenügsame der holländischen Lebensform vermitteln: Karel und Cateau führen jetzt ein zurückgezogenes Leben in Den Haag, nachdem Karel seinen Beruf als Bürgermeister in einem Dorf in der Provinz Utrecht aufgegeben hat: ‘Zij hadden nu een mooi, groot huis in de Oranjestraat; zij hadden drie meiden; zij hielden rijtuig. Zij aten, heel goed, samen, en zagen nooit iemand, noch van de familie, intiem; noch van kennissen, ceremoniëler. Zij leefden volgens vaste wetten van degelijkheid en soliditeit. Hun grote huis was degelijk en solide ingericht, met zware comfortabele meubelen, zonder overtollige weelde. Zij zagen er beide gezond en solide en Hollands degelijk uit [...] Zij leefden volgens de klok; Karel maakte 's morgens een wandeling, altijd dezelfde, door de Bosjes; Cateau deed 's middags boodschappen; eens in de week maakten zij samen visites, en dat was de enige maal, dat zij samen uitgingen. 's Avonds waren zij altijd thuis, behalve des Zondags-avonds; dan gingen zij naar mama Van Lowe. Zij waren niettegenstaande hun solide leven, drie meiden, en rijtuig, zuinig. Zij vonden geld uitgeven voor een komedie, een tentoonstelling, een boek, zonde en jammer’Ga naar voetnoot(9). Auf den ersten Seiten des Buches wird klar, daß Couperus diese Gesellschaft mit ironisch-kritischen Augen betrachtet. Die Wiederholung der Worte ‘degelijk’ und ‘solide’ unterstreicht einen Lebensstil, von dem sich der Verfasser mit Ironie distanziert. Das Abgesperrte von Karels Lebensweise dient nicht nur als Kontrast zu der freieren Menschlichkeit und dem Kosmopolitismus von Constance, es steht auch in deutlichem Gegensatz zu dem feudaleren und großzügigeren Stil des großen Hauses seiner Mutter. Dieser Generationsunterschied deutet den kommenden Verfall der Familie an, der von sozialer Degradierung, ökonomischem Ruin, Krankheiten und Tod (einschließlich Mord und Selbstmord) beschleunigt wird. Symptomatisch für die Geschlossenheit und Engstirnigkeit dieser Gesellschaftsschicht ist auch ihr Verhältnis zur Kunst: für Bücher und Theater gibt man kein Geld aus. Die Enge und das vollkommen Geistlose von Karels guter Stube introduzieren somit eine Verfallsthematik, die die Darstellung der Haager Großbourgeoisie in diesem Roman bestimmt. Der epische Raum, die Romangestalten und die Handlung um sie herum werden aus einer Perspektive vermittelt, die schon in der Exposition Auflösung und Untergang prophezeit. Diese Momentaufnahme von holländischer Bür- | |
[pagina 49]
| |
gerlichkeit führt direkt in das große Tableau ein, den traditionellen Sonntagsempfang bei Mama Van Lowe, die als Oberhaupt und Zentrum der Großfamilie die Illusion von Tradition, Zusammenhalt und Familiensinn um jeden Preis aufrechterhalten möchte. Ihr Haus ist der reale und symbolische Raum für den Zusammenhalt der Familienmitglieder. Bei diesem ersten Empfang tauchen beinahe sämtliche Figuren des Romans auf, die später dann gründlicher beleuchtet werden. Einige sind nur schattenhaft umrissen, sie bleiben in der Sphäre der Randfiguren, die nur spärlich mit dem Romangeschehen verbunden sind, (so z.B. die alten Tanten), doch sie tragen zur Atmosphäre des großen Hauses bei. Die ganze familiäre Gruppierung vermittelt ein großbürgerliches, vornehmes Interieur, wo drei Generationen einer Familie versammelt sind, um die ehemalige Verstoßene - Constance - wiederum in ihre Mitte aufzunehmen, ausdrücklich weil es ‘mama's wens’ (19) ist. Constances Sehnsucht nach ‘de koesterende warmte en genegenheid en sympathie van een groot huisgezin’ (39) wird jedoch in Den Haag nicht erfüllt; vom ersten Augenblick nach ihrer Heimkehr erfährt sie, daß Härte und Intoleranz typische Begleiterscheinungen dieser auf Konvention und Fassade erpichten Gesellschaft sind; stärker als Geschwisterliebe stehen Rücksichten auf Position und makellose Schaustellung der Familie. Dabei werden jedoch schon bei diesem ersten Tableau die Auflösungstendenzen innerhalb der Familie deutlich. Nur Constances ältere Schwester Bertha, deren Mann Kolonieminister ist, kann den repräsentativen Lebensstil fortsetzen. Das trifft allerdings nur scheinbar zu; um den vornehmen Haushalt von Berthas Elternhaus fortzusetzen, hat ihr Ehemann große Schulden auf sich genommen - was die Familie bald in den Ruin führen wird. Die glänzende Fassade trügt also, und auch der Abstieg von Berthas Kindern ins sozial Unverbindliche, ja sogar in den Skandal, beschleunigt den allgemeinen Verfall der Familie. Bei der anderen Schwester, Adolfine, ist die Fassade schon ein Krampf geworden, mit ihren Prätentionen wehrt sie vergebens den Sturz ins Kleinbürgerliche ab, nich von ungefähr ist gerade das Wort ‘burgerlijk’ in ihrem Mund ein Schimpfwort, das ihre Angst vor der sozialen Degradierung signalisiert - ‘burgerlijk’ (= kleinbürgerlich) versteht sie als Kontrast zum Ideal der ‘aristokratisch’ vornehmen Lebenshaltung ihres Elternhauses. Die beiden unverheirateten Brüder Paul und Ernst haben es zu nichts gebracht - beiden droht ein Außenseitertum, das schon am Anfang des Buches als ausgemachte Sache gelten muß. Die Andeutung, daß der dritte Bruder, Gerrit, auch gefährdet ist, trotz Eheglücks und ausgiebigen Kindersegens, gehört zu den vielen Vorausdeutungen, die am Anfang ein feines Netz über die eigentliche ‘Handlung’ legen. Das Verlangen der alten Frau Van Lowe nach ‘grootheid’, ‘glans’ und ‘adel’ wird nichtig gemacht. Die Größe der Familie gehört eindeutig der Ver- | |
[pagina 50]
| |
gangenheit an, der deutlich pointierte Generationsunterschied macht die herabsteigende Tendenz deutlich. ‘Grootheid’ besteht nur mehr als Prätention, die Auflösungstendenzen sind schon am Anfang überdeutlich. Position und gesellschaftliches Ansehen sind nur bei der älteren Generation intakt - bei den Kindern von Mama Van Lowe bröckelt die glänzende Fassade ab. Mitten in dieser angekränkelten Atmosphäre soll jetzt die skandalisierte Constance von der Familie aufgenommen werden. Diese Konfrontation löst ein Spektrum von Reaktionen aus, die das Selbstverständnis der jeweiligen Familienmitglieder widerspiegeln. Obwohl die Mutter ihre Kinder dazu auffordert, Constance mit Liebe zu akzeptieren und Cateau meint, man müsse herzlich (41) zu ihr sein, bemüht sich Couperus zu zeigen, wie das Private vom Gesellschaftlichen verdrängt wird. Karels etwas halbherzige Aufforderung: ‘Je moet in Constance ook niet zoeken wat ze nooit is geweest’ (44), fällt bei vielen Familienmitgliedern auf unfruchtbaren Boden. Bezeichnenderweise wird Constance von dem schärfsten Kritiker dieser Gesellschaft am herzlichsten aufgenommen, von ihrem Bruder Paul. Constance ist mit großen Hoffnungen nach Den Haag zurückgekommen, doch sie wird schnell eingeschüchtert. Als sie sich also jetzt nach zwanzig Jahren wiederum in ihrem Elternhaus befindet und das Porträt ihres verstorbenen Vaters betrachtet, stellt sie den ganzen Lebensstil des Hauses in Frage: ‘Het portret was van een gebiedende, grote man, met een hard gezicht [...] Was papa zo hard?[...] Zij dacht aan haar vader, aan zijn eerzucht, aan zijn verlangen naar grootheid-bereikt; - aan zijn wens ook zijn kinderen te zien groot, hoog, en machtig.’ (26) Diese Härte der älteren Generation lebt weiter. Nach dem ersten Treffen mit ihrer Familie denkt Constance: ‘Zij nemen mij dus in genade aan![...] Harde mensen!’ (64) So klingt die Exposition (Kapitel I - IV des ersten Teils) mit Constances Gedanken aus, die teils ihre Sehnsucht nach einem Holland reflektieren, das es für sie kaum gibt - ‘een land van belofte, een land van vrede, van laat na-geluk, waar zij alles zouden vinden, voor zich en hun zoon, wat zij jaren en jaren gemist hadden: ouders en familie[...]’ (40) - und teils die Einsicht in das Irreparable von ihrem ‘misstap’ und die Intoleranz ihrer Familie vermitteln. ‘Zij praatten over mij’ (30) - mit dieser Feststellung Constances schließt das Gesellschafts-Tableau, das das Gefährdete dieser Großfamilie und den illusionären Charakter von Familiensinn, Traditionsbewußtsein und Geschwisterliebe unterstrichen hat. Im Laufe der Exposition hat Couperus den Beziehungen der Personen untereinander nachgespürt, er hat ihre gesellschaftlichen Fixierungen und ihr Rollenverhalten gezeigt, sowie ihre Angst vor Auflösung und Verfall. Die Außenseiterfiguren der Großfamilie signalisieren schon hier den kommenden Abstieg. Als ‘snap- | |
[pagina 51]
| |
shot’ von einem großbürgerlichen Milieu des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutet die Darstellung den kommenden Übergang zu einer neuen Lebensform und Sozialform an: der bürgerlichen Kleinfamilie (Adolfine). Die gesellschaftlich geächtete Randfigur Constance dient bei dem relativen ‘Spannungs’-Minimum der Handlung als eine Art Katalysator verschiedener Wertsysteme: sie werden miteinander aber auch mit der allgemein geschichtlichen Entwicklung im weiteren Verlauf des Romans konfrontiert. | |
Wahrheit und FassadeDas allmähliche Zerbröckeln der Gesellschaftsfassade macht die zentrale Thematik der ersten Hälfte dieses großen, beinahe tausendseitigen Romans aus. Die Welt der ‘guten Adresse’ in Den Haag - von Couperus hier als ‘a novel of manners’ vermittelt - wird durch ihre sozialen Rituale (Empfänge, Diners etc.) gespiegelt, die vielfach eventuelle ‘spannende’ Ereignisse ersetzen. Das ästhetische und soziale Ideal dieser Welt ist dem Adel abgeguckt, die Familie befindet sich schwebend zwischen dem ersehnten Glanz des Hofes und dem befürchteten Sturz in die Kleinbürgerlichkeit. Das Schimpfwort ‘burgerlijk’ zeugt von der permanenten Frustration. Um so wichtiger werden die Konventionen in diesem Kampf um Status und Prestige - jeder Verstoß gegen die guten Sitten greift nicht nur entscheidend in das einzelne Menschenschicksal ein, sondern bedeutet auch eine Bedrohung der Standesehre der Großfamilie. Nach ihrer Rückkehr muß Constance zur Kenntnis nehmen, daß das Gesellschaftliche schlechthin als Richtschnur menschlichen Handels gilt. Das löst eine Ambivalenz in ihr aus: auf der einen Seite möchte sie mitspielen, um dadurch die gesellschaftliche Position ihres Sohnes zu sichern, auf der anderen Seite reagiert sie jedoch negativ auf die Rücksichtslosigkeit und Härte, die sie besonders bei ihren alten Tanten und bei ihren beiden Schwestern Bertha und Adolfine vorfindet. Was die äußere Erscheinung betrifft, hat die vornehme Familie nichts gegen die geächtete Schwester einzuwenden: Constance hat Stil, Eleganz und einen Hauch von gehobenem Kosmopolitismus, der sich vorteilhaft von der etwas hausbackenen Art ihrer holländischen Schwestern abhebt. Besonders die unelegante, verkrampft prätentiöse Schwester Adolfine ärgert sich ständig hierüber und versucht in ihrer unbeholfenen Weise vergebens mit der Eleganz ihrer Schwester mitzuhalten. Doch Constances ‘Stil’ kann ihr Außenseitertum zunächst nicht aufheben. Ihr gesellschaftliches Vergehen hat sie zu einer Schuldigen gemacht, die Bestrafung verdient - auch fünfzehn Jahre nach dem Vergehen. Somit hat die Konvention den Platz einer Schicksalsordnung eingenommen. (Auch für | |
[pagina 52]
| |
ihren Ehemann Henri wirkt sich der ehemalige Fehltritt durch ähnliche gesellschaftliche Sanktionen schicksalhaft auf sein Leben aus). Das Schicksal ist mit dem gesellschaftlichen Gesetz identisch. Die Schuld des Menschen, für die sich die gekränkte Standesehre rächt, liegt nicht sosehr in der partikularen Untat als in der Abweichung von der angestammten Ordnung. Das Verlangen des Individuums nach eigenem Glück wird von dieser Gesellschaft immer wieder annuliert: diejenigen, die ihr Recht auf Freiheit behaupten, werden bestraft. (Nicht nur bei Constance - auch bei Berthas Kindern Henri und Emilie sieht man, daß die Kränkung der Normen gleichsam von oben her bestraft wird). Schuld wird meistens durch Resignation und Unterwerfung gesühnt. Nur eine geschlossene Gesellschaft - hier eine Großbourgeoisie mit dem Adel als Vorbild und Identifikationsmodell - kann als eine solche, das Individuum unterdrückende Ordnung auftreten. Die Prätention dieser Gesellschaftsschicht jedoch, schlechthin als ein Abbild einer höheren, ‘metaphysischen’ Ordnung zu erscheinen, wird bestraft: Berthas Mann - Minister Van Naghel - stirbt gleichsam einen symbolischen Tod, als die Tochter durch ihre Ehescheidung die ganze Ordnung in Frage stellt. Mit ihm werden ein Ehrenbegriff und ein Standesbewußtsein ins Grab getragen - mit dem Verlust der Familienehre, nunmehr als Fassade entschleiert, büßt die Norm ihre Legitimation ein. Seinen Tod kann man als eine Art Ehrenpflicht betrachten. Was von der ‘grootheid’ übrigbleibt, ist die leicht pathetische alte Frau Van Lowe - die als ein hinschlummerndes feudales Relikt bis zur letzten Seite des Buches am Leben erhalten wird. Das einzige von ihren eigenen Kindern, das nach außen hin ein vage angedeutetes ‘adeliges’ Kennzeichen trägt, ist Gerrit. Als Offizier vertritt er einen typischen aristokratischen Beruf - doch bezeichnenderweise erleidet er ein ähnliches Schicksal wie Berthas Minister-Ehemann: er stirbt - und zwar durch Selbstmord. Der schwerfällige Gerrit - alles andere als eine imponierende Offiziersgestalt - der Schutz und Geborgenheit im Schoß seiner Familie sucht, parodiert beinahe den traditionellen Stolz des Militärs. Sein Schicksal fügt sich genau in die lange Reihe von Krankheitsgeschichten, die schließlich die Familie gänzlich unterminieren. Der Erzähler trauert kaum dem Untergang dieser Gesellschaftsschicht nach. Weder die vergangene Größe noch die Versuche, das Sozialprestige zu bewahren, stehen in irgendeinem verklärenden Licht. Vielleicht ist der ärgste Kritiker dieses Milieus - Constances Bruder Paul - sogar eine Art Sprachrohr für Couperus, jedenfalls läßt er Paul sich über viele Seiten des Buches entfalten, um die Kleinlichkeit und den Provinzialismus der Haager Bourgeoisie darzustellen. Zu Constance - mit deren ‘Außenseitertum’ er sich teilweise identifiziert - sagt er auf einer Soiree: ‘Kijk die gezichten. Niemand die natuurlijk opgewekt is. Natuur, | |
[pagina 53]
| |
natuur, Cony, dat is weg, totaal weg, bij mensen zoals wij. Er is geen gebaar, geen woord, en zelfs geen gedachte bij ons, die natuurlijk is. Alles is aanstellerij en voor-de-gek-houderij, van de een van de ander, en niemand loopt er in. Het is toch een misselijke boel, zo een maatschappij als de onze, zo van nette mensen. Zou je nu niet eigenlijk kunnen begrijpen, dat een anarchist daar met plezier een bom in zou gooien [..]’ (105), etc., etc. Die ‘aanstellerij’ und die Unnatürlichkeit dieses Lebensstils werden auch von Gerrit hervorgehoben, er mokiert sich dabei über den holländischen Minderwertigkeitskomplex: ‘Dat zijn je chique Hollanders, Constance, je Haagse Hollanders, die je ontmoet in de salons van Bertha, Constance. Als ze een paar maanden zijn geweest in het buitenland, zijn ze hun taal vergeten, maar als ze sedert drie jaren niet zijn geweest in Parijs, Londen of Berlijn, zijn ze nooit hun Frans, Duits of Engels vergeten!’ (181). Doch trauriger als dieses Minderwertigkeitsgefühl ist die Auflösung der Familie in der modernen Gesellschaft in Holland. Paul formuliert es am radikalsten: ‘Er bestaat geen familie meer in de moderne maatschappij. Ieder is zichzelve. Maar bij naturen, zoals bij mama en bij jou [Constance] is nog iets liefs atavistisch over van de patriarchale woestijnfamilie: je zou gaarne willen hebben, dat er familie was en familieliefde [...]’ (178). Der nihilistische ‘scepticus’ Paul wird recht behalten, Constances Illusionen werden bald genug korrigiert; doch möchte sie verhindern, daß diese neue, brutale Epoche, die Paul oft genug beschreibt, die Illusionen ihrer alten Mutter zerstört. ‘Zij wilde de oude vrouw haar geluk laten in de illusie - van het geliefde huis van sympathie. De hare, haar illusie brokkelde in...’ (222). Die Diagnose demonstriert eine fundamentale Ratlosigkeit in der Haager Großbourgeoisie. Das Sichfestklammern an vergangener ‘grootheid’, für die die Beziehung zum Hofe so wichtig ist, zeigt, daß diese Sozialklasse keine eigenständige Tradition besitzt, keine selbständige Ideologie. Die Anlehnung an den Adel, die vollkommene Identifikation mit dessen sozialen und ästhetischen Idealen, haben nur eine angestrengte Vornehmheit als Resultat. Das Behaupten des Ranges, die Schaustellung der Rangzugehörigkeit bei Festen, die Titelsucht (‘minister van koloniën’) und die Demonstration von Reichtum implizieren ein Verkümmern des individuellen Gefühlslebens. Couperus gibt ein fast groteskes Beispiel für die Rangsucht und den Snobismus der Großbourgeoisie: als Constance - die von Bertha ‘schwesterlich’ aufgenommen worden ist - in Offenheit auf Berthas ‘jour’ erscheint und dadurch versucht, ihre soziale Position in Den Haag zu befestigen, (sie tut es für den Sohn), wird sie strikt abgelehnt. Der ‘Vorfall’ wird für Berthas Familie als ein Skandal aufgefaßt, Constances Benehmen wird korrigiert, was zu einer entscheidenden Auseinandersetzung zwischen den Ehemännern der beiden Schwestern führt. (Die Episode schließt den ersten Teil des Buches ab, | |
[pagina 54]
| |
S. 265-96). Constance muß erfahren, daß Geschwisterliebe ihre Grenzen hat. Sie wird gleichsam nur im Dunkeln toleriert. Wenn sie versucht, ‘öffentlich’ akzeptiert zu werden, muß sie zur Kenntnis nehmen, daß ‘positie’ schwerer wiegt als ‘sympathie’: man verurteilt Constance dazu, in ‘de obscure hoek’ (285) zu bleiben, den man ihr zugewiesen hat, damit der Schauplatz der Gesellschaftskonventionen unbefleckt bleibt. Die Episode löst ein Chaos in Mama Van Lowes Salon aus und dient als eine Demonstration von dem straffen Widerspiel von Ordnung und Individuum. Van Naghels Vorwurf, an Constances Ehemann gerichtet - ‘Je vrouw heeft mij Dinsdag gecompromitteerd door, alsof het vanzelve sprak, te komen op Bertha's receptie...’ (293) - führt beinahe zum Duell. Doch wichtiger ist, daß die Episode Constance klar macht, daß sie nie mehr am ‘höheren’ Gesellschaftsleben in Den Haag teilnehmen wird. Sie bricht zusammen und verläßt Den Haag für längere Zeit. Ihr Sohn Addy, um dessentwillen sie das alles getan hat, zieht die bittere Konklusion: ‘Het is alles om niets...’ (296). Die Nichtswürdigkeit der menschlichen Prätentionen, eben die ‘Kleinheit’ der Seelen - der Titel des Buches sowie des ersten Romanteils unterstreicht die Bedeutung des Themas für das Werk - ist jedoch nicht nur ein Merkmal dieser bestimmten Gesellschaftsschicht, vielmehr scheint es Couperus darum zu gehen, durch diese ‘Formel’ etwas Allgemeines zu Treffen, das jedoch besonders grell in den Verhaltensweisen und Gesellschaftsregeln der Großbourgeoisie zum Vorschein tritt. Bertha ist zweifellos eine ‘kleine Seele’ in ihrem Benehmen der Schwester gegenüber, doch auch Constance selbst kommt immer wieder auf dieses Thema zurück, wenn sie über das Menschenleben im Allgemeinen reflektiert: ‘Hoe klein zijn wij allen, dacht zij. Wat zijn wij kleine mensen, en wat hebben wij kleine zielen...’ (222). Doch das hier allgemein formulierte Thema hat in den beiden ersten Romanteilen, die sich besonders mit der höheren Gesellschaftsschicht in Den Haag beschäftigen, deutlich sozialkritische Relevanz und kommt als Leitmotiv in den Gedanken vieler Personen vor. In seiner zugespitzten Weise formuliert es Paul mehrmals, so z.B.: ‘Het is alles vies, gemeen, onoprecht, egoist, lelijk en menselijk ellendig.’ (89). Auch Adolfine erkennt sporadisch, daß sie sich von Äußerlichkeiten und schalem Snobismus treiben läßt: ‘Het was in haar natuur hoog te willen zijn - zij wás een kind haars vaders - rijk te willen zijn, alles mooi en voornaam en in aanzien om zich te hebben [...] Werkelijk was zij nooit tevreden, hoe zij ook pochte [...] Zij had Van Saetzema aangenomen, bijna uit angst, dat, zo zij weigerde, het leven weer onrechtvaardig zou zijn. En Van Saetzema had haar gevraagd, zo als honderden mannen honderden vrouwen ten huwelijk vragen, om van die heel kleine redentjes van kleine mensen, die als minieme radertjes diep in de kleine zielen voortwerken [...]’ (165f). | |
[pagina 55]
| |
Der Lebensinhalt, dem die kleinen Seelen nachstreben, wird von Constance wiederholt mit dem Prädikat ‘ijdelheid’ umrissen; damit ist Putzsucht, aufwändiger Lebensstil, Snobismus, kurz das ‘Image’ der feinen Leute gemeint - und sie schließt bei dieser Charakterisierung sich selbst nicht aus. So sieht sie ihre Vergangenheit als ein ‘moedwillig comediespelen met het noodlotgrote leven, dat zij eerst alleen had ingezien als een verblinding van ijdel schelle weerschijn - weerschijn van spiegels, van bougies, satijn, juwelen, titels, decoraties: - de mise-en-scène, waarin de comedie speelde [...]’ (33f). Doch auch die zurückgekehrte Constance spielt weiter in dieser ‘comédie humaine’ mit, in ihrer Weise lebt sie ihre ‘ijdelheid’ auch in Den Haag aus. Ihre Vorliebe für elegante Toiletten, ihre kleinen aber exquisiten Diners, ihr vornehmer Salon: die vanitas lebt in ihr fort. ‘De ijdelheid vloeide haar in het bloed’ (32) - das trifft auch für die reifere Constance zu und macht sie für die brutalen Auswirkungen des Haager Gesellschaftsspiels besonders empfindlich. Jedoch scheint sie schon in der ersten Hälfte des Buches dunkel zu ahnen, daß es hinter Schein und Fassade etwas Verbindlicheres gibt. ‘Is dat... léven?’ fragt sie anläßlich der Kleinlichkeiten des Lebens, mit denen sie immer wieder konfrontiert wird, ‘of is er iets anders’ (222). Ihre Frage leitet die Suche nach einem Sinn ein, eine Suche auf die sie erst nach ihrem großen sozialen Fiasko, (der Konfrontation mit Bertha), in verschiedener Weise Antworten findet. Allmählich wird eine Alternative zu den oberflächlichen sozialen Formen ihrer Familie aufgebaut, eine Alternative, die sich als ein ‘Leben in Wahrheit’ rubrizieren läßt. Der Sohn Addy findet - nachdem er über die skandalöse Vergangenheit seiner Eltern informiert worden ist - daß ihn die Wahrheit stark macht, die Eltern sehen, daß er ‘sterk nu in waarheid en zekerheid’ (231) ist. Im Namen der ‘Wahrheit’ lehnt Constance die Lügenhaftigkeit und Verstellung von Berthas und Adolfines Welt ab und bezahlt den Preis, den diese Wahrheit sie kostet - die süße Illusion der Familienzugehörigkeit (251f). Sie fängt an, den Haager Klatsch zu übersehen, dessen Opfer sie ist, und nach der großen Auseinandersetzung mit Bertha, denkt sie: ‘Leven... ik zou gaarne willen léven... In echtheid... In waarheid...’ (316). Um in dieser Echtheit leben zu können, zieht sie sich aus dem sozialen Leben in Den Haag zurück, geht sozusagen in ein inneres Exil und verzichtet völlig auf die äußerlichen Familienformen. Die ‘nieuwe eerlijkheid’ (454) in Constance macht es ihr möglich - nicht zuletzt mit der Hilfe eines deus ex machina, eines Jugendfreundes ihres Mannes: Max Brauws - ein neues Wertsystem zu finden, das eine größere Dimension in ihr Leben bringt. Mit dem Übergang vom ersten (‘De kleine zielen’) zum zweiten (‘Het late leven’) Teil des Romans wird der gesellschaftliche Aspekt des Buches an den Rand der eigentlichen Romanhandlung verdrängt. Im zweiten Romanteil stirbt ein Träger | |
[pagina 56]
| |
der gesellschaftlichen Ordnung, der hartnäckige Verteidiger der Standesehre - Berthas Mann Van Naghel - und nimmt gleichsam die alte Welt mit ins Grab. Mit Max Brauws tritt sein Gegenpol in die Handlung ein, er wird Triebkraft einer inneren Opposition, die die alten Gesellschaftsordnungen zutiefst in Frage stellt. | |
Frauenrolle und IdentitätBei Max Brauws, der in Den Haag auftaucht, um Vorträge über den ‘Weltfrieden’ zu halten, löst die Begegnung mit Constance zunächst Aversion aus: ‘Wie is zij? Een vrouw-van-de-wereld geweest... die wereld juist, die ik haat... Wat is er in haar leven omgegaan... Uit ijdelheid heeft zij getrouwd een oudere man... Toen een moment van passie... tussen haar en Hans... Wat is er verder in haar geweest, wat is er verder in haar? Niets! De onbeduidende kleinte van allen, die haar gelijk zijn: mensen, die niet denken, die niet leven; mensen, die bestaan als poppen, met poppen-hersenen, en poppen-zielen... in een poppenwereld van kleinte!’ (363). Brauws setzt also die Kritik von Paul fort - und verschärft sie. In dieser ‘poppenwereld’ tritt der Sozialist Brauws als reiner Außenseiter auf. In seiner Jugend hat er das verhaßte Holland verlassen, er hat jahrelang in Amerika gelebt, hat sich als ‘gewöhnlichen Arbeiter’ am Leben erhalten. Nach vielen Jahren kehrt er nach Holland zurück, mit seiner pazifistischen Botschaft und seinen sozialistischen Ideen. Trotz seiner grundsätzlichen Ablehnung der Haager Welt wird er bald von der Menschlichkeit und Wärme Constances eingefangen, die ihrerseits nun in den ‘Ideen’ von Brauws eben die Wahrheit und Echtheit findet, die sie für sich und ihre Familie so heftig sucht. Der ehemalige Dockarbeiter und die vornehme, elegante Frau knüpfen eine innige Seelenfreundschaft. Brauws bringt eine neue Dimension in das Leben von Constance ein, die ihre bisherige Identität als Frau und Mensch grundsätzlich in Frage stellt. Wie bei den meisten seiner europäischen Romankollegen dieser Periode wird der Gesellschaftsroman in Couperus' Händen zu einer Darstellung von Frauenschicksalen, die die herrschenden Moralauffassungen - und Unterdrückungsmechanismen - des 19. Jahrhunderts reflektieren. In diesem Punkt hat Constance Erfahrungen gemacht, die sie mit vielen Frauenfiguren im europäischen Gesellschaftsroman teilt. Wie Fontanes Effi Briest hat sie aus jugendlicher ‘ijdelheid’ einen viel älteren Mann geheiratet. Wie Effi wird sie dann von einem jüngeren Mann ‘verführt’, doch im Gegensatz zu Fontane läßt Couperus diesen ‘Skandal’ nicht zu Tod und Untergang führen, (hier ist Constance eher mit Melanie van der Straaten in Fontanes L'Adultera zu vergleichen). Ein weiterer bedeutsamer Unterschied der | |
[pagina 57]
| |
beiden Romane liegt darin, daß der betrogene Ehemann bei Fontane - Innstetten - sich mit den Prinzipien einer veralteten Gesellschaftsordnung rigoros identifiziert, während der Ehemann von Constance offen und tolerant schließlich den einstigen Fehltritt seiner jungen Frau verzeiht(771). Couperus läßt Constance andere Entfaltungsmöglichkeiten bekommen, als es Fontane Effi gegenüber tut. Doch allem Unterschied zum Trotz: sowohl Effi wie Constance sind ‘Opfer’ eines Gesellschafts-systems, das sie zu Unterwürfigkeit und Unmündigkeit verurteilt. Bertha drückt es in einem vertraulichen Gespräch mit Constance folgendermaßen aus: ‘O, Constance, al die doelloosheid en nutteloosheid, waarin mensen als wij, vrouwen van onze stand, onze milieu's, onze kringen, draaien en draaien als tollen en gekken [...] Wij trouwen als jonge meisjes, die niets weten en maar onduidelijk het leven voorgevoelen, dat het zijn zal als het leven van onze moeders en al die nutteloosheid dunkt ons heel gewichtig - totdat wij op een goede dag oud zijn geworden en moe en geleefd hebben voor niets; voor visites, japonnen, diners, allemaal dingen, die wij dachten dat nodig waren [...]’ (137). Diese abgekapselte Welt der Frau - räumlich begrenzt auf ihr Boudoir, mit ‘een atmosfeer van een comfortabele stille welbehaagelijkheid’ (245) - verurteilt sie zu einer gefährlichen Passivität, auch geistig gesehen. So heißt es über Constance: ‘Zij las niet veel, zij maakte geen muziek, zij was zelfs niet buitengewoon ontwikkeld. Als kind had zij van feeënverhaaltjes gehouden, als meisje nog feeënverhaaltjes bedacht, maar zij hield verder niet van litteratuur; verzen vond zij onnatuurlijk; van muziek begreep zij niet veel’ (245). Doch Max Brauws vermag es, ihre geistige Trägheit zu überwinden. Motiviert sowohl von der Krise in ihrem Verhältnis zu Familie und Gesellschaft, wie auch zu der keimenden Liebe zu Brauws, fängt sie an, Bücher zu lesen, sogar ‘sozialistische’ Literatur (437). Brauws öffnet im übertragenen Sinne die Tür zu ihrem Salon. Das Resultat ist, daß ‘zij opleefde’ (438). Constances Welt wird größer, ihr Leben besteht nicht mehr nur aus Modejournalen und Visiten, sie wird nicht nur geistig angeregt: langsam wird auch ein Verantwortungsgefühl für andere Menschen, ein ‘medegevoel en medelijden’ in ihr entwickelt, neue Lebensperspektiven eröffnen sich ihr: ‘Zij was een kleine mens als zij allen; zij was een kleine ziel - als zij allen -, maar haar ziel, de hare, groeide op, groeide uit’, und ‘nieuwe revelaties en waarheden’ offenbaren sich: ‘In haar was alles veranderd...’ (442). Indem Constance und Henri aus dem Gesellschaftsleben aussteigen, fängt das Innenleben der Personen an, das Erzählinteresse des Verfassers zu dominieren. ‘Het late leven’ der Personen signalisiert eine Akzentverlagerung auf Innerlichkeit, auf metaphysische Bedürfnisse. Die inneren Reflexionen der Personen haben großen Stellenwert, vielfach beschäftigen sich die Menschen hier mit metaphysischen Dimensionen | |
[pagina 58]
| |
des Lebens. Träumend folgt Constance den Wolken mit den Augen, indem sie sich ihrer Innenwelt hingibt: ‘Als Constance óp naar ze keek, de zware mystieke gevaarten, die kwamen van waar wist ze niet, en gingen, waarheen wist ze niet, en die maar even schaduwden over haar leven, verdwenen, en gevolgd werden door nieuwe gevaarten, even zwanger en zwaar van mysterie [...]’ (404). Sie erkennt, daß ihr früheres Leben ‘verspild’ und ‘ijdel’ war (489), daß sie nie wirklich gelebt hat (316), und diese Einsicht läßt ihre alte Disharmonie schwinden zugunsten eines neuen, harmonischeren Lebensgefühls. Sie fühlt sich in beinahe mystischer Weise eins mit Zeit und Raum, vor ihren Augen schwebt die Vision von einer ‘harmonie voor allen-in-alles, de werelden-tijd’ (489). Es dreht sich um eine mystisch erlebte ‘extase’, die sie wie ‘een ontvangenis van de heilige geest’ (490) erlebt. Daß diese ‘extase’ von ihrer Liebe zu Brauws inspiriert ist, ist für die ‘Entwicklung’ Constances nicht entscheidend. Sowohl für Constance wie für Henri impliziert ‘het late leven’ das Erlebnis einer späten Liebe, die für beide jedoch nur eine Vision bleibt. Beide verzichten auf ein spätes Glück, nicht zuletzt wegen ihres Sohnes. Ihre Ehe bleibt intakt, ihre ‘Liebesgeschichten’, (die nichts weiter als platonische Seelenfreundschaften sind), bedeuten für beide eine Schule der Toleranz und Humanität: sie nähern sich wiederum einander, finden zurück zu gegenseitiger Achtung und Sympathie. So lernt die auffahrende Constance, sich zu beherrschen: sie ‘overmeesterde zich met het nieuwe medegevoel en medelijden’ (442), Constance legt ihre oberflächliche Frauenidentität ab, sie überwindet ihre frühere ‘ijdelheid’, und deshalb wird die unrealisierte Liebe zu Brauws keine Niederlage für sie. Sie lernt zu resignieren, doch sie sieht ein, daß ‘zij had iets behouden, iets van glans in haar kleine ziel nog, die alleen zó - had kunnen leven, heel laat: want zij zag, dat zij, trots alle betreuring... behouden had: dankbaarheid...’ (504). Constance entwickelt die in Couperus' Werk so typische Klugheit der älteren Frauen: Lebensweisheit, Toleranz und Menschlichkeit sind erst möglich, wenn man die Prätentionen, den Snobismus und die leere Eitelkeit der jungen Frauen überwunden hat. So erkennt Constance - sie ist Mitte Vierzig! - daß sie erst als ‘oude vrouw’ dazu imstande ist, die Konventionen hinter sich zu lassen, um ein Leben in Wahrheit und Echtheit aufzubauen (502ff). Diese Erkenntnis hat fast mystischen Charakter und wird mehrmals mit einem Lichterlebnis verbunden (so z.B. 489f), das das metaphysische Bedürfnis in Constance unterstreicht. Noch deutlicher ist dieser Hang zu Mystik und Metaphysik bei der alten Frau Van der Welcke, Henris Mutter. Am Rande des Todes überwindet auch diese Frau ihre ‘Eitelkeit’ und versöhnt sich mit ihrer Schwiegertochter, die doch in ihren Augen das Leben ihres Sohnes ruiniert hat. Sie läßt Liebe und Toleranz die frühere Unversöhnlichkeit ersetzen, vergißt die | |
[pagina 59]
| |
Gesellschaftsregeln und wendet in stiller Resignation ihr Interesse nach innen. Ein Buch fällt in ihre Hände - ‘een wonderlijk boek, dat beschreef hoe de mensen waren, na de dood’ (190) - dieses Buch, (um welches Buch es sich handelt, läßt Couperus in der Schwebe)Ga naar voetnoot(10), ersetzt ihr die Bibel, die ihr keinen Trost mehr bereiten kann. Das fremde, neue Buch schenkt ihr einen Frieden, den sie seit Jahren nicht mehr kennt. So kann sie auch schließlich die Mutter von Constance aufsuchen, um Frieden in der Familie zu stiften; die beiden finden zueinander ‘met de onuitsprekelijke zachtheid van twee hele oude vrouwen’ (198). In ihrer Weise antizipieren sie ‘het heilige weten’ des letzten Romanteils. (Daß Frauen erst im hohen Alter zu innerer Sicherheit und innerem Frieden finden, scheint ein Leitmotiv bei Couperus zu sein). Dieser metaphysische Aspekt des Romans, den Couperus schon im ersten Romanteil einführt, wird im Laufe des Romans immer mehr ausgebaut und findet schließlich seinen markantesten Ausdruck in der Darstellung von Constances Lebensweg. Dieses metaphysische Licht gibt der Beschreibung von Verfall und Untergang einer Familie einen versöhnlichen Charakter und läßt den eigentlichen ‘Gesellschaftsroman’ oder ‘Haag-Roman’ in den Hintergrund rücken. Im Zentrum steht schließlich ein Frauenschicksal, das eine Metamorphose reflektiert, die sich kaum mehr mit gesellschaftlichen Begriffen bestimmen läßt. | |
AußenseitertumDas Leben greift in dem Roman hart zu. Liebesverzicht, Einsamkeit und Tod zehren die Kräfte auf und verlangen Resignation und Sichabfinden mit den vielen Tragödien des Lebens. So stehen Familienzugehörigkeit und die Illusion einer Gemeinschaft am Anfang des Buches in grellem Kontrast zu den vielen Kranken- und Todesgeschichten, die die allmähliche Vereinzelung der Individuen und die oft tragische Isolation der Familienmitglieder offenbaren. Der ramponierte Zustand der Familie kommt immer deutlicher zum Vorschein. So drückt sich die familiäre Desintegration in der langen Reihe von isolierten Randexistenzen, von bürgerlichen Außenseitern aus. Das aristokratische Sozialprestige der Familie wird immer stärker angegriffen, durch die Menge von reinen Außenseiterfiguren und exzentrischen Halbbürgern. Die Darstellung dieses sozialen und physischen Verfalls steht im dritten Teil des Buches zentral - ‘Zielenschemering’ - und das Interesse des Verfassers für diesen Prozeß führt dazu, daß die eigentliche Hauptperson, Constance, vor- | |
[pagina 60]
| |
übergehend in den Hintergrund verdrängt wird. - Diese Geschichte von einem Familienverfall, die unmittelbar nach Thomas Manns Buddenbrooks (1901) entstanden ist, ist jedoch nicht, wie bei Thomas Mann, mit dem Prozeß der psychischen Verfeinerung und Sensibilisierung verbunden, bei Couperus wird der Verfall auf sozialem und physischem Gebiet keineswegs mit ‘positiven’ Begleiterscheinungen komplementiert. Jedoch bietet sich auch bei Couperus eine Art Künstlertum als eine Alternative dar, wenn es darum geht, auferlegten bürgerlichen Rollen zu entfliehen. Das tritt zunächst bei Constances Bruder Ernst in Erscheinung, der es, wie Paul, zu nichts gebracht hat im bürgerlichen Leben, jedoch als Kunstliebhaber und Vasensammler irgendeine Lebenslegitimation sucht. Doch sein Versuch, gleichsam am Rande der Bürgerlichkeit eine alternative Identität aufzubauen, bekommt groteske Züge. Ernst hört, wie die Vasen gleich Menschen zu ihm reden, inmitten seiner Sammlung wird er geisteskrank und muß für längere Zeit in eine Heilanstalt gebracht werden. Seine Kunstleidenschft hat von Anfang an eine hysterische Note und unterstreicht seinen exzentrischen Charakter. Auch Emilie und Henri - Kinder von Bertha - melden sich aus dieser Gesellschaft aus und versuchen in Paris eine Lebensgrundlage durch ‘Künstler’-Tätigkeit zu finden: Henri als Clown in einem Zirkus(!) und Emilie durch ihre handgemalten Fächer. Wie bei Ernst wird der Versuch, eine Identität außerhalb der guten Gesellschaft aufzubauen, vom Schicksal (= von der Gesellschaftsordnung) grausam bestraft. Henri wird von Emilies Ehemann ermordet, Emilie setzt - psychisch krank - ihr Leben durch ein sinnloses Hinvegetieren auf dem Lande fort. Bei Ernst handelt es sich um eine Minimalabweichung - die allerdings zu Geisteskrankheit führt - die sich jedoch innerhalb des ‘Systems’ hält; bei Henri und Emilie ist der Protest deutlicher, um so stärker wird dann die fehlende Anpassung bestraft. Doch das System kennt auch mildere Abweichungen: Paul, der wie eine Art ‘Hofnarr’ und Dandy auftritt, protestiert durch sein Verhalten gegen die Alltagsnorm dieser Gesellschaft, ohne jedoch die Ordnung ernstlich zu bedrohen. Er ist vielmehr der tolerierte Exzentriker, der zwar ‘sich selbst als Gegenbild einer Gesellschaft’Ga naar voetnoot(11) entwirft, doch schließlich sein elegantes Außsenseitertum als Dandy in priviligierter Weise genießen darf. Bei sämtlichen von diesen Figuren sieht man die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die Flucht in Künstlertum und Exzentrizität drückt einen unartikulierten Wunsch aus, der Gesellschaft zu entfliehen. Lieber Einsamkeit als falsche Familiengemeinschaft: das scheint die Devise zu sein. Die Annäherung von Krankheitsgeschichte und Zeitroman, die Walter Müller-Seidel | |
[pagina 61]
| |
als typisch für Fontane hingestellt hatGa naar voetnoot(12), wird auch in De boeken ein typisches Strukturmerkmal. Welt-Abstinenz drückt sich als krankhafte Abweichung von der Gesellschaftsnorm aus, die in ihrer Fossilität und menschlichen Fragwürdigkeit von den Abweichlern in verschiedenem Grade erkannt wird. Obwohl die Standesgesetze nicht mehr so viel wert sind, daß ein Mensch an ihnen zugrunde gehen sollte, enden die Ausbruchsversuche meistens doch tragisch. Auch das Schicksal von Constances Bruder Gerrit fügt sich in die Reihe von individuellen Tragödien ein. Trotz des äußerlich gesehen blühenden Familienlebens, das er führt - er hat neun Kinder - trotz seines ‘männlichen’, quasi-aristokratischen Beruf - er ist Rittmeister bei den Husaren - unterliegt er schweren Melancholieanfällen und verdeutlicht am eindringlichsten den Vitalitätsverlust in der Familie. (Bezeichnenderweise sind auch seine Kinder gefährdet, eines ist geisteskrank). Als er mit einer früheren Geliebten - Pauline - konfrontiert wird, ist es mit seinen Kräften aus. Die Andeutungen, die Couperus schon am Anfang gemacht hat, daß Gerrit nicht glücklich ist (59, 91, 142), gehen brutal in Erfüllung. Sein Hang zur Melancholie wird immer pathologischer, er redet von ‘een grote melancholie... Omdat ik... nooit wel ben...’ (673) und unterliegt bald schweren Halluzinationen, die sich um Tod und Untergang drehen. Er läßt sich zu der ‘Waterpartij’ treiben und hat unheimliche Visionen: ‘Waarom waren die vlakken water als tragische plassen... Was het niet of bleke gezichten er uit staarden, uit die tragische plassen: bleke witte gezichten van vrouwen, verhonderdvoudigd door vreemde weerspiegelingen, wemelingen van witte gezichten in natte geplakte haren en met brekende ogen, die glimpten?’ (683). Das Ophelia-Motiv realisiert sich durch den Selbstmord Paulines: sie ertränkt sich im Kanal. Auch diese Außenseiterin wird von Tod und Untergang eingeholt, ihr Selbstmord variiert die Außenseiterthematik, die Constance durch ihre jugendliche Liebessünde verkörpert. Überall im Roman wird Freiheitsdrang als Abweichung gestempelt und nach den Normen ‘bestraft’, die als undiskutierbar wahr und allgemeingültig gelten. Der drückende Konflikt zwischen gesellschaftlichem Dekorum und dem Recht des Individuums auf Selbstrealisierung wirkt sich tödlich aus: auch der Offizier Gerrit begeht Selbsmord, nach der kleinen ‘Affäre’ mit Pauline kann er seinen Gedanken an Tod und Krankheit sowie seinen Schuldgefühlen nicht mehr standhalten. Die quasi adelige Geschichte bekommt die Form einer SterbegeschichteGa naar voetnoot(13). | |
[pagina 62]
| |
Das Motiv der ‘familieziekte’ wird auch durch die etwas eigenartig betonte Geschwisterliebe unterstrichen: das angedeutete inzestuöse Verhältnis zwischen Henri und Emilie wird von der Familie registriert - und totgeschwiegen in einem Versuch, den ‘Skandal’ zu bagatellisieren. Doch die Liebe zwischen Schwester und Bruder hat bei Couperus ein weites Spektrum: auch Constance hat ein sehr inniges Verhältnis zu ihren Brüdern Paul und Gerrit. So denkt Gerrit, ohne es laut zu sagen: ‘Zijn zuster, hij had haar lief... zijn zuster... hij voelde voor haar een gevoel... bijna mystiek... de sympathie uit de zelfde ziel... verdeeld in het mysterie der geboorte van broer en zuster uit een zelfde moeder, door een zelfde vader...’ (667f). Die Bruder/Schwester-Liebe hat mystischen Charakter, doch gesellschaftlich gesehen ist sie nicht ohne Gefahr: sie läßt Henri und Emilie zu Außenseitern werden, stempelt sie als Abweichler und führt sie in den Untergang. Die ‘Liebesgeschichten’ des Romans funktionieren somit als Symptom: sie verdeutlichen den Konflikt zwischen persönlichem Gefühl und gesellschaftlichen Erwartungen. Das Gefühl ist nicht souverän, sondern muß sich den Normen unterordnen. Überall im Roman sehen wir eine Unterdrückung der spontanen Bedürfnisse zugunsten der gesellschaftlichen Anforderungen. Eben das Motiv des Liebesverzichts offenbart am deutlichsten die uneingeschränkte Macht des Gesellschaftlichen. - Doch auch Constances jüngste Schwester, Dorine, die alles andere als eine ‘Sünderin durch Liebe’ ist, gehört zu den Verlierern des Romans, auch sie repräsentiert ein verpfuschtes Leben, ohne Sinn, ohne Ziele. Als eine verbitterte alte Jungfrau - mit ‘een diepe rancune, die duisterde in haar ziel’ (604) - führt sie ein eintöniges und einsames Leben, ‘lopende winkel in, winkel uit’ (605), ein Leben mit fast grotesken Zügen. Eben nach einem Besuch bei Dorine, erkennt Gerrit, ‘hoe eenzaam het toch geworden was, in een meer en meer wordende schemering rondom hen allen heen’ (607). Diese ‘Zielenschemering’ - Titel des dritten Romanteils - ist eine Metapher des Endes, sie steht für Krankheit, Einsamkeit und Tod; Phänomene, die besonders im dritten Teil ausgiebig geschildert werden. (Auch Bertha wird von diesem Prozeß eingeholt; nach dem Tod ihres Ehemanns lebt sie als ‘een levend lijk’Ga naar voetnoot(14) in Baarn und kapselt sich immer mehr vom Leben ab). Es ist nicht ohne Ironie, daß Constance, die ehemalige Scandaleuse, an diesem düsteren Prozeß nicht teilnimmt. Gerade sie, in ihrer Menschlichkeit und Toleranz, steht allmählich für ein Wertsystem, das Couperus als Alternative zur Enge und Spießbürgerlichkeit in Den Haag ausspielt. Auch ihr Sohn Addy repräsentiert einen positiven Gegenpol zu den vielen kranken Figuren des Romans - er hat ‘kracht en ras tegelijker- | |
[pagina 63]
| |
tijd’. (570). Bei ihm tritt das Holländische in positiver Ausgabe zu Tage: ‘Addy, wat ben jij Hollands! placht zijn moeder te zeggen’ (570). Addy hat eine innere Sicherheit, die den meisten Romanfiguren fehlt. So lehnt er z.B. hartnäckig die Ambitionen seiner Eltern bei seiner Berufswahl ab: er will nicht Diplomat werden (als eine Art Entschädigung für den sozialen ‘Verfall’ seines Vaters), sondern Arzt, und zwar aus einem profunden Mitleid mit seinen Mitmenschen (584). Durch seinen Beruf überwindet er die ‘ijdelheid’ in seinem Wesen (620) und bereitet dadurch seiner Großmutter, die auf eine glänzende Karriere ihres Enkels hofft, großen Schmerz. Diese Entscheidung Addys ist Ausdruck für ein ‘heiliges Wissen’, das im letzten Romanteil thematisiert wird. In diesem Zusammenhang wird die doppelte Bedeutung des Wortes ‘schemering’ offenbar: es steht nicht nur für den Übergang zur einbrechenden Dunkelheit, sondern bezeichnet auch den Dämmerzustand zwischen Nacht und Tag: die Phase vor dem Sonnenaufgang (729). Somit weicht im letzten Romanteil ‘het duister van ouderdom - het duister van smart... het duister van sceptisch egoïsme’ (712) einem Licht, das die kleinen Seelen zu neuer Menschlichkeit, neuem Mitleid verpflichtet. Das geschieht weit weg von Den Haag, in Driebergen, wo Constance und ihr Mann eine neue Existenz aufbauen. Mit den Krankengeschichten und Todesfällen im dritten Teil wird somit der eigentliche Haag-Roman abgeschlossen. Die neue Dimension, die die Menschen in ihr Leben einführen, kann nur weit weg vom oberflächlichen Gesellschaftsleben in Den Haag gesucht werden. Mit dem ‘Märchen’ vom ‘korrel’, das Constance im dritten Teil Marianne erzählt (567ff), wird ein neues Wertsystem des Menschen angedeutet, das dann im letzten Teil realisiert wird. Hier ist ‘Glück’ nicht mehr als Prestige und ‘mooie carrièren’ (620) verstanden, hier steht ‘Glück’ ganz einfach für ein Leben für andere - ‘Mijn kind, dat is het hele geheim’ (568), sagt Constance zu Marianne und fügt hinzu: ‘Gelukkig... gelukkig... Ja... het geluk van begrijpen, van weten... het geluk van resignatie... het geluk om aan te nemen zijn eigen kleinheid... en... niet boos en bitter te zijn om de vergissingen... en dankbaar te zijn voor wat mooi was, en licht... en klaar’ (569). Der dritte Romanteil klingt damit aus, daß die alte Mama Van Lowe ihr Haus in der Alexanderstraat aufgibt, das Symbol der intakten Familie - und somit zerbricht die Illusion des Familienzusammenhalts. Die alte Frau schlummert gleichsam ein. ‘Nu liet zij met zich doen als een kind... Want om haar heen was na haar laatste glimp de schemering dicht geworden tot duistere nacht...’ (732). Der Haag-Roman ist zu Ende. | |
[pagina 64]
| |
Die andere DimensionZwischen dem dritten und dem vierten Teil des Buches liegen zehn Jahre. Constance lebt mit ihrer Familie auf dem Lande, wo sie eine Art Großfamilie gegründet haben - Gerrits Witwe und ihre neun Kinder, die alte mevrouw Van Lowe, Emilie und später auch die psychisch kranke Tochter von Adolfine haben bei Constance Zuflucht gesucht. So steht Constance, nachdem die große Haag-Familie durch ökonomischen Ruin, Krankheiten und Todesfälle total zerbröckelt ist, am Ende des Romans als Sammelpunkt und Zufluchtsort. Die ehemalige Außenseiterin, die am Anfang des Buches nur mit knapper Not von der Familie akzeptiert wurde, hebt in ihrer Weise den Verfall auf und schafft ein neues Zentrum für die Familie, die bezeichnenderweise jetzt ein ‘einfaches’ Leben auf dem Lande führt, weit weg von Gesellschaftsspiel und Intrigen in Den Haag. Diese soziale ‘Degradierung’ der Familie hat ein neues Wertsystem mit sich gebracht: der Landsitz in Driebergen steht für einen Bereich, wo sich Gesellschaft und Menschlichkeit vertragen - eine neue Unschuld wird damit angedeutet. Die bisherige Familiengeschichte war für Couperus ein Medium, das seine Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaftsform des ausgehenden 19. Jahrhunderts reflektierte: ‘Door de familie en haar belangrijke rol in de opvoeding, in de gangbare opvatting over seksualiteit en liefde, in conventie en traditie van het menselijk gevoel, te bestuderen, benadert men tegelijk het wezen van de maatschappij waarvan zij een cel is’Ga naar voetnoot(15). Die Weise, in der Couperus diese Gesellschaft dargestellt hat, zeigt, daß er die Sozialformen des Bürgertums mit größter Skepsis betrachtete. ‘Couperus' eerste bezorgdheid bestond erin de redenen op te sporen, waarom geen “leven” mogelijk was in deze egoïstisch-materialistische en aan strakke normen gebonden maatschappij’Ga naar voetnoot(16). Rein geschichtlich gesehen bedeutet jedoch das Sozialmodell, das Couperus im letzten Romanteil entwirft, eine rückwärts gewandte Utopie: der Druck der ‘modernen’ Gesellschaft hat die Menschen in eine soziale Isolation geführt, an der die Geschichte vorbeizieht. (Überhaupt ist die Flucht weg von Den Haag ein wichtiges Motiv in Couperus' Gesamtwerk; oft versetzt er seine Figuren in den Süden, in die Sphäre von Licht und Sonne). Boten sich bis jetzt Vagabundentum und Außenseitertum jeder Art als Fluchtwege an, um dem Gesellschaftsdruck zu entkommen, so läst Couperus im letzten Romanteil die Sehnsucht der Menschen nach einem anderen Leben durch eine Art landadelige ‘Idylle’ in Erfüllung gehen. Als Gesellschaftsmodell, um die Jahrhundertwende entworfen, kann das kaum Verbind- | |
[pagina 65]
| |
lichkeit beanspruchen. Couperus hat bestimmt nicht im Landadel irgendeinen Garanten einer neuen politisch-sozialen Ordnung gesehen - und hier spürt man wohl auch eine gewisse Ratlosigkeit in der Romankonzeption. (Wenn es darum geht, ‘Alternativen’ zu finden, neigt der Verfasser zu einer Spiritualisierung; er weicht ‘konkreten’ Modellen aus - weshalb auch der Sozialist Brauws im letzten Romanteil eine schattenhafte Gestalt bleibt - und läßt das kritisierte Sozialmodell von einem ‘Weg nach innen’ abgelöst werden). Ging es dem Verfasser in der erste Romanhälfte um den Zusammenhang des Menschen mit einer bestimmten geschichtlichen und sozialen Situation, wobei sich das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft zu einer Epochendarstellung verdichtete, so läßt er im letzten Romanteil die gesellschaftliche Wirklichkeit zurücktreten zugunsten einer Menschendarstellung, die nach den ‘ewigen’ menschlichen Qualitäten fragt. Hier geht es um das Dauernde in der Zeitlichkeit. Daher der spiritualistische Titel dieses Romanteils - ‘Het heilige weten’ - wie in dem früheren Roman Psyche geht es um ein Wissen, das ‘het raadsel des levens’Ga naar voetnoot(17) offenbaren soll. In De boeken ist das Nicht-Wissen identisch mit ‘die nacht van plotseling chaos’, einer ‘wereld van duisternis’ (778). Besonders Addy - jetzt praktizierender ‘Armenartz’ und somit eine ähnliche Philantropie ausübend wie seine Mutter in ihrer Großfamilie - spiegelt in seiner ‘twee-ziel’ (851) das Drama von Wissen und Nicht-Wissen. Es geht bei diesem Wissen nicht um eine restlose Offenbarung des Lebensgeheimnisses, es geht vor allem um die Einsicht in ein gemeinsames Menschenschicksal; in die Grenzen, die dem Wissen um das ‘raadsel des levens’ gesetzt sind; in die Vergänglichkeit des irdischen Lebens; in die Zerbrechlichkeit des menschlichen Glücks. Positivismus und ‘dorre wijsbegeerte’ stehen dann als Gegenpol zu dem, was sich in Addy allmählich entwickelt: ‘een heldere mystiek, een vraag naar het leven van het leven [...] En tegelijk met zijn vermeerdering van praktische wetenschap, en positivistische kunde - had zich vermeerderd de vreemd mystische zekerheid in hem: dat hij genezen zou, als hij wilde... Dat hij kon genezen, door louter wil... Dat was niet te beredeneren, dat was in hem: éen heilig weten’ (782). Dieses ‘Wissen’ in Addy - zusammen mit seinen ‘humanitaire ideeën’ (783) - bewirkt schließlich die totale Entfremdung zwischen ihm und seiner Frau Mathilde. Bezeichnenderweise kann sich diese junge, eitle Frau nicht mit dem abgesonderten, ländlichen Leben in Driebergen abfinden. Die Ehe wird aufgelöst, Mathilde siedelt nach Dan Haag über, um dort ihre Position als ‘baronne Van der Welcke’ zu genießen. | |
[pagina 66]
| |
Was die junge, hübsche Mathilde nicht schafft - eine sinnvolle Existenz durch ein Leben für andere aufzubauen - das schafft Constance im letzten Romanteil - jedoch eben erst als ältere Frau. Mit der Übersiedlung nach Driebergen hat Constance ihre ‘ijdelheid’ überwunden und zu einem Wertsystem gefunden, das sie zu selbstloser Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber verpflichtet. Sie nimmt die neue Existenz in Driebergen als ein Geschenk des Schicksals entgegen, als ein ‘nieuw leven’ (830). Sie sieht sich selbst als Glied einer langen Familienkette und fühlt, daß ihre neue Großfamilie von den früheren Mitgliedern der Van der Welcke-Familie freundlich aufgenommen wird: ‘Stille stemmingen van oude eenzame mensen schenen te wazen uit de oude, ernstige meubles, die goedmoedig opglimlachten, omdat zoveel nieuw leven tussen hen kwam.’ (830). Aus dem Zerfall der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien wächst die gelöste Atmosphäre eines Lebens hervor, das stilles Glück, Toleranz und friedliches Zusammenleben mit sich bringt. Wenn der Tod sich in diesem Haus meldet, dann geschieht es nicht mehr gewaltsam und tragisch, sondern friedlich und gelöst. Zur Atmosphäre des alten Hauses gehört auch eine gewisse Frommheit - ‘een bijbelse vroomheid’ (830) - die Constance dazu veranlaßt, die Dienstmädchen sonntags in die Kirche zu schicken: ‘als waren zij, met reverentie, bijna verplicht aan de oude mensen, die hier vroeger hadden geleefd en gebeden’ (830). In dieser Weise erlebt Constance ein Glück, das in Den Haag nicht möglich war. Sie sieht ihr Leben einer größeren Totalität untergeordnet: der verpflichtenden ‘vroomheid’ des Hauses, die die früheren gesellschaftlichen Werte als Trug und Schein entlarvt. Die brutalen Gesetze des Haager Bürgertums sind hier wertlos. In diesem Milieu muß dann Addys Schicksal untragisch bleiben: seine Scheidung wird kein Skandal, sie ist nur eine Bagatelle in einer Welt, wo es um andere Dinge geht; so z.B. die Genesung eines gelähmten Mädchens (783). (Daß es im letzten Teil nicht nur um die Schilderung einer landadeligen Atmosphäre geht, zeigt vor allem Addys Anteilnahme an dem Schicksal der armen Landbevölkerung). In diesem ‘diepere leven’ stehen Nächstenliebe und ‘vergeving’ (774) über Standesgesetzen und Konventionen. So hat Constance ihre frühere ‘grootheid’ wie einen Mantel abgelegt. (Als eine leise Andeutung von vergangener Größe dienen die Bezeichnung ‘troon’ (748) für mevrouw Van Lowes Sessel, sowie der Kosename ‘Jupiter’ (799), mit dem das Oberhaupt der feudalen Familie, Henri Van der Welcke, benannt wird). Constance, die eigentlich ‘een vrouw voor eenzaamheid en van dromen’ war und nichts anderes wünschte, als ‘te liggen op haar chaise-longue’ (745), sie erlebt ihre Mutterrolle - ein Dutzend Kinder betreuend - als späte Lebenserfüllung, durch die sie ‘dat morbide neurozisme der familie’ (840) überwunden hat. Doch so wie der letzte Romanteil keine Tragödien mehr | |
[pagina 67]
| |
kennt, so verschwinden auch die heftigen Leidenschaften und die Extase aus dem Leben der Menschen: zum ‘heiligen Wissen’ gehört die Einsicht in ein für das menschliche Glück notwendiges ‘holdes Bescheiden’ (Mörike), das die extremen Gefühle exkludiert. Constances folgende Gedanken über dieses Thema könnte man schlechthin als ein Stück von Couperus' eigener ‘Lebensphilosophie’ hinstellen: ‘En zij glimlachte, Constance, want er was zo iets van vrede in huis, daar in die kamer, iets bijna van geluk, klein geluk, als de mensen wel eens vinden, een kort ogenblik’ (745). Glück gibt es nur für Augenblicke, dann gleitet das Leben fort, der Auflösung und dem Tod entgegen. Daher gehört die Einsicht in die Zeitlichkeit des Menschen und die Vergänglichkeit der irdischen Dinge zum ‘heiligen Wissen’. Die Auseinandersetzung mit dem natürlichen menschlichen ‘Verfall’ ist ein Leitmotiv in Couperus' Gesamtwerk: ‘De meeste helden uit Couperus' werk worden met dit aspect van de tijd geconfronteerd’Ga naar voetnoot(18). Diese Gewalt der Zeit unterstreicht die Fragwürdigkeit der sozialen Ordnungen und lehrt die Menschen zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Der ‘vroeg-oude scepticus’ (180) Paul kann schon im ersten Romanteil behaupten, daß Familie und Staat nicht mehr existieren, doch einen alternativen Halt findet dieser Nihilist nicht. Bei Constance jedoch stärkt die Einsicht in die Fragwüdigkeit der Ordnungen den Sinn fürs menschlich Echte: der Desintegration der Familie und der Gesellschaft setzt sie ihr Wissen um einen metaphysischen Halt des Menschen entgegen. Die innere Handlung des letzten Romanteils ist ein Kampf gegen Verfall, gegen die Macht der Zeit. Das Wissen um die Unvermeidlichkeit menschlichen Leidens, um die Unausweichlichkeit des Todes und des Verfalls, bildet im letzten Romanteil den Ausgangspunkt für die Suche nach einer anderen Dimension im Menschenleben. Diese neue Dimension läßt sich nicht am Weltbild der Bourgeoisie ablesen, daher Couperus' sorgfältige soziale Isolierung seiner Personen am Ende des Buches. Fritz Martini hat dieses grundsätzliche Problem der bürgerlichen Realisten umrissen; er behauptet, daß ‘sich das Bewußtsein einer überpersönlichen Ordnung, der das Ich sich als Glied eingeordnet und verpflichtet wußte, auflöste, das Ich sich mehr und mehr auf sich selbst zurückgewiesen fand, um eine Sinnbestimmung des Lebens, seines Lebens zu gewinnen oder sich in ihm zurückzufinden. Realität und subjektives Dasein traten mehr und mehr in der Enttäuschung von Sinnerwartung und Glückserfüllung auseinander; das Ich geriet in dieser Wirklichkeit zunehmend vor das Entfremdete, Sinnwidrige oder das | |
[pagina 68]
| |
Unfaßbare, dessen Deutung sich ihm entzog’Ga naar voetnoot(19). Daß dieses Bedürfnis nach ‘Zusammenhangserfahrung, sei es in der begrenzten Wirklichkeit, sei es über ihr als irrationales Gesetz aller Lebenserscheinungen’Ga naar voetnoot(20), zu den typischen Merkmalen der gesamteuropäischen realistischen Romankunst gehört, steht außer Zweifel. In diesem Kontext der ‘irrationalen’ Lösung des Problems stehen sowohl Thomas Buddenbrooks' Schopenhauer-Lektüre sowie die ‘mystische wetenschap’ (780) und die ‘vroomheid’ (830) in De boeken: in beiden Fällen drückt sich ein metaphysisches Bedürfnis aus, das eben nicht durch das bürgerliche Weltbild befriedigt werden kann. In diesem Punkt hat jedoch Couperus' Beobachtung der Gesellschaft ihre Grenzen: nicht von ungefähr fällt des Wort ‘atavistisch’ (178, 179) im ersten Romanteil, als Constance mit ihren Brüdern über Familie und Staat redet. Constances Sehnsucht nach ‘de patriarchale woestijnfamilie’ (176) und ihre ‘pastorale ideeën’ (179) weisen auf das Sozialmodell des Romanendes hin - eine Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft ist für Couperus in diesem Werk nicht denkbar, die landadelige Pastoralidylle richtet sich gegen den historischen Verlauf. Zwar sagt Constance am Anfang des Romans daß ‘we niet meer leven in een Hebreeuws tijdperk’ (179), doch als Sozialanalyse reicht diese negative feststellung nicht aus: sowohl ihr wie wohl auch dem Verfasser bleibt eine zukunftsgerichtete Perspektive versperrt. Die leitende Strukturlinie des Verfalls hat also sowohl eine sozialgeschichtliche wie auch bewußtseinsgeschichtliche Bedeutung. Die Spannung zwischen dem Erlebnis des Verfalls und der Einsicht in eine wesenhafte Dimension, die man dem flüchtigen Leben entwinden kann, diese Spannung geht wie ein roter Faden durch das Buch und sichert seine thematische Konsistenz. Diese Diskrepanz von subjektiver und objektiver Realität ist eng mit der Licht-Symbolik von Couperus verbunden, die besonders im Titel ‘Zielenschemering’ zum Ausdruck kommt. Aus gutem Grund werden wir uns in diesem Kontext nicht an der Diskussion über die gnostische Komponente dieser Thematik beteiligenGa naar voetnoot(21). Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß das ‘schemering’-Motiv in den letzten Romanteil in seiner ‘positiven’ Bedeutung eingesetzt wird: die Menschen bewegen sich dem Licht entgegen, mit dem ‘heilige weten’ ist ‘een straal van glans’ (823) verbunden. Daher die Offenheit des Romanendes: die Menschen verlassen ‘een donker labyrinth’ (823) und bewegen sich in offene Landschaften hinein. Tragisches kann sich hier nicht mehr ereignen. Krankheit und Tod verlieren ihren gewaltsamen Charakter, | |
[pagina 69]
| |
Mama Van Lowe stirbt friedlich, ohne die innere Gebrochenheit, die bei den Personen im dritten Romanteil so deutlich war: ‘Zij zagen allen naar de oude vrouw. Zij zat als gewoonlijk, stil in haar grote stoel, de gerimpelde aderige handen gevouwen in de zwarte schoot. Het hoofd rustte achterover, wit in het witte haar omlijst. Zij wist véel heilig weten en haar oude mond glimlachte er om, bemoedigend...’ (984). Dieses ‘bemoedigend’ - das letzte Wort des Romans - meint die Öffnung zu einem neuen Dasein, das noch Möglichkeiten hat. Somit wird der letzte Romanteil ein Gegenentwurf zum früheren Haag-Roman. Das ‘heilige weten’ der alten Frau auf der letzten Romanseite impliziert Einsicht in die gnadenlose Zeit und die Vergänglichkeit des Irdischen, hält aber auch eine zögernde Hoffnung bereit. Die ‘ijlende tijd’ (740, 743), die schmerzhafte Erfahrung der Zeitlichkeit stehen am Ende neben einer ‘mystische wetenschap’; daß die kleine Seele des Menschen eigentlich ‘niet veel nodig’ hat - ‘een grein van werkelijke waarheid en werkelijkheid’ (568). Der Mensch, der um dieser Wahrheit willen auf Stand und Anspruch verzichten kann, hebt zwar nicht den Verfall auf, aber er kann freier atmen und glücklicher leben. In diesem Punkt liegt vielleicht ein wesentlicher Teil der ‘enorme psychologische intuïtie’Ga naar voetnoot(22) begründet, die man dem Verfasser dieses Buches nachgerühmt hat. |
|