Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde. Jaargang 111
(1995)– [tijdschrift] Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde– Auteursrechtelijk beschermd
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Walter Haug
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Prolog. (1-32) | |||
1. | Am Artushof: Ein wunderbares Schachbrett schwebt herein und verschwindet wieder. Walewein bricht zur Suche auf. (33-241) | ||
1a. | Walewein folgt dem Schachbrett in eine Berghöhle hinein. Er kämpft siegreich mit mehreren Drachen. Auf seinem Pferd Gringolet gelingt ihm dann der rettend-waghalsige Sprung aus dem Berg in einen Fluß. (243-768) | ||
2. | Walewein bei König Wonder, dem Besitzer des Schachbretts. Der König ist bereit, es herzugeben, wenn Walewein ihm das Zauberschwert mit den zwei Ringen von König Amoraen holt. (769-1350) |
2a. | Walewein schenkt einem ausgeraubten Knappen sein Pferd. Der zieht zum Artushof, läßt sich zum Ritter schlagen, kämpft mit dem Mörder seines Bruders - unterstützt von Walewein, der inzwischen den Räuber getötet hat. Walewein bekommt Gringolet zurück. (1351-2854) | ||
3. | Walewein auf Ravenstene bei König Amoraen, dem Besitzer des Zauberschwerts. Der will es ihm überlassen, wenn er ihm Ysabele aus dem Schloß ihres Vaters, des Königs Assentijn, holt. Er gibt ihm das Schwert mit. (2855-3648) | ||
3a. | Walewein begegnet einem Ritter, der ein Mädchen schlägt; er tötet ihn und seine Helfer. Er nimmt dem sterbenden Ritter die Laienbeichte ab und verschafft ihm ein christliches Begräbnis. Die übrigen werden von Teufeln geplagt, die Walewein vertreibt. (3649-4915) | ||
4. | Walewein kommt zu einem Höllenfluß mit Schwertbrücke; das Wasser verbrennt alles, was es berührt. Er versucht vergeblich, zum Schloß des Königs Assentijn hinüberzukommen. Er schläft in einem Kirchhof ein. Der Fuchs Roges, ein verwandelter Prinz, führt ihn durch einen Tunnel unter dem Fluß durch.
Walewein kämpft mit Torwächtern, dann mit Assentijn, unterliegt, wird eingekerkert, von der verliebten Ysabele aber herausgeholt. Die Liebenden werden überrascht, gefangen gesetzt, aber vom toten Ritter der Episode 3a befreit. Flucht. Der Fuchs begleitet das Paar. (4916-8530) |
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4a. | Walewein tötet einen Ritter, der Ysabele von ihm fordert. Walewein und Ysabele nehmen Quartier bei einem Herzog. Da wird der Getötete, der dessen Sohn ist, hereingetragen. Walewein wird als Mörder erkannt und eingekerkert, kann aber mit Ysabele fliehen. (8531-9468) | ||
5. | Rückkehr nach Ravenstene. Amoraen (der nun Amorijs genannt wird) ist inzwischen gestorben. (9469-9611) | ||
6. | Walewein schläft bei einem Brunnen ein. Ein schwarzer Ritter raubt Ysabele. Der Fuchs weckt den Helden. Er folgt |
dem Räuber, verwundet ihn schwer: es ist Estor, der Bruder Lancelots. (9612-10205) | |||
6a. | Walewein, Ysabele und Roges übernachten im Schloß des ehemaligen Knappen von Episode 2a. Angriff des Herzogs von Episode 4a. Walewein besiegt ihn. (10206-10871) | ||
7. | Rückkehr zu König Wonder. Der Fuchs wird entzaubert. Walewein tauscht das Schwert gegen das Schachbrett. (10872-11045) | ||
8. | Rückkehr Waleweins an den Artushof mit Ysabele, Schachbrett und Roges. Die Geschichte endet mit einem großen Fest, an dem auch Assentijn und der Vater von Roges teilnehmen. (11046-11172) | ||
Epilog und Nachschrift. (11173-11202) |
Der Hauptstrang der Handlung ist, wie das Schema zeigt, dreistufig angelegt. Der Ausgangspunkt ist traditionsgemäß der Artushof. Es geht um eine Aventürenfahrt, deren Ziel ein wunderbares Schachbrett ist. Aber um es zu bekommen, muß Walewein für dessen Besitzer, Wonder, ein bestimmtes Zauberschwert von Amoraen beschaffen. Dieses wiederum erhält er nur, wenn er für Amoraen Ysabele gewinnt. Als der Held diese letzte Aufgabe gelöst hat, geht er den dreistufigen Weg in umgekehrter Stationenfolge zurück, also von Assentijn zum Schloß von Amoraen/Amorijs, von dort zu König Wonder, um schließlich wieder den Ausgangspunkt, den Artushof, zu erreichen. Auf diesem Rückweg läuft jedoch das Tauschgeschäft nicht völlig planmäßig ab, denn Walewein und Ysabele haben sich ineinander verliebt, so daß er sie nicht gegen das Zauberschwert eintauschen kann und will. Der Dichter hilft sich über diese Schwierigkeit hinweg, indem er Amoraen/Amorijs sterben läßt. Hingegen wird das Zauberschwert, wie verabredet, König Wonder übergeben, so daß Walewein mit dem Schachbrett - und natürlich mit Ysabele - an den Artushof zurückkehren kann.
In diese klar durchstrukturierte Haupthandlung sind Episoden eingeschoben, die nur bedingt in jene integriert sind: Auf Station 1 folgt eine Aventüre in einem Berg, in der Walewein vier junge Drachen in einem Nest tötet und dann mit der Drachenmutter einen fürchterlichen Kampf durchfechten muß (1a); zwischen den Stationen 2 und 3 steht eine Hilfsaktion des Helden für einen Knappen, den ein böser Zöllner ausgeraubt hat (2a); zwischen den Stationen 3 und 4 wird von der Rettung eines Mädchens erzählt: der Ritter, der es mißhandelt, wird von Walewein tödlich verwundet, aber er stirbt versöhnt mit Gott (3a) und fungiert dann in der Episode 4 der Haupthandlung als Dankbarer Toter; zwischen den Stationen 4 und 5 tötet Walewein, gegen seinen Willen, einen Ritter, der ihm Ysabele abfordern will, und er gerät dann auf der Burg von dessen Vater in große Gefahr, denn er wird als Mörder
festgesetzt; es gelingt ihm aber, die Fesseln zu zerreißen und mit Ysabele zu fliehen. Bis zu diesem Punkt ist nach jeder Station der Haupthandlung eine mehr oder weniger selbständige Episode eingeschoben. Dieses Strukturkonzept wird jedoch im folgenden nicht mehr strikt eingehalten, denn zwischen den Stationen 5 (Amoraen/Amorijs) und 7 (König Wonder) gibt es zwei Episoden, 6 und 6a, während zwischen den Stationen 7 (König Wonder) und 8 (Artushof) eine Zwischenepisode fehlt. Das ist angesichts des im übrigen so konsequenten Wechsels zwischen Hauptstationen und Nebenepisoden irritierend, und so hat man denn überlegt, ob hier der Bauplan nicht durcheinandergeraten sein könnte, und vorgeschlagen, Station 6 als Zwischenepisode zwischen Amoraen/Amorijs und König Wonder aufzufassen, sie also im Schema als 6a in die rechte Spalte zu rücken und 6a ‘alt’ als 7a zwischen Wonder und Artushof einzuschieben. Dabei könnte man mutmaßen, daß, da der ursprüngliche Autor, Penninc, in der Mitte der Episode 4a von einem Fortsetzer, Pieter Vostaert, abgelöst wird,Ga naar eindnoot2 dieser möglicherweise den Plan seines Vorgängers nicht genau begriffen hat.Ga naar eindnoot3 Aber man gerät bei solchen Spekulationen in gewisse Schwierigkeiten, denn, wie gleich zu zeigen sein wird, scheint die Station 6 doch zum Hauptstrang der Erzählung zu gehören.
Der Bauplan des Walewein, die gestufte Dreierfolge von Aventüren mit inserierten Nebenepisoden, ist singulär im Rahmen der arthurischen Romantradition. Es läßt sich denn auch zeigen, daß die Haupthandlung ihrer Form nach aus einer andern Gattung entlehnt ist; sie folgt nämlich dem Schema des Märchens vom Goldenen Vogel - bei den Brüdern Grimm Nr. 57, Typus 550 nach Aarne/Thompson.Ga naar eindnoot4 Das hat schon W.P. Ker gesehen,Ga naar eindnoot5 und Bolte/Polívka haben es ebenfalls notiert.Ga naar eindnoot6 Maartje Draak hat dann genau und überzeugend eine vergleichende Analyse durchgeführt.Ga naar eindnoot7
In dem in Frage stehenden Märchen wird folgendes erzählt: Ein Vater hat drei Söhne: sie werden von ihm ausgeschickt, einen goldenen Vogel zu finden, der in seinem Garten Äpfel stiehlt. Die älteren beiden bleiben unterwegs in einem Wirtshaus hängen, weil sie den Rat eines Fuchses nicht beachteten. Der jüngste Sohn ist klüger, er gewinnt den Fuchs als Helfer. Der Fuchs sagt ihm, wo er den goldenen Vogel finden und wie er ihn gewinnen kann: Er befindet sich in einem Schloß in einem schäbigen Käfig. Er kann ihn sich holen, wenn alles schläft. Er darf den Vogel aber nicht in einen dabeistehenden goldenen Käfig setzen. Der Held mißachtet den Rat, setzt den Vogel in den Goldkäfig; da schreit der Vogel, und alles wacht auf. Der Held wird gefangengesetzt und kann sein Leben nur dadurch retten, daß er verspricht, ein bestimmtes goldenes Pferd zu holen. Wieder hilft der Fuchs; er weist den Weg und erklärt, daß er dem Pferd nicht einen goldenen, sondern einen armseligen Sattel auflegen müsse. Und wieder gehorcht der Held nicht, er legt dem Pferd den goldenen Sattel auf. Da beginnt es zu wiehern, alles erwacht, und der Held kann sich nur dadurch retten, dab er verspricht, die Königstochter vom goldenen Schloß herbeizuschaffen. Sie wird ihm, so sagt der Fuchs, folgen, er darf aber nicht zulassen, daß sie sich von ihren Eltern verabschiedet. Wiederum mißachtet er den Rat. Er wird gefangen und kann nur freikommen, wenn er einen Berg vor dem Fenster des Schlosses abträgt. Der Fuchs erledigt die Aufgabe. Nun geht es über dieselben Stationen zurück. Der Held liefert die Prinzessin aber nicht aus, sondern flieht mit ihr auf dem goldenen Pferd und holt sich, ohne das Pferd abzugeben, dann den goldenen Vogel. Nochmals entsteht eine Gefahr, denn gegen den Rat des Fuchses hilft
er seinen Brüdern, die hingerichtet werden sollen, und gegen den Rat des Fuchses setzt er sich auf einen Brunnenrand, so daß die Brüder Gelegenheit haben, ihn in die Tiefe zu stürzen. Der Fuchs rettet ihn ein letztes Mal. Verkleidet kehrt der Held heim und enthüllt den Betrug der Brüder. Dann entzaubert er den Fuchs, der sich als der Bruder der Jungfrau vom goldenen Schloß erweist.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß der Walewein sein Handlungsschema von diesem Märchen bezogen hat. Es gibt zwar in der Tradition des arthurischen Romans gestufte Aventürenfolgen, und das Motiv, daß eine Aufgabe nur gelöst werden kann, wenn man zuvor eine andere erledigt hat, und zwar in mehrfacher Wiederholung, auch dies könnte wohl unabhängig vom Märchen ad hoc erfunden worden sein, aber die Figur des verzauberten Fuchses ist so spezifisch und nimmt sich im übrigen in einem arthurischen Roman dermaßen fremdartig aus, daß sie als eindeutiges Indiz für die Abhängigkeit vom Märchen gelten darf.
Geht man von dieser Voraussetzung aus, läßt sich im Prinzip einsichtig machen, was bei der Umwandlung des Märchens in den Artusroman geschehen ist. Denn es mußten ganz bestimmte Probleme bewältigt werden; und ihre Lösung hat denn auch in der Handlung so deutliche Spuren hinterlassen, daß der Umformungsprozeß in einem hohen Maße rekonstruiert werden kann:
1. Penninc wollte einen Gawein-Roman schreiben.Ga naar eindnoot8 Das bedeutet eine Vorentscheidung in Hinblick auf den literarischen Typus. Denn in der arthurischen Tradition verkörpert Gawein das ideale höfische Rittertum. Damit schloß sich eine Handlung nach dem klassischen Chrétienschen Schema mit einer Krise des Helden aus. Penninc folgte also um die Mitte des 13. JahrhundertsGa naar eindnoot9 der charakteristischen nachklassischen Form, wie sie in der mittelhochdeutschen Literatur etwa durch Wirnts Wigalois oder Heinrichs von dem Türlin Crone vertreten wird:Ga naar eindnoot10 der nachklassische Held geht unangefochten durch eine Aventürenserie hindurch. Wenn es zu einer Gliederung in zwei oder mehr Kursus kommt, dann signalisiert dies nicht den Durchgang des Helden durch einen gestuften Prozeß, der von ihm nach einem prekären Bruch - das ‘verligen’ Erecs, das Terminversäumnis Yvains, das Versagen Percevals/Parzivals auf der Gralsburg - eine Umorientierung verlangen würde, sondern der mehrstufige Weg dient in erster Linie der narrativen Steigerung, er hat eine eher formale als eine thematische Funktion.Ga naar eindnoot11
Da sich also eine Krise im Walewein ausschloß, sah sich Penninc gezwungen, das Versagen des Märchenhelden fallen zu lassen. Dies hatte zur Folge, daß die Episoden bei König Wonder und bei Amoraen ereignisarm wurden. Was blieb, war eine jeweils weitgehend undramatische Tauschvereinbarung.
Es ist charakteristisch für den späteren Artusroman, daß, da die Krise und damit die innere Spannung fehlt, die äußeren Kontraste gesteigert werden: der makellose Held tritt in eine immer wieder bis ins Dämonische verzerrte Gegenwelt ein, seine Antagonisten sind geradezu Teufelswesen - man denke an den Teufelsbündler Roaz im Wigalois - oder grotesk-gefährliche Figuren - so im Daniel vom Blühenden Tal. Auch eine Steigerung ins Faszinierend-Wunderbare ist möglich - es sei an den Saeldepalast in der Crone erinnert. Um mit dieser ins Höllische oder Zauberische überzogenen Gegenwelt fertig zu werden, bedarf der Held dann seinerseits übernatürlicher, oft göttlicher Hilfe.
Der Walewein steht in diesem Trend. So wird denn vor der Burg Assentijns eine Höllenszenerie aufgebaut - die Motive stammen aus der Visionsliteratur -, während man in den Burgen von Amoraen und Assentijn mit Wunderelementen nicht spart: es gibt da mechanische Kunstwerke, Engel und Vögel, die aufgrund von Luftströmen aus Röhrensystemen Töne von sich geben können (vv. 877ff., 3526ff.); hier wirkte die Tradition orientalischer Automaten ein, wie sie seit dem Byzanzbericht Liudprands von Cremona im Westen gängig war.Ga naar eindnoot12 Aber das genügte Penninc und, an ihn anschließend, Vostaert nicht; die Armut an Dramatik veranlaßte vielmehr den Einschub von Zwischenepisoden, wobei man aus dem Aventürenfundus der Artusromane schöpfte. Es läßt sich ziemlich genau sagen, wo die einzelnen Motive hergeholt worden sind: aus Gerbert, aus dem Prosalancelot usw. Es handelt sich geradezu um eine Musterkollektion arthurischer Aventüren: Drachenkampf, Hingabe des eigenen Pferdes an einen, der in Not ist, Rettung eines malträtierten Mädchens usw.Ga naar eindnoot13
Zusammengefaßt: Der Typus des krisenlosen Helden läßt das Motiv des Versagens, das für das Märchen vom Goldenen Vogel bestimmend ist, nicht zu. Die Erzählung verliert ihre Dramatik, und so steigert man - dem nachklassischen Verfahren gemäß - die Gegenwelt ins Dämonische oder Zauberisch-Fantastische, und man inseriert Zwischenepisoden, ritterliche Paradestücke, die man sich aus der arthurischen Literatur holt.
2. Der Fuchs des Märchens war ein ebenso überlegener wie nachsichtiger Helfer. Als solcher war er nur bedingt mit der Idealität des höfischen Romanhelden verträglich. Die Walewein-Autoren haben deshalb die Position und Funktion des Fuchses stark zurückgenommen. Dies ergab sich schon allein dadurch, daß das Versagen des Helden ausfiel und eine Hilfe von außen an diesen Stellen nicht mehr erforderlich war.
Im übrigen wird der Fuchs zunächst einmal negativ gezeichnet. Er versucht namlich, Waleweins Waffen zu stehlen, und der Held muß ihn erst verprügeln, bevor er zum Helfer wird. So verliert er seine Märchenrolle als überlegener Lenker und Retter, er wird zu einem kleinen Helfer mit stark eingeschränkten Funktionen: er darf den Weg durch den Tunnel weisen und den schlafenden Walewein am Brunnen wecken.
3. Der Märchenheld betrügt auf dem Rückweg bedenkenlos. Er liefert entgegen den Vereinbarungen das, was er jeweils gewonnen hat, nicht in einer Tauschaktion ab, sondern er behält es für sich. Das war mit der Idealität eines arthurischen Ritters nicht vereinbar. So wird zu der Verlegenheitslösung gegriffen, Amoraen/Amorijs rechtzeitig sterben zu lassen, so daß Walewein Ysabele konfliktlos behalten kann. Das Zauberschwert hingegen wird bei König Wonder korrekt gegen das Schachbrett getauscht.
4. Die betrügerischen Brüder des Märchens waren in einem Artusroman nicht unterzubringen. So kommt es zu der Umgestaltung des Betrugsmotivs in Station 6. Das Motiv des Brunnens und der Verlust der Prinzessin weisen noch auf die Märchenvorlage, aber an die Stelle der Brüder ist ein räuberischer Schwarzer Ritter getreten, der dann verfolgt und besiegt wird. Die Märchenszene ist also aventürenhaft umgeformt, so daß sie ihrem Charakter nach eigentlich in die rechte Spalte der inserierten Episoden gehören würde, ihrer Herkunft nach aber ist sie dem Hauptstrang
zuzuordnen. Ich tue dies jedoch nur zögernd, denn das zeitgenössische Publikum dürfte schwerlich in der Lage gewesen sein, den Bezug zur Vorlage zu durchschauen. Ja, es wird die Auseinandersetzung mit dem Frauenräuber um so eher den Zwischenepisoden zugeordnet haben, als es sich bei dem Schwarzen Ritter um eine Figur aus dem Lancelot, also aus der arthurischen Tradition, handelt, von der die Zwischenepisoden zehren.
5. Nur in einer Situation des Hauptstrangs, in der Kulminationsszene von Station 4, ist etwas von der alten Dramatik erhalten geblieben: Die Liebenden lassen sich überraschen, und Walewein unterliegt dann im Kampf; dies jedoch nur, weil die Übermacht der Gegner allzu groß ist. Die Rettung erfolgt aber nicht durch den Fuchs, sondern durch den Dankbaren Toten aus der Zusatzepisode 3a. Aber dieser Wendepunkt in der 4. Station mit dem ‘Versagen’ des Helden und der Rettung durch einen Dritten ist völlig zu einer Liebes- und Kampfaventüre umgestaltet, nur der Dankbare Tote nimmt sich in diesem Zusammenhang etwas fremdartig aus; er ist aber wohl dem nachklassischen Hang zum Übernatürlichen zuzuschlagen.
Wenn man sich die Entstehung des Walewein auf diese Weise als Umformung eines Märchenschemas denken darf, muß der strukturelle Entwurf, der durch diese Anlehnung zustande kommt, besondere Aufmerksamkeit verdienen. Bekanntlich hat sich der nachklassische Artusroman mit der Preisgabe der Krise auch vom Schema des doppelten Kursus gelöst. An seine Stelle konnten beliebig viele Aventürensequenzen treten, die nur noch additiv gereiht erscheinen - man denke insbesondere an die Crone. Die Perceval-Fortsetzungen und insbesondere der Prosalancelot führen die bloße Addition dann zu Verschränkungen weiter und gelangen so zu hochkomplizierten Aventürengeflechten. Die Walewein-Autoren bieten demgegenüber - und das ist das Originelle - einen komplexen Aufbau über eine gestufte Handlungsfolge, wobei das einfache Schema mit Elementen des nachklassischen Romans angereichert wird; man steigert, wie gesagt, die Dramatik durch Zauber und Dämonie und belebt das einfache Dreierschema durch inserierte Einzelaventüren, die unter sich zusammenhängen, aber auch - gerade im Höhepunkt - in die Haupthandlung einwirken können. Die Technik der Verzahnung wird hier also mit einer kausalen Verkettung verbunden. Das ist ein reizvolles Experiment mit einer kombinatorischen narrativen Technik. Es blieb dies jedoch - auf der Basis eines Märchenschemas - ein einmaliger Entwurf; er vermochte nicht typusbildend zu wirken.
Der Walewein darf als ein solches eigentümliches strukturelles Experiment gewiß literarhistorisches Interesse beanspruchen, aber er verdankt seinen Reiz nicht nur der narrativ-formalen Komposition, vielmehr stellt er auch in thematischer Hinsicht einen kühnen Vorstoß dar, und hier liegt seine besondere Bedeutung, die freilich bisher, soweit ich sehe, noch nicht in den Blick getreten ist. Dies wohl deshalb, weil man allzu sehr damit beschäftigt war, die Frage der Eigenständigkeit oder Abhängigkeit zu diskutieren.
Es gibt im Walewein zwei Szenen, die quer zu seinem strukturellen Konzept stehen. Beide besitzen einen intertextuellen Bezug, und er geht in beiden Fällen in dieselbe Richtung.
Die erste Szene: die Entdeckung der Liebenden in Station 4 (vv. 7965ff.). Diese Szene ist von Handlungsverlauf her entbehrlich. Denn die Wende erfolgt durch das weit verbreitete Motiv von der verliebten Tochter des Mannes, bei dem der Held
gefangen liegt. Normalerweise befreit das Mädchen den Helden aus dem Kerker, und das Paar flieht. So hätte man die Situation auch im Walewein bewältigen können, denn es gibt von Ysabeles Zimmer aus einen geheimen unterirdischen Gang nach draußen. Aber statt ihn zu benützen, sinken sich die Liebenden an Ort und Stelle in die Arme und vergessen alle Gefahr. So kommt denn der böse Aufpasser zum Zuge, der durch ein Loch in das Gemach hineinschaut und darauf dem König meldet, was sich da tut. Der erscheint mit einer bewaffneten Schar. Ysabele drängt nun Walewein, zu fliehen und sich zu retten. Doch er weigert sich, sie im Stich zu lassen; er nimmt den Kampf gegen die Leute des Königs auf, wird aber überwältigt. Die Liebenden werden daraufhin getrennt und gefesselt eingekerkert. In dieser Situation ist übernatürliche Hilfe nötig: der Dankbare Tote rettet die beiden.
Diese Szene ist kaum verkennbar eine Replik auf die Abschieds-Episode im Tristan (Ed. F. Ranke, vv. 18126ff.): Isold hat in einem Baumgarten ein Bett herrichten und dann Tristan rufen lassen. Als er da ist, schickt sie die Kämmerer weg, befiehlt, alle Türen zu verschließen und legt sich mit ihm hin. Einer der Kämmerer aber läßt, als er hinausgeht, den König, der nach seiner Frau sucht, herein, und so sieht dieser die Liebenden eng umschlungen daliegen. Er geht, um seine Leute zu holen. Tristan aber hat den König bemerkt, er fürchtet um sein Leben und flieht. Wie Tristan und Isold von Marke, so werden Walewein und Ysabele von Assentijn überrascht, und hier wie dort führt der König seine Gefolgsleute herbei. Der neidische Späher, der die Liebenden im Walewein verrät, erinnert an die Intriganten im Tristan in früheren Episoden, insbesondere an Marjodo. Anders jedoch als Tristan denkt Walewein - obgleich Ysabele ihn dazu auffordert - nicht daran, zu fliehen und die Geliebte einem ungewissen Schicksal zu überlassen.
Die Walewein-Szene dürfte programmatisch gegen die entsprechende Episode im Tristan gesetzt sein. Sie ist, wie gesagt, handlungslogisch nicht sonderlich überzeugend in den Zusammenhang eingebaut. Ihr Sinn dürfte somit in erster Linie darin liegen, die Abschiedsszene des Tristan kritisch zu evozieren, und das heißt implizit: Die Liebe Waleweins ist vollkommener als diejenige Tristans; Walewein läßt die Geliebte nicht im Stich, er ist vielmehr bereit, mit ihr zu sterben.
Die zweite Szene: Walewein sollte Ysabele an König Amoraen/ Amorijs ausliefern. Nur so könnte er das Zauberschwert behalten, das er braucht, um es gegen das Schachbrett einzutauschen. Aber Walewein ist entschlossen, die Geliebte nicht für das Schwert preiszugeben, sondern er will auf den Handel verzichten, also Amoraen/Amorijs das Schwert zurückgeben und Ysabele behalten.
Auch das erinnert kontrastiv an Tristan, der ebenfalls auszieht, um für einen Dritten, seinen Onkel Marke, eine ferne Prinzessin zu gewinnen. Und wie Tristan so verliebt sich auch Walewein in die Frau, die er im Auftrag eines andern ins Land holen soll. Doch während Tristan trotzdem das Werbungsunternehmen ordnungsgemäß zuende führt und Isold dem König ausliefert, will Walewein die Geliebte nicht preisgeben. Das ist kaum verhüllte Tristan-Kritik.
Dabei muß man sich klar machen, was diese Entscheidung Waleweins bedeutet: das ganze Unternehmen, zu dem er ausgezogen ist, wird dadurch zunichte gemacht; die so überaus kunstvoll aufgebaute und gesteigerte Aventiurenreihe geht ins Leere. Doch in dieser überraschenden Wende liegt zweifellos der eigentliche Reiz des
Konzepts. Und dies eben nicht zuletzt deshalb, weil sie offenkundig gegen den maßgeblichen höfischen Liebesroman der Zeit, die Thomas/Gottfriedsche Fassung des Tristan gerichtet ist, dessen Kenntnis beim Publikum die Autoren voraussetzen, wie der Schönheitsvergleich zwischen Ysabele und den den beiden Isolden (vv. 3437, 3441f.) zeigt.Ga naar eindnoot14 An die Stelle der erotischen Sprengkraft, die tragische Konsequenzen hat, tritt im Walewein die persönliche Entscheidung des Helden, bei der die Liebe dem Prinzip der Aventüre entgegengestellt wird, d.h., es wird hier die Liebe höher gewertet als alles ritterliche Tun und die davon abhängige gesellschaftliche Stellung: Walewein ist bereit, auf die Frucht seiner Aventüren, die ihm ein Äußerstes an Mut und Tatkraft abverlangt haben, zugunsten von Ysabele zu verzichten. Es wird also das, was den eigentlichen Sinn des arthurischen Romantypus ausmacht, um einer personalen Liebe willen preisgegeben: der Aventürenroman hebt sich damit selbst auf.
Das ist kühn, allzu kühn angelegt - denn tatsächlich lassen die Dichter es dann doch nicht so weit kommen. Amoraen/Amorijs stirbt rechtzeitig, die große personale Entscheidung muß den Härtetest nicht bestehen. Das schwächt die in ihr steckende These, aber es ist immerhin klar Position bezogen worden. Man kann sagen: Für die Beziehung der Liebenden zueinander hat diese Entscheidung existentielles Gewicht, obschon sie handlungsmäßig nicht eingelöst wird, vielmehr die Aventürenhandlung dann doch den gewohnten Lauf nimmt und ihr Ziel im arthurischen Fest findet.Ga naar eindnoot15
Doch was als eine gewisse Schwäche erscheinen mag, kann auch positiv gesehen werden: Walewein sollte nicht nur eine Reihe typischer arthurischer Aventüren glanzvoll bestehen und eine Queste erfolgreich durchführen, sondern er sollte als Liebender zugleich Tristan übertrumpfen, indem er sich bereit erklärt, den ganzen ritterlichen Erfolg um seiner Liebe willen zu opfern. In dieser Überbietung der traditionellen Muster scheint mir die faszinierende Pointe des Walewein zu liegen. Und dies ist es denn auch, was die eigentliche Originalität des Werkes ausmacht: in der intertextuellen Kombinatorik öffnet sich ein Ausblick auf neue thematische Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen Liebe und Aventüre wird in überraschender Weise umgewertet, wenngleich am Ende dann trotzdem die traditionelle Einbettung bewahrt wird, so daß Walewein auch als vollkommener und bedingungslos Liebender der beste arthurische Ritter bleiben kann.Ga naar eindnoot16
Adresse des Autors: Deutsches Seminar, Univ. Tübingen, Wilhelmstraße 50, D-72074 Tübingen
- eindnoot1
- Die lange Zeit maßgebliche Ausgabe von G.A. van Es: De Jeeste van Walewein en het Schaakbord van Penninc en Pieter Vostaert: Artur-Epos uit het begin van de 13e Eeuw. Zwolle, 1957, ist neuerdings durch die Edition von David F. Johnson abgelöst worden: Penninc and Pieter Vostaert: Roman van Walewein. New York/London, 1992. Die Verszählung in den beiden Ausgaben ist identisch.
- eindnoot2
- Die Stelle, an der Vostaert zu dichten beginnt, ist nicht genau festzulegen, aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen vv. 7835 und 7848; vgl. Walewein. Ed. Johnson (Anm. 1), S. XXIV.
- eindnoot3
- Vostaert sagt: ‘Pieter Vostaert maketse vort / So hi best mochte na die wort / Die hi van Penninge vant bescreven’. Es ist nicht klar, was das heißt. Hat Penninc einen Plan oder Notizen hinterlassen? Jedenfalls muß man damit rechnen, daß Vostaert nicht durchwegs die Intention Pennincs getroffen hat. Siehe dazu Walewein. Ed. Johnson (Anm. 1), S. XXXIII.
- eindnoot4
- Antti Aarne/Stith Thompson: The Types of the Folktale. 2nd rev. Helsinki, 1961. (F.F. Communications, 184)
- eindnoot5
- W.P. Ker: ‘The Roman van Walewein (Gawain)’. In: Folk-Lore 5 (1894), S. 121-127.
- eindnoot6
- Johannes Bolte/Georg Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Leipzig, 1913-1931, 5 Bde., hier Bd. 1, S. 511.
- eindnoot7
- A.M.E. Draak: Onderzoekingen over de Roman van Walewein. Haarlem, 1936. [Nachdr. Groningen, 1975]. Mein Beitrag ist Maartje Draak in hohem Maße verpflichtet. Ihre Analyse bleibt grundlegend, auch wenn weitere Traditionszusammenhänge mit zu berücksichtigen sind, wie J.H. Winkelmann in einer trefflichen Erörterung jüngst gezeigt hat: ‘Gecontamineerde vertelstructuren in de Middelnederlandse Roman van Walewein.’ In: SpL 35 (1993), S. 109-128.
- eindnoot8
- Ich gehe davon aus, daß es sich um einen mittelniederländischen Originalroman handelt, d.h., ich verstehe die Hinweise auf eine französische Vorlage im Prolog, vv. 5f., und später in Vers 11141 als eine typische fiktive Quellenberufung. Zur Diskussion um die Originalität vgl. Walewein. Ed. Johnson (Anm. 1), S. XXXIVff. Zweifel äußerte Johan H. Winkelman: ‘De middelnederlandse Walewein oorspronkelijk?’ In: SpL 26 (1984), S. 73-82; vgl. indessen: Ders., ‘Der Ritter, das Schachspiel und die Braut. Ein Beitrag zur Interpretation des mittelniederländischen Roman van Walewein.’ In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen, 1992, S. 548-563, hier S. 550f.
- eindnoot9
- Die Datierung ist umstritten. Nach Walewein. Ed. Johnson (Anm. 1), S. XXI, kommt am ehesten die Zeit zwischen 1230 und 1260 in Frage.
- eindnoot10
- Vgl. zu diesem nachklassischen Typus Walter Haug: ‘Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer “nachklassischen” Ästhetik’. In: Walter Haug: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen, 1989. [Studienausgabe 1990], S. 651-671.
- eindnoot11
- Man hat Versuche unternommen, doch eine Art Entwicklung bei Walewein auszumachen, insbesondere im Blick auf die prekäre Ausgangssituation; vgl. Johan H. Winkelman, ‘Artus hof en Walewein's avontuur. Interpretatieve indicaties in de expositie van de Middelnederlandse Walewein’. In: SpL 28 (1986), S. 1-33; und ders.: ‘Der Ritter’ (Anm. 8), S. 553ff. Wenn es insbesondere zu Beginn zu einer kritischen Situation kommt, dann dürfte das jedoch mit der charakteristischen Verunsicherung des Hofes durch die Provokation von außen zusammenhängen. Jedenfalls ist dies nicht mit der Krise des klassischen Typus vergleichbar; man sollte also die Exposition in dieser Hinsicht nicht überinterpretieren.
- eindnoot12
- G.E.V. Grunebaum: Der Islam im Mittelalter. Zürich, 1963, S. 44f., 453f. Weiteres zur Dämonisierung der Aventürenwelt auf der einen und zur Erlöserrolle des Helden auf der andern Seite; bei Winkelmann: ‘Der Ritter’ (Anm. 8), S. 555ff.
- eindnoot13
- Zu den Quellen siehe Walewein. Ed. Johnson (Anm.1), S. XXXVIIff. Insbesondere ist auf die dort genannten Studien von J.D. Janssens hinzuweisen; ergänzend: J.D. Janssens, ‘Le roman arthurien “non historique” en moyen néerlandais: Traduction ou création originale?’ In: Arturus Rex. Tl. II. Acta Conventus Lovaniensis 1987. Ed. W. Van Hoecke, G. Tournoy, W. Verbeke. (Leuven, 1991), S. 330-347, hier S. 334ff.
- eindnoot14
- Ysabele ist schöner als alle traditionell um ihrer Schönheit willen gerühmten Frauen, wobei die Reihe pointiert mit Isold. von Irland und Isold Weißhand endet. Es ist Amoraen, der Ysabele in dieser Weise Walewein gegenüber preist.
- eindnoot15
- Es gibt jedoch eine Bemerkung Waleweins, die die Entscheidung verunklärt; er sagt vv. 9566f.: ‘Hi [Amorijs] soude hebben ghesijn ju amijs / Hadt ghegaen na minen wille’. Ist diese Unstimmigkeit, ja vielleicht auch die Verlegenheitslösung, Amoraen/ Amorijs rechtzeitig sterben zu lassen, Vostaert anzulasten, der die Intentionen Pennincs möglicherweise auch hier - vgl. Anm. 3 - nicht richtig verstanden hat?
- eindnoot16
- Es fehlt merkwürdigerweise die Hochzeit zwischen Walewein und Ysabele, die man dem arthurischen Schema gemäß, erwarten müßte. Vostaert reflektiert vielmehr über dieses typische Happy-End: er könne nicht mit Sicherheit sagen, ob sich die beiden geheiratet haben und ob Walewein, wie behauptet werde, später der Nachfolger des Königs Artus geworden sei; ja, er erwähnt, daß auch überliefert werde, Walewein sei mit Ysabele in ihr Land gezogen. Ist das ein bewußtes Spiel mit dem Schema? Oder ist Vostaert sich tatsächlich nicht im klaren, welches der ‘richtige’ Schluß ist? Winkelmann: ‘Der Ritter’ (Anm. 8), S. 562f., erwägt, ob nicht Ysabele als ‘heißblütige Exotin’ die arthurische Idealität gefährdet hätte und man deshalb zögerte, sie am Hof aufzunehmen. Daß Walewein überdies der ‘begehrte Junggeselle’ bleiben sollte, mit dieser Vorstellung hatte freilich schon Wolfram von Eschenbach gebrochen.