Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde. Jaargang 91
(1975)– [tijdschrift] Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde– Auteursrechtelijk beschermd
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Zu mnl. dilde/duldeDas mnl. Adjektiv dilde/dulde gehört, obwohl es im Wortschatz der germanischen Spracheinheit ziemlich isoliert steht, durchaus nicht zu den von der Forschung vernachlässigten Wörtern. Seit der Frühzeit der germanischen Philologie bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sind ihm eine ganze Reihe von Untersuchungen gewidmet worden, nicht nur von niederländischen, sonden auch von deutschen Gelehrten, darunter auch von Jacob GrimmGa naar voetnoot1). Als wichtigstes Ergebnis dieser eingehenden Bernühungen ist die Klärung der semasiologischen Verhältnisse anzusehen, die Erkenntnis, daß nicht ‘boshaft’, wie man zunächst angenommen hatteGa naar voetnoot2), sondern ‘wertlos, gering zu veranschlagen’ als lexikalische Bedeutung anzusetzen istGa naar voetnoot3). Weniger glücklich war man auf etymologischem Gebiet. Hier blieb es in der Regel bei unverbindlichen Hinweisen auf dieses oder jenes lautlich vergleichbare, seiner Herkunft nach meist selbst nicht ganz durchsichtige Wort der germanischen NachbarsprachenGa naar voetnoot4), so daß die | |
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letzte diese Fragen behandelnde Arbeit alle bis dahin hervorgetretenen Hypothesen mit einer kurzen Bemerkung abtun zu können glaubte - um sie durch eine noch schwächere zu ersetzenGa naar voetnoot5). So kann denn auch nicht sie als das bisher letzte Wort zur etymologischen Erforschung von dilde gelten, sondern ein Satz in dem wichtigen Aufsatz von M. de Vries: ‘Het is dus raadzaam het nadere licht af te wachten, dat misschien van elders kan opdagen’Ga naar voetnoot6). Die Bemühungen um eine etymologische Zuordnung von dilde werden dadurch erschwert, daß keine Klarheit über die Lautgestalt des Wortes besteht. Dies wiederum ist nicht zuletzt auf die Isoliertheit der mnl. Bildung zurückzuführen. Noch immer gilt Jacob Grimms Feststellung aus dem Jahre 1849: ‘ich finde das wort in keiner niederdeutschen quelle, auch nicht in plattdeutschen idiotiken; ebenso wenig darzureichen schien es die niederländische heutige...sprache...Im ags. fries. und hd. habe ich mich vergebens nach dem seltsamen worte umgesehen’Ga naar voetnoot7). Zwar ist das Wort auch in den mittelniederdeutschen Wörterbüchern nachgewiesenGa naar voetnoot8), aber nur aus dem Magdeburger Äsop, der eindeutig Wörter niederländischer Herkunft enthältGa naar voetnoot9). Dasselbe trifft für die wenigen mhd. Belege zu, die teils aus dem KarlmeinetGa naar voetnoot10), teils aus den Minnereden der Berliner Handschrift Germ. Fol. 922Ga naar voetnoot11) stammen. Für beide Quellen sind nieder- | |
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ländische Beziehungen, insbesondere die Übernahme niederländischen Wortgutes, erwiesenGa naar voetnoot12). Bei all diesen im Vergleich zur mittelniederländischen Überlieferung übrigens recht spärlichen deutschen Zeugnissen dürfte es sich also kaum um eigenständige deutsche Parallelbildungen, ja nicht einmal um ein sprachläufiges Lehnwort des dem Niederländischen benachbarten deutschen Sprachgebiets handelnGa naar voetnoot13), sondern um rein literarische Entlehnung eines nicht unwesentlichen Terminus aus dem Begriffsinventar der damals für weite Kreise maßgebenden WerteordnungGa naar voetnoot14). Da es nicht gelingen wollte, außerniederländische Entsprechungen für dilde beizubringen, mußte die Einsicht in Lautgestalt und Bildungsweise des Wortes lückenhaft bleiben. So läßt sich zunächst nicht entscheiden, ob das Nebeneinander von dilde und dulde auf Ablaut beruht oder ob es mit M. de Vries aus niederländischer Lautentwicklung erklärt werden mußGa naar voetnoot15), noch viel weniger, ob das inlautende | |
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d zum Stamm gehört oder Suffixcharakter hat. Es empfiehlt sich daher, vorerst einmal alle Möglichkeiten offen zu lassen und bei der Suche nach etymologischen Verwandten nicht nur i- und u-Varianten gleichmäßig zu berücksichtigen, sondern darüber hinaus auch dentallose Formen in die Untersuchung einzubeziehen. Eine solchermaßen erweiterte formbezogene Wortvergleichung führt im Mittelenglischen zu einem interessanten Ergebnis: Es findet sich hier ein Adjektiv dill/dull mit der lexikalischen Bedeutung ‘dumm’Ga naar voetnoot16). Die bisher übliche Identifizierung dieses Adjektivs mit zur erweiterten idg. Wurzel *dh(e)u̯el- ‘verwirrt, betäubt sein’ gehörigem engl. dullGa naar voetnoot17) halte ich für falsch. Auch die anderen germanischen Sprachen kennen nämlich, besonders in ihrem mundartlichen Bereich, das Nebeneinander von dill-/dull- (und dall-) Varianten, die, obgleich es sich meist um Verben handelt, bedeutungsmäßig durchaus verglichen werden können. Ich habe diese Bildungen unter Aufnahme eines etymologischen Ansatzes von Falk/Torp als Vertreter einer germanischen Bildwortsippe *dall-/*dill-/*dull- ‘sich planlos hin und her bewegen’ dargestelltGa naar voetnoot18). Unter Voraussetzung einer auch sonst in dieser Wortgruppe zu beobachtenden Bedeutungsentwicklung von ‘planlos hin und her’ zu ‘dumm’ ließe sich zunächst die Verbindung zu me. dill/dull herstellen. Mit dem bereits von Falk und Torp erbrachten Nachweis hierhergehöriger DentalerweiterungenGa naar voetnoot19) wären aber auch des weiteren alle Voraussetzungen für einen zumindest formalen Anschluß des mittelniederländischen Adjektivs geschaffen. Das Nebeneinander von i- und u-Varianten erwiese sich dann als alte, ablautartige Erscheinung, die zu ihrer Erklärung keiner niederländischen Lautgesetze bedarf, und das inlautende d entspräche | |
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als Wurzelerweiterung den Dentalen in Bildungen wie schwäb. Dalde ‘ungeschickter Mensch’Ga naar voetnoot20), norw. dilte ‘traben, trippeln’Ga naar voetnoot21). Die sich damit abzeichnende Zugehörigkeit von mnl. dilde zur germanischen Bildwortsippe *dall-/*dill-/*dull- läßt sich church weitere Beobachtungen bestätigen. Wie sich herausgestellt hat, waren alle Bildungen der in Frage stehenden Wortgruppe, soweit es sich nicht um eindeutig jüngere Ableitungen handelt, in den germanischen Sprachen weit verbreitet. Es treten nämlich dieselben Bildungsvarianten, oft mit gleicher oder nur geringfügig abweichender Bedeutung, in den entlegensten Mundarten des germanischen Sprachbereichs aufGa naar voetnoot22). Gehört nun dilde in diesen Kreis, so eröffnet sich eine neue Aussicht, das Wort aus seiner Isolierung herauszuführen: Nicht die literarischen Quellen der Nachbardialekte wären bei der Suche nach germanischen Parallelen zu einem mittelniederländischen Glied der der Hochsprache fernerstehenden Bildwortsippe *dall-/*dill-/*dull- in erster Linie heranzuziehen, sondern die skandinavischen, englischen und hochdeutschen Mundarten. In unserm Falle findet sich die lange vergeblich gesuchte bildungsmäßige Entsprechung denn auch in Ignaz Franz Castellis niederösterreichischem Wörterbuch: ‘düld, betäubt, z.B. dr Lerma måchd mi düld’Ga naar voetnoot23). Das Bayerische Wörterbuch stellt den Castelli-Beleg mit Recht neben synonymes dill, düllGa naar voetnoot24), die genaue formale Entsprechung von me. dillGa naar voetnoot25). Der Ring schließt sich. | |
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Bleibt noch ein Wort zur Bedeutung. Durch die me., mnl. und bair. dill-/dilde-Bildungen ist neben einem gemeingermanischen Verbum auch ein zumindest westgermanisches Adjektiv der *dall-/*dill-/*dull-Sippe erwiesen, dessen einzelsprachliche Zeugen bei aller bedeutungsmäßigen Sonderentwicklung den Ausgang von der Kernbedeutung ‘planlos hin und her’ noch deutlich erkennen lassen. Das gilt sowohl für me. dill/dull ‘dumm’ wie für bair. dill, dild ‘betäubt’ - wohl über ‘taumelig’ - und, wenn auch hier nur noch bedingt, auch für mnl. dilde/dulde ‘wertlos’. Aber die mittelniederländische Bedeutungs-entwicklung ist noch einen Schritt weitergegangen. Die im MnlW zusammengetragenen Zeugnisse, aber auch die Belege aus den deutschen Quellen lassen keinen Zweifel daran, daß mnl. dilde auf dem besten Wege war, zum Synonym von dorperlijc zu werdenGa naar voetnoot26). Diese betonte bedeutungsmäßige Sonderentwicklung des mnl. Wortes hängt mit seinem hochsprachlichen Charakter zusammen. Im Fall mnl. dilde sind wir Zeugen des seltenen Vorgangs, daß einem zur Bildwortsippe *dall-/*dill-/*dull- gehörigen Wort der Aufstieg in die Hoch- und Schriftsprache gelingt. Eine entsprechende Entwicklung ist bei nhd. dahlen zu beobachten. Was dahlen betrifft, so ist sein hochsprachlicher Status nicht von Dauer gewesen. Kaum anderthalb Jahrhunderte nach seinem ersten Auftreten als literarischer Mode-ausdruck ist das Wort aus der Literatur bereits wieder verschwundenGa naar voetnoot27). Über das Ende des seit dem 14. Jahrhundert in voll entwickelter | |
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Bedeutung erscheinenden mnl. dilde berichtet de Vries: ‘In de 15de eeuw geraakte het in onbruik. De afschrijvers vervangen dulste door minste en archste, diltheit door ondoecht. Geen wonder, dat het bij latere schrijvers niet meer wordt aangetroffen’Ga naar voetnoot28). Auch darin, daß ihm als Wort der Hochsprache keine lange Lebensdauer beschieden war, gibt sich mnl. dilde als echtes Glied der *dall-/*dill-/*dull-Sippe zu erkennen.
Göttingen Hans-Georg Maak |
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