Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse taal- en letterkunde (nieuwe reeks). Jaargang 1972
(1972)– [tijdschrift] Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse taal- en letterkunde– Auteursrechtelijk beschermd
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Zu einigen Streitpunkten der Veldekeforschung
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konnte, und auf dem die Veldekeforschung sich dem Kreuzfeuer der Kritik stellen mußte. Eines hat dies Symposion deutlich gemacht. Trotz aller bedeutenden Leistungen und Fortschritte der letzten 100 Jahre sieht sich die Veldekeforschung immer wieder auf einige Grundfragen zurückgeworfen, die sie nicht eindeutig und schlüssig beantworten kann. Meinung steht gegen Meinung. Ähnlich wie auf der Ebene der Kunst die äußerlich so verschiedenen Veldekestandbilder in Hasselt und Maastricht das Antlitz des Dichters nicht wahrheitsgetreu wiedergeben können, sondern sich auf Idealbilder beschränken müssen, herrscht auch auf der Ebene der Wissenschaft noch viel Intuition. Trotz gleicher Materialgrundlage und gleicher Zielsetzungen steht immer noch Denkentwurf gegen Denkenwurf, wenn auch heute auf andere Weise und auf anderem Niveau als etwa noch vor 50 oder 100 Jahren. Kaum scheint ein ‘Veldekeproblem’ gelöst, erheben sich dahinter ungezählte und schwierigere neue Probleme. Aus den Erfahrungen 30-jähriger Veldekeforschung, wie ich sie zusammen mit dem Meister seines Faches Theodor Frings betreiben durfte, suche ich die Frage zu beantworten, warum dies so ist, warum wir nach allen Bemühungen und Leistungen immer wieder an neuen Anfängen stehen. Die Gründe sind teils objektiver, teils subjektiver Natur. Zu den objektiven gehören die Grenzen, die der Veldekeforschung durch die faktischen komplizierten Gegebenheiten gezogen sind. Die vorhandenen Daten reichen zu schlüssigen Beweisen einfach nicht aus, sie erlauben nur Hypothesen auf relativ schwacher Grundlage, die dennoch immer wieder gewagt werden müssen. Zu den objektiven Gründen gehört ferner die Komplexität des Phänomens Veldeke, das nicht nur internationale, sondern auch interdisziplinäre Zusammenarbeit fordert, das jedenfalls die Möglichkeiten eines Forschers überschreitet und Mediävisten im weitesten Sinne des Wortes erfordert. An Wissensgebieten müssen bei der Veldekeforschung beteiligt werden die Sprach- und Literaturwissenschaft wie Sprach- und Literaturgeschichte, die Geschichte als Wirtschafts-, Sozial-, Kulturgeschichte und politische Geschichte im weitesten Sinne, die Niederlandistik, Germanistik, Romanistik, Latinistik und Komparatistik, um nur die wichtigsten zu nennen, nicht zu vergessen die Editionswissenschaft, Paläographie u.a.m. Zu den subjektiven Gründen gehört die begrenzte Zeit- und Arbeitskraft der Forscher. Ein ungeheurer Arbeitsaufwand ist nötig für kleine und bescheidene Ergebnisse. Er ist oft nicht zu erübrigen, aber auch nicht zu verantworten. Kein Wunder, wenn viele Wege nicht konse- | |
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quent zu Ende gegangen, Abkürzungsverfahren gewählt und manche Kompromisse geschlossen werden. Außerdem steht jeder Forscher in einer oft mehr belastenden als fördernden Wissenschaftstradition, deren Umfang ständig wächst, und die kritisch verarbeitet, oft sogar überwunden werden muß. Außerdem fordert der Fortschritt der Wissenschaft, neue Strömungen in Sprach- und Literaturwissenschaft, den erreichten Erkenntnisstand immer wieder zu überprüfen. Es soll damit keinesfalls einem Pessimismus und einer Resignation das Wort geredet werden, es soll nur der Blick offengehalten werden für das Mögliche auf der einen und das Unmögliche auf der anderen Seite. Wo die Grenze des Möglichen überschritten wird, beginnt das Feld der Vermutungen und Hypothesen und damit des wissenschaftlichen Meinungsstreites, da sie nicht unwidersprochen bleiben werden. Und trotzdem hat dieser wiederholte Vorstoß ins scheinbar Unmögliche nicht nur seinen besonderen Reiz, sondern auch seine Berechtigung im Dienste des wissenschaftlichen Fortschritts. Nicht selten vermochte er es, die Grenzen des Möglichen unvermutet zu erweitern und eine neue Ausgangsbasis für die Forschung zu schaffen. Die These rief die Antithese auf den Plan, die auf höherer Ebene zur Synthese vereinigt werden konnten. In diesem Sinne ist die Bilanz der Veldekeforschung der letzten rund 100 Jahre trotz aller Rückschläge in höchstem Maß positiv zu nennen. Viele Antinomien, die die Geister hart aufeinanderprallen ließen, erwiesen sich tieferer Einsicht als gegenstandslos, als auf höherer Ebene auflösbar, so z.B. ob Veldeke Spielmann, Geistlicher oder Ritter gewesen sei, ob er Niederländer oder Deutscher zu nennen sei, ob er sich in seinen Werken der lokalen Mundart oder einer entwickelten überterritorialen Literatursprache bediene, ob er in westlich-niederländischer oder östlich-rheinischer literarischer Tradition stehe, ob die Servatiuslegende geistlich-seelsorgliche oder politische Ziele verfolge, ob man mit einem maasländischen oder thüringischen Archetypus der Eneasüberlieferung rechnen müsse, ob sein Eneasroman geistlich oder profan zu deuten sei, ob er eigenen literarischen Rang zu beanspruchen habe oder nur eine Umsetzung seiner anglonormannischen Vorlage darstelle, um nur die wichtigsten Streitpunkte zu nennen. Lassen Sie mich einige Etappen in unserer Erkenntniserweiterung durch die Überwindung solcher Antinomien oder wenigstens den Versuch ihrer Überwindung skizzieren. Dabei sind verschiedene von ihnen so eng miteinander verflochten, daß sie nicht ohne Schaden voneinander isoliert werden können. | |
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Der Raum, in dem sich Veldekes Leben und Wirken entfaltete, verteilt sich heute auf vier Staaten germanischer Zunge, zwei niederländischsprachige und zwei deutschsprachige, das südniederländische Belgien, die nordniederländischen Niederlande, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Veldeke bewegte sich zwar auf seiner Wanderschaft von Fürstenhof zu Fürstenhof, blieb doch aber trotz vieler kleiner Grenzüberschreitungen im Rahmen des einen ‘Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation’. Sprachgeschichte und Literaturgeschichte werden aber üblicherweise von der Gegenwart her in nationalen Grenzen konzipiert. So erscheint Veldeke auf der einen Seite notwendig als niederländischsprachiger Dichter, auf der andern als deutschsprachiger. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, gehört Veldeke doch ins nationalliterarische Erbe beider Seiten, bevor die Nationalliteraturen der Niederländer und der Deutschen ihre getrennten Wege nach alter kontinentalwestgermanischer Gemeinsamkeit antraten. Man muß sich nur der Anachronie der sich heute gegenseitig ausschließenden und gegeneinander abgrenzenden Termini ‘niederländisch’ und ‘deutsch’ bewußt bleiben und sie nicht verabsolutieren, wie das leider häufig auf beiden Seiten der heutigen Sprachgrenze geschehen ist. Dagegen braucht es durchaus nicht anachronistisch zu sein, Veldeke unter anderem, und zwar historischem Aspekt allein einen deutschprachigen Dichter zu nennen. Das Wort deutsch, theudisc, diutisk hat, wie sich im Anschluß an Goossens' jüngste AusführungenGa naar voetnoot(5) sagen läßt, zur Zeit des Dichters zwei Bedeutungen. Es bezeichnet einmal nach alter Art das ganze Konglomerat kontinentalwestgermanischer Dialekte als angestammte Volkssprache, aus und über denen sich die späteren Kultursprachen Niederländisch und Deutsch entwickelt haben. Zum andern aber bezeichnet es mit wachsender Ausbreitung nach Osten auch die werdende ‘deutsche Nationalitätssprache’ des ostfränkischen Reiches. Seit dem 11. Jahrhundert war deutsch nicht nur als Sprachbegriff, sondern auch schon als festumrissener Volks- und Raumbegriff in Geltung zur Bezeichnung des Einheitsbewußtseins der ‘deutschen Nationalität’, eine der Folgen des vorübergehenden Erstarkens der Zentralgewalt im territorialen Umkreis des ‘Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation’ trotz aller feudalen Zersplitterung. Außer Flandern gehörten ja die niederen | |
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Lande seit 880 zum ostfränkischen Reich. Veldeke selbst benutzt dutsch zur Kennzeichnung seiner Sprache wohl außer im ersten auch schon im zweiten Sinne, denn Reichszugehörigkeitsgefühl läßt sich sowohl aus seiner Servatiuslegende wie aus seinem Eneasroman ablesen. So sicher es ist, daß Veldekes Sprache in diesem besonderen historischen Sinne deutsch genannt werden darf, so unsicher konnte es im einzelnen bleiben, welcher Erscheinungsform und welcher funktionalstilistischen Variante dieser noch äußerst heterogenen ‘Nationalitätssprache’Ga naar voetnoot(6) sich der Dichter in seinen Werken bedient habe. Denn ‘deutsche Nationalitätssprache’, die erst Jahrhunderte ältere Vorstufe einer ‘deutschen Nationalsprache’ ist, meint nur eine relative Einheit in der Vielfalt der Erscheinungen, eine ideelle Einheit in Abhebung der Volkssprache von der Bildungssprache des Latein, aber auch in Abhebung der deutschen Nationalitätssprache von den benachbarten Nationalitätssprachen, am frühesten vom walsch, dem ‘Französisch’ der verwelschten Franken. In der gesprochenen Sprache des Alltags werden die regional stark zerklüfteten Volksmundarten bis weit in höhere Schichten der Bevölkerung hinein wie bisher die breite tragfähige Basis der Sprachpyramide gebildet haben. Bauern von der Schelde haben sich gewiß nicht mit solchen von der Unstrut oder aus einem Alpental verständigen können, aber in dieser ortsfesten Berufsgruppe bestand wohl auch kein Bedürfnis dazu. Anders die bildungstragende Schicht, in die gerade in Veldekes Zeitraum durch Neukonstituierung, Umbildung und auch Umorientierung neben die geistliche Aristokratie die weltliche tatkräftig einrückt, die sich außerdem selbst umformiert, da sie sich den von unten her andringenden Ministerialen hat öffnen müssen, aus der der Ritterstand hervorgeht. Für die geistliche Aristokratie war natürlich das internationale Latein Hauptkommunikationsmittel. Da seine Beherrschung einen geistlichen Bildungsgang voraussetzte, wird es für viele Ritter, deren praktischer Ausbildungsgang zwar die Erlernung des Französischen, wohl in der Form der Umgangssprache des fortgeschritteneren französischen Rittertums, nicht aber die des Lateinischen vorsah, nicht in Frage gekommen sein. Sie waren auf das Deutsche als Kommunikationsmittel angewiesen, das diese neue ortsunfestere, räumlich beweglichere Bildungsschicht mit ihren militä- | |
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rischen und politischen Aufgaben nun ihren Zwecken dienstbar machen mußte. Wir haben mit einer deutschen Umgangssprache der gebildeten Oberschichten zu rechnen, die sich aus engsten oder auch schon engeren lokalen Bindungen löste. Das forderten die Formen der Zentralisierung wie Bischofssitze, Klöster, Pfalzen, Reichstage, Höfe, Feldzüge, Kreuzzüge u. ä., Verkehr und Austausch zwischen diesen Zentren, Bewegung der Menschen und Dinge, Austausch von Denken, Wollen und Fühlen. Aus dem ganzen Reichtum dieser deutschen Umgangssprache der gebildeten Oberschichten muß durch Auswahl und Stilisierung die Dichtersprache der Zeit mit ihrer speziell ästhetischen Komponente und der ganzen Palette funktionalstilistischer Varianten erwachsen sein. Sie ist es, die wir in der schriftlichen Überlieferung der Zeit fassen. Hier mußte nun der dornige Weg beginnen, den Ort von Veldekes Dichtersprache aus der Überlieferung seiner Lieder, der Servatiuslegende und des Eneasromans zu bestimmen. Diese Überlieferung weist eine derartige zeitliche und räumliche Streuung auf, daß besondere methodische Wege der Erschließung der jeweiligen Ausgangsfassung gefunden werden mußten. Die Qualität dieser Überlieferung, oberflächlich betrachtet, konnte auf Irrwege führen, so z.B. zu der Schlußfolgerung, daß Servatiuslegende und Eneasroman zwei verschiedenen Autoren zuzuschreiben seien, oder daß der Servatius eine ‘niederländische’ Dichtung, Lieder und Eneasroman ‘mittelhochdeutsch’ konzipierte Werke seien. Der erstere Irrtum hatte nie viele Anhänger. Er erledigte sich von selbst mit der wachsenden Einsicht in genrebedingte funktionalstilistische Unterschiede im Rahmen der feudalhöfischen Dichtersprache, die auch durch den Individualstil großer Dichterpersönlichkeiten dieser Zeit nie ganz überdeckt werden. Geistliche Legende und höfischer Ritterroman stehen in unterschiedlichen sprachstilistischen Traditionen. Hätte der Dichter noch eine Chanson de Geste geschrieben, würde diese wiederum gewisse charakteristische, genrebedingte Abweichungen zeigen. Die zweite Meinung mit all ihren Varianten war nicht so leicht zu erschüttern, sie hat ihre Anhänger bis heute. Das hat folgende Gründe. Die äußere Geschichte der beiden Epen führt im Falle der Legende nach Loon und Maastricht, im Falle des Ritterromans aber über das niederrheinische Kleve auf die thüringische Neuenburg. Beide Epen sind nicht in einem Zuge gedichtet. Aber die beiden Teile des Servatius sind, wenn auch mit zeitlichem Abstand, beide in den heimatlichen Landen an der Maas entstanden, während der Eneas nach den Angaben im Epilog nur zu vier Fünftel im Heimatraum gedichtet wurde, abgeschlossen aber erst neun Jahre spä- | |
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ter im entfernten Thüringen unter anscheinend grundsätzlich gewandelten Bedingungen und daher nur hochdeutsch überliefert. Die Lieder sind sogar nur in oberdeutschem Gewand auf uns gekommen, obwohl sie sich im Rahmen der Sammlungen des hochdeutschen Minnesangs recht fremdartig ausnehmen. Sie ziehen ihre Lebens- und Wortkraft aus anderen, eben nordwestlichen Traditionen. Bleiben als Ausgangspunkt für eine Beurteilung der Dichtersprache Veldekes bei seinem heimatlichen, maasländischen Start nur die dürftigen, nicht mehr als etwa 5 bis 6% der Gesamtlegende ausmachenden limburgischen Servatiusfragmente. Sie setzen schon die Zusammenfassung beider Teile der Dichtung zu einem Großepos voraus, vielleicht auch das Anwachsen einzelner vortragsbedingter Zusätze, und ihre Niederschrift erfolgte erst ein Menschenalter nach der Enstehung des Werkes. Wo die Niederschrift im Südosten der Maaslande genau erfolgte, bleibt strittig, ebenso, ob sie Veldekes Sprachusus noch unverändert widerspiegelt. Wichtiger ist, daß sich diese Fragmente einordnen lassen in eine zeitgenössische epische Tradition des ‘Maas-Rhein-Gebietes’.Ga naar voetnoot(7) Was wir seinerzeit schon andeuteten,Ga naar voetnoot(8) hat sich durch die angelaufene minutiöse Aufarbeitung der bruchstückhaften Überlieferung dieser Tradition durch De Smet und GysselingGa naar voetnoot(9) glänzend bestätigt. Es gab in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Maas-Rhein-Gebiet eine Blüte epischer Dichtung, vertreten außer durch die Servatiusfragmente durch die Bruchstücke des Floyris, des ‘ältesten rheinisch-maasländischen Minneromans’, die des Aiol-Romans und des niederfränkischen Tristan. Sie bedienen sich einer regionalen Dichtersprache, der man eine gewisse ideelle Einheit nicht abstreiten kann, bei aller lokalen Abgestuftheit im einzelnen. Diese war vermutlich eine natürliche Begleiterscheinung der räumlichen Zersplitterung der Landschaft in viele kleine höfische Kulturzentren ohne eine hervorragende bindende Mitte. Diese lokale Ab- | |
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gestuftheit bleibt übrigens das Charakteristikum auch aller jüngeren großräumigeren Dichtersprachen des Mittelalters, also z.B. auch noch der ‘mittelniederländischen’ und der ‘mittelhochdeutschen’, wenn hier auch der Grad der lokalen Abgestuftheit unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen mitunter stark abgenommen hat. Die epische Überlieferung des Maas-Rhein-Gebietes nun läßt sich, wenn man De Smets Lokalisierungsversuchen für Floyris und Tristan und Gysselings für den Aiol folgen darf, in Bezug auf die regionale Gebundenheit der Dichtersprache im niederfränkischen Übergangsstreifen in eine südnördliche Abfolge bringen, von den Servatiusfragmenten aus Veldekes vermutlichem südlichen Herkunftsbereich, über den mittleren Floyris im Flußgebiet der Roer irgendwo im Umkreis von Heinsberg und Roermond, und dem Aiol aus dem Venloer Gebiet, bis zum nördlichen Tristan im fränkisch-sächsischen Grenzraum, abgesteckt etwa durch die Orte Arnhem/Nijmegen auf der einen und Bocholt/Kleve auf der andern Seite. Mehr noch als die Servatiuslegende, die ja vom Genre her erstrangig in mittellateinisch-geistlicher Tradition steht, paßte in diese altlimburgisch-geldernsche östliche Literaturprovinz höfischer Provenienz und französischen Einflusses Veldekes Eneasroman. Denn außer Veldekes Servatius haben alle genannten Epen französische Vorbilder, wie Veldekes ‘Eneas’ den anglonormannischen ‘Roman d'Eneas’, und alle sind auf die moderne höfische Minnethematik orientiert. In seiner ersten Konzeption hat der Eneasroman nach den Angaben des Epilogs zweifellos auch in die skizzierte Literaturprovinz hinein gehört, wenn er auch, wie zu vermuten ist, nach Inhalt, Sprachstil, Vers- und Reimtechnik seines Epos von vornherein moderner, weltoffener, fortgeschrittener war als seine heimischen Dichterkollegen, von denen uns erstaunlicherweise auch gar keine Namen bekannt sind. Daß diese Literaturprovinz erst heute für uns genauere Umrisse gewinnt, hängt mit ihrer relativ kurzen Blütezeit und deren überlieferungsgeschichtlichen Folgen zusammen. Edward Schröder konnte seinerzeit noch behaupten, daß es im Maasland keine Literatur gab, an die Veldeke hätte anknüpfen können. Aber heute sollten wir das besser wissen. Allerdings legten die Nachfahren der kurzen maasländischen Blüte dann keinen Wert mehr auf die Überlieferung dieser wegen der regionalen Gebundenheit vor allem ihrer Reimtechnik und Reimformeln rasch veraltenden Werke. Daher haben sich nur dürftige Reste davon erhalten, der Zufall bewahrte sie vor dem völligen Verschwinden. Kein Wunder also, daß von Veldekes erstem unvollständigen Entwurf seines Eneas- | |
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romans überhaupt keine Spur mehr zu finden ist. Ihn rettete vor dem Vergessenwerden allein, daß das Schicksal den Dichter zwang, Anschluß an eine andere Literaturprovinz zu suchen, das neu aufstrebende hochdeutsche Kulturzentrum am Thüringer Hof, das einer Blüte erst entgegenging und weiträumiger und geschmacklich moderner orientiert war. Dort vollendete Veldeke nach neunjähriger Pause seinen Roman unter neuem Mäzenat und veränderten objektiven und subjektiven Bedingungen. In welcher dichtersprachlichen Regionalvariante, niederfränkisch-maasländisch oder hochdeutsch-thüringisch ist bis heute ein Streitpunkt der Forschung. Die Vertreter einer ‘thüringischen Eneide’, wie sie schon Ettmüllers Ausgabe von 1852 zu bieten versuchte, und zu denen heute z.B. Werner Schröder, Pretzel und Schützeichel gehören, haben also die Vorstellung eines zweisprachigen Dichters, der in der neuen Wahlheimat den vorliegenden Teil seines Romans verhochdeutscht und ihn durch einen hochdeutschen Abschluß vollendet habe. Also ein maasländisches Frühwerk und eine thüringische ‘Ausgabe letzter Hand’, wie Pretzel es formulierte.Ga naar voetnoot(10) Dabei wird nicht selten auf die hochdeutsch dichtenden Niederdeutschen verwiesen. Aber während es sich bei den Niederdeutschen um das Nebeneinander von niederdeutscher Mundart bzw. niederdeutscher Umgangssprache und hochdeutscher Literatursprache handelt, also das Nebeneinander zweier soziologisch und funktionalstilistisch verschiedener Erscheinungsformen der Sprache, müßte für Veldeke Zweispurigkeit auf der gleichen Ebene der Literatursprache angenommen werden. Das ist in höchstem Grade unwahrscheinlich, und ein kritischer Vergleich der Sprache beider Epen spricht auch dagegen. Einzukalkulieren ist allein die poetische Weiterentwicklung des Dichters im Laufe fast eines Jahrzehnts, die den maasländischen Grundbestand seiner Literatursprache in mancher Hinsicht, aber nur in äußerlichsten Schichten, modifiziert haben mag, was natürlich nicht zu verwechseln ist mit von Kraus' Vorstellung, daß Veldeke in seinem Dichten vorsätzliche Rücksicht aufs Hochdeutsche genommen habe.Ga naar voetnoot(11) Daß sich im sogen. ‘thüringischen’ Schluß die hochdeutschen Züge verstärken, leidet | |
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keinen Zweifel. Aber von einem ‘flämelnden Veldeke’Ga naar voetnoot(12) sprechen zu wollen, einer hochdeutschen Dichtersprache mit niederfränkischen Reminiszenzen, hieße die Fakten auf den Kopf stellen, wenn sich auch heutige Vertreter dieser Meinung auf Jacob Grimm und Karl Lachmann berufen können. Die Mode des vlaemens ist eine jüngere Errungenschaft der oberdeutschen Variante der Dichtersprache im Umkreis staufischer Machtentfaltung, dem ‘höfischen Deutsch des Rhein-Main-Donaugebietes’, die zu Veldekes Thüringer Zeit noch in den Kinderschuhen steckte. Daß Veldeke alle seine Werke, auch die Lieder und den Eneasroman, in einer maasländischen Literatursprache abgefaßt habe, ist ein Gedanke, der die Forschung seit hundert Jahren nicht mehr losgelassen hat, und der mit so bedeutenden Namen wie Wilhelm Braune, J.H. Kern, Johannes Franck, Otto Behaghel, Theodor Frings verbunden ist.Ga naar voetnoot(13) Nur die Methoden des Nachweises haben sich, zumal im Gefolge der Fortschritte der Dialektgeographie und Sprachsoziologie im Laufe der Zeit sehr verfeinert, womit sich aber auch die Ansprüche gesteigert haben. Und damit ist das oft schon greifbar nahe geglaubte Ziel immer wieder ferner gerückt. Konnte Behaghel sich noch damit zufrieden geben, die wenigen damals bekannten, auch durchwegs jüngeren limburgischen Texte unmittelbar und eklektisch zu seiner Textrekonstruktion der Eneide von 1882 zu benutzen, so sahen wir uns für unsere Versuche kritischer Ausgaben von 1947,Ga naar voetnoot(14) 1956Ga naar voetnoot(15) und 1964 ff.Ga naar voetnoot(16) mit viel komplexeren und vielschichtigeren Gegebenheiten konfrontiert. Allein von der Sprache der dürftigen Servatiusfragmente her und dem Wissen um ihren zeitlichen, räumlichen und gesellschaftlichen Ort in einem Landstrich höchst bewegten und komplizierten Sprachgeschehens mußte die heterogene Überlieferung auf einen möglichen einheitlichen maasländischen Ausgangspunkt hin befragt werden. Und wenn dieser einheitliche Ausgangspunkt feststand - was wir glauben | |
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nachgewiesen zu haben -, mußte versucht werden, alle Werke ins Maasländische der Servatiusfragmente aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zurückzuschreiben. Schwierigkeiten und Grenzen dieses Unterfangens hat meines Erachtens am treffendsten Goossens formuliert in seinen knappen Ausführungen ‘Zur wissenschaftlichen Bewertung’ unserer ‘Veldeke-Ausgaben’.Ga naar voetnoot(17) Die Sicherheit der Rekonstruktion nimmt grundsätzlich ab vom geschlossenen, eng umrissenen System der Laute über das umfänglichere der Formen und Syntagmen bis hin zum offenen, schwer überschaubaren des Wortschatzes, anderseits nimmt sie zu von der Einfach- über die Zwei- und Dreifach- bis zur Mehrfachüberlieferung, so daß im Endeffekt die Chancen für die Herstellung eines kritischen Textes für den Servatius mit seiner junglimburgischen Einfach- bzw. altlimburgisch-junglimburgischen Zweifachüberlieferung geringer sind als die der Eneide mit ihrer mittel- und oberdeutschen Mehrfachüberlieferung, ja Goossens sogar auszusprechen wagt, daß ihm unsere ‘Rekonstruktion der Eneide’ ‘die gelungenste von allen zu sein’ ‘scheint’, so paradox sich das für manchen anhören mag. Ausgangspunkt und Richtschnur auch für unsere Eneideausgabe bildeten also die Servatiusfragmente. Aber wir haben uns in unserer dreibändigen Ausgabe nicht wie Behaghel auf die Rekonstruktion eines kritischen Textes beschränkt, sondern ihn darüber hinaus, soweit möglich, Vers um Vers aus der Überlieferung begründet und notwendige Begleituntersuchungen angestellt. Worauf beruht unser Nachweis der Existenz auch einer maasländischen Eneide, und warum wird er noch nicht allgemein akzeptiert? Der Nachweis beruht auf einem Studium der hochdeutschen Handschriften im Vergleich, die, das erleichterte die Arbeit, alle einem textlichen Grundstock treu bleiben. Sie führen zwar durchgängig auf schon hochdeutsche unmittelbare Vorlagen zurück, aber viele auffällige Varianten lassen sich kaum anders deuten als die auf irgendeiner Stufe erfolgte Auseinandersetzung der Überlieferung mit den Sprachformen einer maasländischen Literatursprache, wie sie uns in den genannten Servatiusfragmenten entgegentritt. So wurde von der berechtigten Arbeitshypothese ausgegangen, daß die Gesamtüberlieferung letzlich doch auf einer maasländischen Erstfassung des Romans | |
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beruht. Sie bestätigte sich bei jedem Arbeitsgang,Ga naar voetnoot(18) so bei der Untersuchung des Reiminventars, der gelegentlichen Eingriffe der Schreiber an Reimstelle mit Rücksicht auf abweichende mittel- oder oberdeutsche sprachlandschaftliche Bindungen in Bezug auf Laute, Formen oder Wortschatzeinheiten. Die Skala der Eingriffe reicht von leichten Umdeutungen der Form oder Umbiegungen der Bedeutung über tiefer greifende Umwandlungen und Änderungen der Form, sinnvolle Ersatzwörter, Aufspaltung eines Reimpaars in zwei neue oder umgekehrt Zusammenziehung zweier Reimpaare in eines, Verschieben des alten Reimwortes ins Versinnere mit anderweitiger, oft formelhafter Auffüllung der Reimstelle bis zu völliger Umdichtung, in deren Wortlaut nichts mehr nachklingt vom alten Wortlaut. Da dies alles nur gelegentlich und nicht systematisch geschieht, kann von einer durchgängigen und vorsätzlichen Verhochdeutschung oder Veroberdeutschung der Dichtung natürlich keine Rede sein, also: ein Schreiberproblem, das sich, bei der grundsätzlichen Ehrfurcht der Schreiber vor ihren Vorlagen, überdies in engen Grenzen hält, und kein Bearbeitungsproblem. Was die Reimkritik der Überlieferung zu Tage förderte, ergänzte eine kritische Sichtung der Lesarten im Versinnern. Auch hier lassen sich die Abweichungen immer wieder unter dem Aspekt der Auseinandersetzung der mittel- und oberdeutschen Schreiber mit sprachlichen Besonderheiten einer maasländischen Eneide subsummieren. Viel erstaunlicher als diese bewußten oder unbewußten Eingriffe, die von Schreibern, die in anderen sprachlandschaftlichen Traditionen aufgewachsen sind, nicht anders zu erwarten sind, ist die Tatsache, wie vieles in der Überlieferung unangetastet oder zumindest noch erkennbar blieb. Damit meine ich natürlich nicht, daß etwa wat statt waz, muder für muoter und bit für mit stehengeblieben wären. Hier erfolgen Umsetzungen, sofern der Text der Vorlage richtig verstanden wurde, automatisch, unbewußt und durchgängig, oft auch da, wo damit der Reim offen- | |
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sichtlich zerstört wird. Ist die Annahme eines Nebeneinanders bzw. Nacheinanders einer ‘maasländischen Eneide’ und einer ‘hochdeutschen Eneide’, die über besagte automatische Umsetzung hinausgeht und eine echte sprachliche Umformung beinhaltet, nach diesen Erfahrungen überhaupt noch zu diskutieren? Dazu ist ein kurzes Wort über die Einbettung der maasländischen Literatursprache in den Rahmen der übrigen Erscheinungsformen der Sprache der ‘deutschen Nationalität’ vonnöten, besonders über die Abstufungen der Literatursprache von der Maas über den Rhein, das Mittelfränkische und Rheinfränkisch-Hessische bis nach Thüringen und ins Ostfränkisch-Alemannische. Wie sah denn die hochdeutsche literatursprachliche Variante, mit der sich Veldeke auf der Neuenburg konfrontiert fand, eigentlich aus? Mit dem uns am besten bekannten sogen. ‘höfischen Mittelhochdeutsch’, der ausgesprochen oberdeutschen Variante der Dichtersprache im Umkreis staufischer Machtenfaltung, dem ‘höfischen Deutsch des Rhein-Main-Donaugebietes’, das erst ab 1190 seinen Siegeszug beginnt, hatte sie offensichtlich noch nichts zu tun. Daß sich Literaturdenkmäler, die irgendwo in dem weiten Raum von der Maas im Nordwesten über Nieder- und Mittelrhein und den ganzen westmitteldeutschen Streifen bis nach Thüringen entstanden, oft so schwer sprachlich gegeneinander abgrenzen lassen, obwohl etliche Lautverschiebungs- und andere sprachliche Scheiden das Gebiet durchziehen, hängt eben mit der Tatsache zusammen, daß man, trotz vielfältiger innerer Abstufungen regionaler und genrebedingter Art, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von einer temperierten maasländisch-westmitteldeutschen Literatursprache sprechen darf. Beim Grafen Rudolf schwankt z.B. die regionale Zuweisung noch heute unentschieden zwischen dem Thüringischen und Rheinfränkisch-Hessischen. Glückliches Zusammentreffen eines gleichgerichteten Mäzenatentums an benachbarten Höfen oder geistlichen Zentren, auch schon städtischen Zentren wie Köln oder Mainz, ließ, wie wir vermuten dürfen, eine weiträumigere Literaturprovinz der Kunstschaffenden und -genießenden entstehen, der sich auch niederdeutsche Dichter anschlossen. Daher auch das aus der Überliefrung mitunter nachweisbare Wandern oder Weitergeben von Denkmälern innerhalb dieses Kulturraums. Das Spielmannsepos vom König Rother wanderte z.B. aus dem Umkreis von Mainz in den von Köln, also aus dem Rheinfränkischen ins Mittelfränkische, umgekehrt der Alexander aus dem Moselfränkischen ins Rheinfränkisch-Hessische und der höfische Trierer Floyris aus dem Maasländischen an den Rhein. Wenn Veldekes | |
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Eneasroman Ende des 12. Jahrhunderts von der Maas in den rheinfränkisch-hessisch-thüringischen Bereich wandert, dann wandert er noch nicht vom ‘Niederländischen’ ins ‘Deutsche’ im Sinne jüngerer echter Sprachgrenzen, sondern er wandert von der nordwestlichen Peripherie einer einheitlichen Kulturlandschaft im Rahmen des ‘Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation’ zu deren südöstlicher Peripherie, von einem ihrer absinkenden Zentren zu einem ihrer im Aufstieg begriffenen Zentren, wo gerade das Genre der antikisierenden höfischen Romane um Alexander, Troja und Eneas in besondere Pflege genommen wurde. Die sprachlichen Erscheinungen einer jeden Dichtung dieser weiträumigen Literaturprovinz bestehen, wenn man sie systematisch registriert, abgesehen von dem leicht umsetzbaren äußeren lautlichen Gewand, aus einem nur jeweils kleinen Kern eng lokal gebundener Erscheinungen. Darum lassen sich in konzentrischen Kreisen Erscheinungen immer breiterer Geltung anordnen. So sind wir etwa bei den Wortschatzuntersuchungen zu Veldekes Eneasroman verfahren, wo wir z.B. unter regionalem Aspekt unter folgende Stichwörter subsummierten, nur maasländisch, allgemein mittelniederländisch, mittelniederländisch-mittelniederdeutsch, mittelniederländisch-rheinisch, mittelniederländisch-mittelniederdeutsch-mitteldeutsch, ostmiddelniederländischrheinisch, ostmittelniederländisch-rheinisch-mitteldeutsch, ostmittelniederländisch-mittelhochdeutsch, mittelhochdeutsch. Damit verbindet sich mitunter ein soziologischer und historischer Aspekt, so daß auch Stichwörter wie Restworte, Veraltendes, Absterbendes, junge Modewörter, französisches Fremdgut u. ä. eine Rolle spielen. Das dichtersprachlich Verbindende und Gemeinsame der genannten weiträumigen Literaturprovinz überwiegt also bei weitem das Individuelle und Trennende. Je ‘höfischer’ die Denkmäler, desto mehr verstärkt sich dieser überregionale Zug, die Chansons de Geste z.B. bleiben regionaler. Auch schließen sich gewisse Denkmäler gleicher Provenienz und gleichen Stoffbereiches durch verwandte Reim- und Verstechnik und vergleichbaren Formelvorrat enger zusammen, und nach dem Durchsetzen des Ideals des reines Reims steigt der dichtersprachliche Rang mit der Vermeidung und Zurückdrängung des allzu Landschaftlichen an Reimstelle. Und wenn darüber hinaus noch Vorbildwirkung eines Werkes für ein anderes anzunehmen ist, wie uns das im Falle des Straßburger Alexander rheinfränkisch-hessischen Wurzelbodens für Veldekes Eneasroman sicher scheint, braucht es uns nicht zu verwundern, daß Veldekes nach Form und Inhalt hochmoderner Ritterroman maasländischer Provenienz ohne weiteres auch an einem hessisch-thüringischen Hof seiner | |
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Wirkung gewiß sein konnte. Bei einer Dichtersprache, die in den Grundzügen so viel Gemeinsames hatte und dieses an Reimstelle auch besonders pflegte, war die Frage des Verständnisses von Dichtwerken von der anderen Peripherie der Literaturprovinz jenseits der Lautverschiebungsgrenze gewiß nur eine Frage der Lautgebung beim mündlichen Vortrag. Die maasländische Eneide konnte also auf Grund der vielen Gemeinsamkeiten der Dichtersprache, einschließlich der Reimund Verstechnik, ohne Schwierigkeiten auch in westmitteldeutscher Färbung vorgetragen werden. Und diese Vortragsvarianten waren, so meinen wir, die Grundlage des westmitteldeutschen Überlieferungsstranges des Eneasromans, deren beste Vertreter vermutlich weniger die Gothaer Handschrift thüringischer Provenienz als die leider verlorene Eibacher HandschriftGa naar voetnoot(19) und die allzu kurzen Waldecker BruchstückeGa naar voetnoot(20) darstellen, beide westmitteldeutscher, und zwar vermutlich rheinfränkisch-hessischer bzw. hessisch-thüringischer Herkunft. Es gab also, so möchte ich meine Ausführungen zu diesem Streitpunkt der Veldekeforschung abschließen, seit etwa 1170 unter der Führung vor allem laikaler ritterlich-höfischer Kreise in Ansätzen eine frühe maasländischwestmitteldeutsche Variante der Dichtersprache der ‘deutschen Nationalität’im mittelrheinischen Bereich alter Reichsherrlichkeit und neu stabilisierter Zentralgewalt. Sie ist in jeder Beziehung das erst bescheidene Vorspiel zu der sie zeitlich wie räumlich ablösenden ausgesprochen oberdeutschen Variante der Dichtersprache im Umkreis staufischer Machtentfaltung, dem ‘höfischen Deutsch des Rhein-Main-Donaugebietes’, dem ‘höfischen Mittelhochdeutsch’, das um 1200 und Anfang des 13. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht in tonangebenden Dichtern wie Hartmann von Aue, Gotfrit von Straßburg, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide. Mit seiner erheblich einheitlicheren Stilprägung, seiner ausgewogeneren und vollendeteren Reimpraxis und seinem besonderen höfischen Wortschatz läßt es das nordwestliche Vorbild, das rasch veraltet, in Durchschagskraft, Breiten- | |
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und Tiefenwirkung bald weit hinter sich, aber das berechtigt noch lange nicht, diese bedeutungsvollen Ansätze abzuwerten. Dem glänzenden Aufstieg des ‘Mittelhochdeutschen’ vergleichbar ist dann der einer ‘mittelniederländischen Literatursprache’, was ich aber hier nicht verfolgen will. Diese Entwicklungslinie zu skizzieren muß ich Berufeneren überlassen. Zum Abschluß nur noch ein kurzes Wort zu einem weiteren Streitpunkt der Forschung, der den literarischen Rang des Eneasromans betrifft, nämlich ob dieser geistlich oder profan konzipiert und zu deuten sei. Dieser Streitpunkt ist verwandt mit dem, ob Veldeke Geistlicher, Spielmann oder Ritter gewesen sei. Auch diese Antinomie kann bei tieferer Einsicht in die Struktur des Ritterstandes auf höherer Ebene aufgelöst werden, insofern, als bei Veldeke geistliche Ausbildung und Hofdienst zusammengingen, sofern man ihn als klerikal gebildeten Hofmann erkennt, als einen Typ, mit dem Frankreich und England schon vorangegangen sind, und der dem höfischen Kleriker zu dieser Zeit mehr und mehr an die Seite tritt.Ga naar voetnoot(21) Veldekes Lieder, an deren profanhöfischer Konzeption, was den Inhalt betrifft, noch niemand gezweifelt hat, enthalten z.B. den gewiß in lateinischer geistlicher Tradition stehenden Leitterminus rechte minne,Ga naar voetnoot(22) und scheinen in bezug auf die musikalische Gestaltung, wenn man den Musikhistorikern folgen darf, vor allem klerikaler Kunstmusik verpflichtet. Die Legende ist vom Stoff her natürlich geistlich geprägt, verlangt aber durchaus keinen Kleriker als Dichter, wie vergleichbare Fälle aus der Literaturgeschichte genugsam beweisen. Bleibt der Eneasroman und sein literarischer Ort in der mittelalterlichen Rezeption der Antike, besonders Vergils, die eine breite Palette verschiedenster Möglichkeiten anbietet. Allerdings ist Veldekes unmittelbare Quelle nachweislich der anglonormannische | |
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Roman d'Eneas. Virgils Aeneis kommt höchstens als Zweitquelle in Frage. Es genügte sogar, Reminiszenzen aus der Schullektüre, aus Florilegien anzunehmen. Gerade die gelegentlichen Namensnennungen des römischen Dichters sind wenig dazu angetan, wesentliche Aufschlüsse über Veldekes Verhältnis zu ihm zu vermitteln. In der neuesten Sekundärliteratur gibt es drei umfänglichere Versuche, zu wesentlichen Aussagen über den literarischen Rang von Veldekes Eneasroman zu kommen. Ich meine erstens das Buch der Schwietering-Schülerin Marie-Luise Dittrich, Die ‘Eneide’ Heinrichs von Veldeke. Ein quellenkritischer Vergleich mit Roman d'Eneas und Virgils Aeneis, von dem 1966 der 1. Band erschien; zweitens das außer der Eneide noch andere höfische Romane einbeziehende Werk des Fourquet-Schülers Michel Huby, L'adaptation des Romans courtois en Allemagne au XIIe et au XIIIe siècle, von 1968 und drittens schließlich die Marburger Dissertation des Schmitt-Schülers Wolfgang Brandt, Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der ‘Eneide’. Ein Vergleich mit Vergils Aeneis, von 1969. Drei verschiedene Traditionsketten als Ausgangspunkt, an die auf unterschiedlichen methodischen Wegen weitere Glieder gefügt werden. Deren Bilanz sind drei ebenso verschiedene Endergebnisse, zwei davon, die von Dittrich und Huby sogar extrem entgegengesetzt. Dittrich unterstellt Veldeke typologisches Denken.Ga naar voetnoot(23) Vergils mythisch-religiöse national-römische Idee und Konzeption habe der Dichter aus anderer ideologischer Grundhaltung heraus bewußt überwunden und dafür eine eigene heilsgeschichtlich-christliche Konzeption des Stoffes entwickelt. Werner Schröder spricht mit Recht von einem ‘Modellfall für den Irrweg überanstrengter typologischer Deutung’. Selbstverständliche christliche Grundhaltung des christlichen, klerikal gebildeten Hofmannes, die sich das ganze Werk hindurch, in vordringlicher Weise aber nur in dem abschließenden schlichten weltheilsgeschichtlichen Rahmen manifestiert, ist etwas anderes als bewußte ideologische Umformung. Umgekehrt sieht Huby Veldekes Leistung allein in der vorbildlichen adaptation courtoise, der ‘höfischen Aneignung’, ‘höfischen Einschmelzung’, die der Dichter bei seinem anglonormannischen Vorbild gelernt habe, die er in die eigene Dichtersprache umsetzt und | |
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mit großer Fähigkeit nachgestaltet und weiter entfaltet. Diese Kunst der adaptation courtoise, die die Zeit als modern und nachahmenswert empfand, begründete Veldekes Ruhm bei den mittelhochdeutschen Klassikern. Daran ist vieles richtig, denn der entscheidende Einbruch des neuen höfischen Beschreibungsstils in den Bereich der deutschen Literatur erfolgt in der Tat mit Veldeke.Ga naar voetnoot(24) Aber es ist nicht alles. Veldekes Leistung einseitig hierauf reduzieren zu wollen, hieße Wichtiges übersehen, es sei denn, daß man adaptation courtoise weiter faßte, ihr im Sinne einer Einheit von Form und Inhalt auch eine eigene inhaltliche Komponente zuschriebe. Dazu hat Brandt einiges beigesteuert, was zum Teil wieder auf Brinkmann zurücklenkt. Aber auch bei Brandt kommt nicht alles zur Sprache, zumal nicht das, was über die Anliegen des Roman d'Eneas hinausführt. Gotfrid van Straßburg beginnt sein Lob von Veldekes adaptation courtoise zunächst mit dem Hinweis auf deren inhaltliche Seite: von Veldeken Heinrich / der sprach uz vollen sinnen; / wie wol sanger von minnen!Ga naar voetnoot(25) Ja, mit dem Zugriff auf einen weltlichen Stoff mit der modernen Minnethematik stellt sich der Dichter, ganz im Gegensatz zu Dittrichs Meinung, auf die Seite derer, die eine gewisse höfische Emanzipation einleiten. Grundanliegen Veldekes ist, wie das Brinkmann seinerzeit schon herausgearbeitet hat,Ga naar voetnoot(26) der Mensch gerade in seiner irdischen Existenz, die von Liebe, Kampf und Herrschaft abgesteckt wird, wobei die göttliche Lenkung nur noch den selbstverständlichen Hintergrund abgibt. Mit Brandt fügen wir hinzu, nicht der Mensch allgemein, sondern der Mensch in seiner gesellschaftlich-klassenmäßigen und aussschnitthaften Reduktion auf den ‘höfischen Menschen’. Es ist das neue Menschenbild eines Teils der damaligen Literaturgesellschaft im ‘Heiligen Römischen Reich deutscher Nation’ in ihrer Einengung auf die ritterliche Gesellschaft der Höfe. Dies mag auch der Grund sein, daß Veldeke dem gerade erreichten Stand in der Entwicklung der ‘deutschen Nationalität’, dem vorübergehenden Erstarken der Zentralgewalt, seinen besonderen Tribut zollt. Während z.B. der der gleichen Literaturprovinz angehörende Floyris orientalischer Provenienz trotz des modernen Minnethemas noch in die fränkische Karlsgenealogie einmündet, ähnlich etwa dem früh- | |
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höfischen deutschen ‘König Rother’ und den niederrheinischen Chansons de Geste im Bannkreis der französischen Kronabtei St. Denis, hat der Eneasroman antiker Provenienz frühhöfische Verklammerungen dieser Art aufgegeben. Denn der weltheilsgeschichtliche Rahmen der Eneide, das Einmünden in das römische Friedensreich des Augustus darf nicht als eine solche mißdeutet werden. Vielmehr hat er, wie die Stauferpartien unterstreichen können, Gegenwartsbezug.Ga naar voetnoot(27) Er ist gewiß nur als Sinnbild gedacht für die glanzvolle Stauferherrschaft Friedrich Barbarossas, die ideologisch als Erfüllung einer in der Antike einsetzenden römisch-deutschen Kontinuität gesehen wird. Was Veldeke, über den aus anderen Gegebenheiten erwachsenen anglonormannischen Roman d'Eneas hinaus und unabhängig von Vorbildern aller Art, in einmaliger gesellschaftspolitischer Situation in den Blickpunkt seines höfischen Romans gerückt hat, ist die feudalhöfische Zentralgewalt, das Kaisertum, als Sammelpunkt reichsritterlicher Ambitionen, für das die antike Eneasgeschichte einen willkommenen geschichtlichen Hintergrund liefern konnte. Hier ist nun die Frage durchaus berechtigt, ob diese Sinngebung erst mit dem Abschluß des Werkes am Thüringer Hof erfolgte, vielleicht auf Wunsch seines Mäzens, eines zeitweiligen Parteigängers Friedrichs Barbarossa. Für die jüngeren Dichter der süddeutschen Klassik war diese Zentralgewalt schon keine gesellschaftliche Wirklichkeit mehr, in den Konzeptionen ihrer Romane spiegeln sich gewandelte gesellschaftliche und politische Bedingungen. Und für die flämisch-brabantische Hochblüte mittelniederländischer Dichtung, die aus eigenen Quellen regionaler gesellschaftlicher Entwicklung schöpfte, kam ein Programm wie das Veldekes natürlich überhaupt nicht in Frage. Aber Veldeke sollte man deshalb seinen ganz besonderen Platz in der literarischen Entwicklung nicht streitig machen. Ich habe im Laufe meiner Ausführungen nur wenige Streitpunkte der Veldekeforschung herausgegriffen, meine aber, daß sie beispielhaft auch für die vielen andren stehen können. Verbreiterung unseres Wissens um die tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten der damaligen Gesellschaft in ihrer bildungstragenden Schicht wird in Zukunft gewiß noch mehr extreme wissenschaftliche Standpunkte einander annähern können. |
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