De Nieuwe Taalgids. Jaargang 82
(1989)– [tijdschrift] Nieuwe Taalgids, De– Auteursrechtelijk beschermd
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‘nutscap ende waer’
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tistischen Lektüre von einem Arbeitsexemplar der erwähnten Untergruppe zu Thir und folglich von überaus präzisen Voraussetzungen ausgegangen werden kann. Im Hinblick auf die übersichtliche Quellenlage wird man jede Modifikation des Liber-Textes bei der Vermittlung des ‘latijn’ ins ‘dietsche’ als wohlüberlegten und gezielten Eingriff Maerlants einstufen; und schon die Betrachtung eines (scheinbar) beliebig ausgewahlten Abschnittes läßt vermuten, daß der niederländische Traditor mit erstaunlicher Souveränität zu Werke geht: II, 2541[regelnummer]
Leocophena, scrivet Solijn,
Es een luttel beestekijn,
Datmen te asschen verbernen pleghet,
Ende die assche dan so leghet
2545[regelnummer]
In die pade, daer die liebaerde
Wandelen souden hare vaerde;
Want die lewe blivet doet,
Coemt hiere an clene of groet.
Daer die lewe dit dier oec vint,
2550[regelnummer]
Hine spaerts niet een twint,
Hine bitet doet: dan moet hi mede
Selve sterven daer ter stede.
Oec dotet met sire orine
Den liebaert, sonder ander pine.
2555[regelnummer]
Ontsiet die clenen, ghi grote heren:
Misselijc hoe die saken keren.
Gewiß wird man ohne Zögern dem Urteil zustimmen, daß der volkssprachliche Dichter ‘mit guter kenntnis des lateinischen und gewandter technik seine werke schuf.’Ga naar voetnoot4 Aber ungeachtet der auBergewöhnlichen Sprachbeherrschung des Verfassers könnte das ‘dietsche’ Naturbuch einen enttauschenden Gesamteindruck hervorrufen: ‘[...] het is dor en droog met alleen hier en daer iets aardig beeldends, dat ten dele weer samenhangt met de neiging tot symboliek die ook in dit werk naar voren komt.’Ga naar voetnoot5 Ein derartig strenges Pauschalurteil mag in der knappen Übersicht eines literaturgeschichtlichen Handbuches nicht zu vermeiden sein; hingegen beweist die detaillierte Abhebung zum Liber de natura rerum, daß es Maerlant gelingt, die ‘schwere Kost’ gelehrten Wissensstoffes und geistlicher Dinginterpretation seinen Zeitgenossen ‘mundgerecht’ darzubieten. Zu dem Stichwort ‘leoncophona’ schreibt Thomas von Cantimpré: Leoncophona, wie Solinus und Jacobus mitteilen, ist ein kleines Tier, das gefangen, (getötet) und danach verbrannt wird, um die Wege der Löwen mit seiner Asche zu bestreuen. Die Löwen werden namlich getötet, wenn sie auch nur ein wenig davon berühren. Deshalb verfolgen die Löwen das Tier aus einem natürlichen Haß, fangen und zermalmen es. Aber auf Grund des Bisses, mit dem sie das Tier fassen, werden (auch) sie getötet. Jenes Tier aber verspritzt außerdem seinen Harn gegen einen nahenden Löwen, weil es weifi, daß dieser für den Löwen gleichfalls tödlich ist. - Dieses Tier | |||||||||
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bezeichnet die demütigen Seelen, die von den Fesseln der Gottesfurcht gefangen sind und in der Liebe zu Gott und zu ihrem Nächsten verbrennen. Mit deren Asche, das ist: mit den Beispielen guter Werke, müssen die Wege der Hoffartigen bestreut werden, damit sie - durch deren Nachahmung zerknirscht - für die Welt sterben. (Aber) jene vergelten im Gegenteil Gutes mit Bösem und zerreißen ihren (scil. der demütigen Menschen) guten Leumund durch üble Nachrede und Neid. Aber sie sollen wissen, daß sie mit ebendiesem ‘Zerfleischen’ eine Todsünde begehen und an ihrer Boshaftigkeit und ihrem Neid umkommen.Ga naar voetnoot6 Auf den ersten Bliek wird hier für den Betrachter der Gegenwart eine Differenz zwischen Laiennaturbuch und Klerikerkompendium am Umfang bzw. an der Be-lehrungsrichtung des Deutungsteiles erkennbar. Jedoch bereits die Sachdeskrip-tion veranschaulicht bei völliger inhaltlicher Übereinstimmung einen kleinen - und deshalb umso wichtigeren - Unterschied zwischen Der Naturen Bloeme und dem lateinischen Vorlagenwerk. In Entsprechung zum Quellentext stellt Maerlant die ‘leoncophona’ als kleines Tier vor (dessen äuβere Gestalt im übrigen nicht geschildert wird), er betont die erstaunliche Wirkung des verbrannten Kadavers als ‘Löwenvernichtungsmittel’ und er berichtet von der natürlichen Feindschaft ‘leo - leoncophona’. Zur Bestätigung dieser Faktenmitteilungen beruft sich der Dominikanerlektor Thomas auf ‘Solinus et Iacobus’, der ‘vlaminc’ begnügt sich mit dem einfachen Verweis auf ‘Solijn’. Darf man nun im Anschluβ an die (noch) vereinzelte Beobachtung dem Traditor ein Versehen aus Nachlässigkeit oder gar mangelnden Arbeitswillen zum Vorwurf machen? Die Antwort auf eine rhetorische Frage erübrigt sich stets; hätte Maerlant bei seiner Übertragung die Namenserwähnung als unerläβliche Pflicht verstanden, dürfte es für ihn ein leichtes gewesen sein, einen Griff ‘in de voorraad stoplappen die hij ter beschikking had’Ga naar voetnoot7 zu tun oder ein Verspaar in der Art ‘Oec seghet Jacob van Vetri / Dattet sulkerhande beeste si’ einzufügen. Vielmehr beruht die ‘ökono-mische’ Arbeitsweise auf einer sorgfältigen didaktischen Überlegung: Thomas be-schränkt seine Rolle mit bescheidenem Stolz auf die Tätigkeit eines Kompilators, der in gewollter Unselbstandigkeit die Schriften berühmter Gelehrter exzerpiert (‘ausbeutet’) und nach thematischen Ordnungsaspekten aneinanderreiht. Erst der Rekurs auf eine anerkannte Autorität verleiht den Kenntnisdaten im Liber de natura rerum - wie in jeder anderen Kompilation - Glaubwürdigkeit; und der Zuverlässigkeitsrang einer Aussage steigt mit der Anzahl der aufgeführten ‘nomina auctorum’. Auch über das bemerkenswerte Tier ‘leoncophona’ schreiben, allerdings unter der korrekten Namensform ‘leontophonos’ (gr. λЕоντоϕóνоζ) zwei un-bedingt vertrauenswürdige Verfasser, der spätantike Schriftsteller Caius Iulius Solinus (III. Jhd. n. Chr.) in seinen Collectanea rerum memorabilium sowie der Bischof von Akkon und spatere Kardinalbischof von Tusculum Jacob von Vitry (1180-1254) in seiner Orientalis et occidentalis historiaGa naar voetnoot8 Wenn der ‘dietsche’ Lehrdichter auf diese zweifache Authentizitatsgarantie (zumindest partiell) verzichtet, so wird zum einen der Sachverhalt zu bedenken sein, daß ihm die ‘aucto- | |||||||||
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ritates’ nur mittelbar über die Thomas-Quelle vertraut gewesen sein dürften. Zum anderen sei daran erinnert, daß prinzipiell der namentliche Rekurs auf einen (Schul-)Autor zur Beglaubigung eines Überlieferungsfaktums ausreicht, so daβ der Traditor sich und den Adressaten seines Naturbuches überflüssigen Wissensballast ersparen kann. Unter den Techniken einer gezielten ‘Normalisierung’ wird man ferner Maerlants Bemühen hervorheben, jede fachliche Problematik (im ursprünglichen Sinne des Wortes) zu vermeiden. Schon auf dem Unterrichtsniveau des lateinischen Liber lassen sich nur vereinzelt Belege zur ‘scientia naturalis’ als ‘scientia rationalis’ aufzeigen;Ga naar voetnoot9 zudem ist ein groβer Teil der ‘Fragestücke’ (‘questiones [...] quomodo hoc possit’) erst im Verlauf der zweiten Redaktionsphase ergänzt worden. Aber obwohl Der Naturen Bloeme mit Sicherheit auf die 20-Bücher-Fassung Thomas II zurückgeht, finden sich zur argumentativen Erläuterung einer ‘causa’, u. a. für den dreitägigen Schlaf der Löwenjungen, für die Scharfsichtigkeit des Luchses oder für den Verstummen hervorrufenden Blick des Wolfes, keine Parallelen im niederlandischen Werk.Ga naar voetnoot10 Allein im Abschnitt vom Dachs vermerkt der ‘vlaminc’ zum giftigen Biβ des Tieres die ‘rede diemer toe ghevet’. Freilich kann die Abweichung von der selbstgewählten Richtschnur der ‘Enthaltsamkeit’ gegenüber wissenschaftlichen ‘questiones’ kaum aus der Besprechung eines einheimischen Tieres begründet werden, sondern weitaus eher aus dem christlich-didaktischen Anliegen, ein Schöpfungsfaktum, ‘dat te wonderen scijnt’, mit gebührender Ehrfurcht darzustellen.Ga naar voetnoot11 ‘Und das ist ein Wunder [...]’ beginnt Thomas seinen ‘ratio’ -Kommentar im Artikel ‘De daxo’. Als ‘Wunder [...] und über alles Ermessen wunderbar’ bestimmt er gleichfalls die Eigenschaft des kleinen Fisches ‘echinus’, der nur einen halben Fuβ lang ist, aber noch bei stürmischer See ein Schiff anhalt, wenn er sich am Rumpf festklammert.Ga naar voetnoot12 Diese erstaunliche Wesenseigentümlichkeit verschafft dem ‘visschekijn’ einen ‘Stammplatz’ in der theologischen Diskussion über das Naturwunder (‘mirum’/‘mirabile’) bzw. das Ereigniswunder (‘miraculum’) - und die einzigartige Schöpfungsgabe ermutigt selbst den ‘dietschen’ Vermittler, eine umfangreiche Liste namhafter ‘auctoritates’ vorzulegen: | |||||||||
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V, 399[regelnummer]
Dits ongheloeflike sake,
400[regelnummer]
Maer et liet deser sake
Aristoteles ende Plinius,
Ende die groete Basilius,
Ambrosius, Jacob van Vetri,
Ysidorus, ende daer bi
405[regelnummer]
Nome ic ju dese meesters bi namen,
Ende om dat die beste sijn te samen,
Die dinghe screven van naturen,
Ende si gheloeflic sint ter curen,
Al ist onwiselee in onsen sin
[...]
Hier liefert Maerlant formal lediglich eine Übersetzung des Quellentextes; in bezug auf die inhaltliche Selektion der naturkundlichen Wissensdaten ist seine Entschei-dung zugunsten der ‘meesters’ umso aufschlußreicher. Da der Verfasser die ‘materie’ seines Naturbuches auf sehr selbstandige Weise ‘aanmerkelijk bekortte’,Ga naar voetnoot13 darf die Ausnahme als Anhaltspunkt für ein nicht mehr ‘rein’ informatives Belehrungsziel gewertet werden. Der Dichter ergreift dankbar die Gelegenheit, sachliche Unterweisung und geistliche Erbauung - ‘nutscap ende waer’ (Prol. 87) - mitein-ander zu verknüpfen. Deshalb ebnet der Artikel vom ‘echinus’ den Weg zur Dinginterpretation im volkssprachlichen Naturbuch, und damit gleichzeitig zurück zum Musterzitat ‘De leoncophona’. Gewiß dient der Auszug aus dem zweiten Kapitel ‘van viervoeten beesten’ (Prol. 119) nur als Orientierungshilfe bei der Eingrenzung besonderer Themen-kreise; jedoch zu einem solchen Vorhaben stellt der Abschnitt ergiebiges Ver-gleichsmaterial bereit, weil der ‘vlaminc’ einen erlaubten ‘Freiraum’ zur Modifi-kation der Naturdeutung wohlüberlegt ausnutzt. Gestützt auf die Überzeugung einer sinn-vollen Schöpfungsordnung, ersetzt Maerlant
Ausgehend von der sprachlich-stilistischen Unterscheidung zwischen dem formal geregelten ‘bezeichnen’ (‘significatio’) und der frei gestalteten Mahnrede (‘admonitio’/‘exhortatio’) erhebt sich zunächst die Frage nach dem Stellenwert der jeweiligen Darbietungstechnik in einem Klerikerkompendium und in einem Naturlehrbuch für Laien. Grundsätzlich wird man antworten dürfen, daβ der Ge-brauch beider Vortragsmodi gleichermaβen im Liber de natura rerum wie in Der Naturen Bloeme nachzuweisen. ist - allerdings in abweichender Funktion: Wäh-rend Thomas Cantimpratensis darauf achtet, variable Deutungsmöglichkeiten oder skizzenartige Kurzpredigten mitzuteilen, ist Maerlant bestrebt, ‘Alternati-ven’ der Dinginterpretation zu vereinheitlichen und statt mittelbarer Vorschläge | |||||||||
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für die Predigtpraxis eine unmittelbare Hinwendung an seine Hörer/Leser zu voll-ziehen. In dieser Absicht bedient er sich neben der didaktischen Grundform des Imperativs ebenso der Signalverben ‘bedieden’ und ‘betekenen’, wenn er z.B. den christologischen Sinnbezug zum Einhorn erläutert: II, 3733[regelnummer]
Dit wrede dier, dit espentijn,
Dinct mi een bedieden sijn
3735[regelnummer]
Van den Godsone[...]
oder zu einer (vergeblichen) List des Kiebitzes, der den Menschen von seinem Nest ablenkt, erklärt: ‘Wel betekent vaneels vite / Dat leven van den ypocrite, / Die roem houd [...]’ (III, 3501-3503). Wie die Textstellen veranschaulichen, markieren die Kennverben den Beginn einer Sinnerschlieβung überhaupt, d.h. ‘bedieden’ und/oder ‘betekenen’ unterstreichen allgemein den Überschritt vom buchstabengetreuen (‘litteralen’) Verstandnis zum ‘geistigen Sinn’ (‘sensus spiritualis’) der Dinge. ‘Dieser geistige Sinn aber wird dreifach unterteilt,’Ga naar voetnoot14 so daβ auf der Ebene des ‘übertragenen’ Begreifens eine mehrfache Abstufung der erforderlichen Erkenntnisleistung erfolgt. Mit einem häufig zitierten lateinischen Merkspruch kann die Differenzierung knapp zusammengefaβt werden: Littera gesta docet, quid credas allegoria,
Moralis quid agas, quo tendas anagogia.Ga naar voetnoot15
Bei einer Übersetzung in das heutige ‘dietsch’ empfïehlt es sich jedoch, die gra-duelle Steigerung der Sinnstufen durch Umschreibung zu kennzeichnen. Sodann ergibt sich die inhaltliche Unterscheidung zwischen
Obwohl Jacob van Maerlant den - in Entsprechung zur Bibelhermeneutik skiz-zierten - theoretischen Hintergrund der Dinginterpretation nicht mit einem einzi-gen Wort erwähnt, läßt die Praxis der Auslegung in Der Naturen Bloeme keinen Zweifel an einer soliden Kenntnis und einer geglückten ‘Aufbereitung’ der exegetischen/homiletischen Ratschläge. Unter dem Aspekt des Laienkompendiums sind | |||||||||
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dabei in den Handbüchern zur niederländischen Literaturgeschichte hauptsächlich die Paradebeispiele der ‘säkularisierten’ Verweisung von der gefangenen Kalanderlerche auf denjenigen, ‘die met minnen es bevaen’ (III, 886) oder des miβbilligenden Urteils über die ‘menestrele’ (III, 2134) im Artikel vom Häher herangezogen worden.Ga naar voetnoot16 Bedenkt man freilich, daß der Dichter unabhängig von ständischer Parteilichkeit mit den Stilmitteln des ‘betekenen’ eine innerweltliche Deutung entwickelt, ist der Rückschluβ erlaubt, daβ auch die Übernahme traditionsreicher ‘sensus’-Vorgaben auf sorgfaltigen Erwägungen, nicht etwa auf Bequemlichkeit beruhe. Zum Beweis sei an die ‘klassischen’ Vorbilder von Einhorn, Phönix und Pelikan erinnert:Ga naar voetnoot17 Im ersten Fall entspricht bei der Parallelsetzung der Einhornjagd zur Kreuzigung Christi das ‘bedieden’ in Der Naturen Bloeme dem Vorlagentext des Liber de natura rerum. Nach einer ausführlichen Deskription der Selbstverbrennung des einzigartigen Vogels und seiner Regeneration aus der Asche handelt Thomas von Cantimpré in einem gesonderten Abschnitt ‘de fenice moraliter’; demgegenüber wiederholt Maerlant Schritt für Schritt die ‘Stationen’ des Faktenberichtes - in einer Interpretationsgleichung zu Tod und Auferstehung des Messias. Anläβlich der Beschreibung des Pelikans schlieβlich verzichtet der Dominikaner völlig auf den allzu (?) verbreiteten heilsgeschichtlichen ‘sensus allegoricus’, während der Lehrdichter nicht nur eine christologische Deutung wahlt, sondern überdies den Erkenntnisbezug in einer geschickt aufgebauten Mahnpredigt darbietet: ‘Elc mensche pijn hem te verstaen / Die nature van den pellicaen, / [...]’ (III, 2965f.). Nach einer Detailanalyse der genannten ‘significatio’-Abschnitte tritt Maerlants ‘Strategie’ der Laienanpassung im allgemeinen und einer Modifikation der ‘leoncophona’-Auswertung im besonderen deutlich hervor. Zweifellos ist der ‘vlaminc’ - dank seiner hervorragenden Lateinkenntnisse wie dank seiner handwerklichen Auffassung des Dichteramtes - in der Lage, jeden Schwierigkeitsgrad der Dinginterpretation zu übertragen. Jede inhaltliche Veränderung, Ergänzung | |||||||||
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oder Kürzung von Liber-Partien kann daher aus einem abweichenden Vermittlungsinteresse begründet werden, so auch die Vernachlässigung der gleichnisartigen Zuordriung zweier oder mehrerer Bezugspole in einer ‘Deutungskonstellation’: Im lateinischen Sammelwerk hebt der Kompilator das ‘naturale odium’ hervor, das der Löwe gegenüber der ‘bestia modica’ hegt, um über den ‘Tatbestand’ der naturgegebenen Feindschaft die Verfolgung der ‘humiles animae’ durch die ‘superbi’ darzulegen - ‘quoniam initium peccati omnis superbia.’Ga naar voetnoot18 Bei der Textprobe aus Der Naturen Bloeme kann in mehrfacher Hinsicht von Gegenführung gesprochen werden, weil zugleich mit dem Verzicht auf eine ‘bedieden’-Formel der Löwe in der Gruppierung der Auslegungselemente mit einer ‘positiven’ Wertung bedacht ist. Nur bei flüchtiger Betrachtung erscheint die Umkehr der Deutungsrichtung befremdlich. Ein kontinuierlicher Vergleich der Tierkapitel aus Thomas' und Maerlants Kompendium klärt bald darüber auf, daß die lehrhaften Einschübe zum ‘liebaert’ im niederländischen Sammelwerk regelmäβig als ‘heraldische’ Mahnrufe konzipiert sind, u.a. expressis verbis im Abschnitt ‘De leone’: II, 2152[regelnummer]
Den ghenen die hem ligghen voeren,
Dien spaert hi: dats heren doen.
Twi draghen si in den scilt den lyoen,
2155[regelnummer]
Ende sine int herte niet en draghen?
‘De uitweiding over de heeren [...] ontbreekt in het origineel’ registriert E. Verwijs in seiner Ausgabe von Der Naturen Bloeme.Ga naar voetnoot19 Aber ein geübter Maerlant-Leser dürfte auch ohne diesen Hinweis einen selbständigen Zusatz des Traditors vermuten, da hier zwei Standardcharakteristika der didaktischen (Spruch-) Dichtung des Spätmittelalters zusammentreffen: Die toposähnliche Klage über die Veränderlichkeit/Nichtigkeit der Welt und die ‘konservative’ Bestätigung des bestehenden ‘ordo socialis’, d.h. die Parteinahme zugunsten der ‘heren’/‘ridders’. Dennoch mag die vorgetragene These zunächst als übereilt und irreführend abgelehnt werden. Obwohl ein distanzierter Betrachter des XX. Jahrhunderts nicht sofort von ‘Maerlant's pessimisme’ zu ‘Maerlant's communisme’ übergehen wird,Ga naar voetnoot20 scheint es naheliegend, aus der Ermahnung zur ‘leoncophona’ wie aus dem ‘lyoen’-Beispiel auf eine anti-aristokratische Haltung des Verfassers zu schlieβen, die weitere Erganzungen (vermeintlich) bestätigen. So warnt der Dichter nach der Beschreibung des Tieres ‘calopus’, das sich leichtsinnig mit seinen Hörnern in Schlingpflanzen verfängt: | |||||||||
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Nu merct yer an exempel groet,
925[regelnummer]
Ghi staerke! Die niemen ontsiet,
Die den cranken niet en vliet,
Ende niet en acht dien noch desen,
Hine mach nauwer seker wesen.
Und zur Wesenoeigenart des ‘falco ignobilis’, der sich bei der Verfolgung des Reihers täuschen läβt, fügt er die Bemerkung an: ‘Donedel valke, dat verstaet, / Bediet der heren onedelen staet’ (III, 1477f.), freilich nur derjenigen ‘heren’, die sich als bestechlich erweisen. Den bedauerlichen Sachverhalt der ‘pekuniären Versuchung’ erwähnt schon Thomas von Cantimpré - in einer, ‘status’-Auslegung auf die ‘malos decanos et prelatos ecclesie [...] aut iudices seculares’; im Verhalten des ‘calopus’ hingegen erblickt der Dominikaner keinen beachtenswerten Lehrbezug.Ga naar voetnoot21 Es ist deshalb für den Philologen eine dankbare Aufgabe, Maerlants - in ‘eigen maak’Ga naar voetnoot22 entworfenen - ‘ständischen’ Interpretationszusätzen eine angemessene Einschätzung als konstruktive Scheltreden zukommen zu lassen: Wann immer sich der ‘vlaminc’ gegen die ‘heren’ wendet, äuβert er seine Vorwürfe nur in bester Absicht. Dabei kann er sich auf ein Gewohnheitsrecht der didaktischen Literatur (insbesondere in der Volkssprache) stützen, weil die ‘moralische Erziehung am negativen Beispiel’Ga naar voetnoot23 zu den Konventionen der Lehrdichtung zählt. Im Anschluß an die generalisierende Feststellung ergäbe sich nun die Möglichkeit, anhand weiterer Beispiele aus Der Naturen Bloeme die Themen und Topoi der Didaxe sowie eine Beeinflussung durch Inhalte und Vortragsmodi der Laienpredigt zu erörtern, zumal Maerlant die Verfahrenstechniken der ‘Unterweisungsliteratur’ hervorragend beherrscht. So gelingt es ihm mühelos, die Position des ‘laudator temporis acti’ zu vertreten oder die Ständeklage mit Hilfe rhetorischer Elemente zu einem ‘sermoen’ für ein ständisches (adliges) Auditorium zu erweitern.Ga naar voetnoot24 Doch die These von der eindeutigen ‘Umfunktionierung’ eines Predigerkompendiums zum Lehr- und Erbauungsbuch für Laien darf erst dann als gesichert gelten, wenn der Vermittler selbst über seine Vorgehensweise und seine Wirkungsabsicht Rechenschaft ablegt. Gemäß poetischer/poetologischer Tradition bleiben auch im ‘dietschen’ Naturbuch Erläuterungen des Dichters ‘in eigener Sache’ einem besonderen Überlieferungsort vorbehalten - dem Prolog, durch den das ‘Gespräch’ zwischen Autor und Publikum ‘eröffnet’ wird. Der gebildete Dichter Jacob van Maerlant kennt | |||||||||
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die Regeln der ‘ars poëtica’ sehr genau, und er versteht es, durch die Argumentation der Vorrede seine Hörer-/Leserschaft ‘wohlwollend, aufmerksam und lernwillig’ zu stimmen.Ga naar voetnoot25 Um sich den Primärempfangern seines Werkes, denen der lateinische Thomas-Text unbekannt bzw. unverstandlich ist, vorteilhaft zu präsentieren, wählt er zunächst den Weg des ‘understatement’, indem er seine Leistung bescheiden auf die Rolle des Versifikators einschränkt: Prol. 10[regelnummer]
Niemen en hebbe dies waen,
Dat ie die materie vensede,
Els dan ie die ryme pensede.
Die materie vergaderde recht
Van Coelne broeder Alebrecht
[...]
Wie die Musterzitate - und gerade der Abschnitt von der ‘leoncophona’ - gezeigt haben, trifft diese Behauptung schwerlich zu. Zwar kann die Zuschreibung des Liber de natura rerum an Albertus Magnus durch die anonyme Verbreitung der Kompilation erklärt werden, aber rückschauend gelangt man zu dem Gesamturteil: Maerlant vereinfacht die ‘auctoritas’-Angaben zur Naturkunde durch die planvolle Maβnahme der ‘Normalisierung’; ebenso modifiziert er die Naturinterpretation (unter sprachlichem und inhaltlichem Gesichtspunkt) im Hinblick auf die Aktualisierung des ‘bedieden’ für einen weltlichen Adressatenkreis. In jedem Falle bedient er sich zur Darbietung von Faktenwissen und lehrhaften ‘toepassingen’ der ‘ryme’, so daβ der Hinweis auf das Medium des Verses gleichsam als Hinweis auf die Arbeit der ‘translatio’ überhaupt begriffen werden kann - und begriffen werden soll. Denn in der volkssprachlichen didaktischen Literatur des späten Mittelalters erfüllt die ‘Reimpaarkette’ noch eine Vielzahl von Informations-/Belehrungsaufgaben, die in folgenden Epochen von ‘prosaischen Formen’ übernommen werden;Ga naar voetnoot26 mit anderen Worten: Die fraglose Vorstellung der Übertragung als ‘Naturbuch im Reimversen’ erlaubt ebenso unzweifelhaft eine Kennzeichnung als ‘Naturbuch zum Laiengebrauch’. Beginnt Maerlant seine Vorrede mit der Herabminderung seines eigenen Verdienstes und einer ‘handwerklichen’ Eingrenzung seiner Übersetzertätigkeit, so formuliert er unter einem zweiten Einführungsaspekt - nach der detaillierten Auflistung der (durch Thomas) exzerpierten ‘eesters’ - ein hartes Urteil über die lügenhafte fiktionale Dichtung, das es ihm gestattet, den Wahrheitswert seines Werkes zu bekräftigen: Wien so favelen dan vernoyen,
Ende onnutte loghene moyen,
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Lese hier nutscap ende waer,
[...]
Gewiß steht diese Äußerung in bester Maerlant-Tradition und ist folglich häufig als Beleg für die Wahrheitsliebe des Vermittlers zitiert worden.Ga naar voetnoot27 Jedoch darf man über dem ‘Versatzstück’ der Lügenschelte nicht vernachlässigen, daβ sich der ‘vlaminc’ mit der Ankündigung von ‘nutscap ende waer’ einer anspruchsvollen Bestimmung unterordnet: Entweder wollen die Dichter uns nutzen nur oder ergötzen
Oder zugleich, was erfreulich und wertvoll fürs Leben, uns sagen.
[...]
Stimmen von allen erhält, wer das Nützliche mischt mit dem Heitern,
Da er den Leser ergötzt und zugleich ihn ermahnend zurechtweist.Ga naar voetnoot28
Die Forderung des ‘prodesse et delectare’ stellt der römische Dichter Horaz in seiner Ars poëtica, die im mittelalterlichen Schulunterricht zur Pflichtlektüre zählt. Schon deshalb wird Jacob van Maerlant mit der Definition vertraut gewesen sein; und wenn er sich mit dem Vorsatz, zu schreiben ‘Dat vromeleec si ende bequame’ (Prol. 157) implizit in die Reihe der ‘poetae’ einfügt, bekundet seine Entscheidung sicherlich ein gesundes Selbstbewuβtsein - immerhin ist ein Leser der Gegenwart kaum mehr durch die reich mit ‘stoplappen’ verzierten Reimpaarverse zu begeistern. Für den ‘vader / [...] der Dietsche[r] dichtren algader’Ga naar voetnoot29 aber gelten nicht allein formal-ästhetische Maβstäbe. Im Gegenteil ist der Traditor ehrlich darum bemüht, glaubwürdige, nützliche und zugleich angenehme Unterweisung vorzutragen, wie die inhaltliche Aufschlüsselung der kurzen Prologformel in ‘Medicine ende dachcortinghe / Scone reden ende leringhe’ (Prol. 145f.) bezeugt. Maerlants Sammelwerk von ‘menighen creaturen’ (Prol. 8) dokumentiert anschaulich - und darum überzeugend - das (Selbst-)Verständnis des ‘vlaminc’ vom Dichteramt aus pädagogischer Verantwortung. Anknüpfend an die Analyse des Artikels über das Tier ‘leoncophona’ öffnet sich eine zweifache Frageperspektive: - ein Rückblick auf die Überlieferungsform der ‘Bücher von den Wesenseigenschaf- | |||||||||
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ten der Dinge’ sowie auf die Interdependenz von Naturkunde und Naturdeutung, die durch das Fundament einer sinn-vollen Schöpfungsordnung untermauert ist. - ein Ausblick auf den Spielraum von Traditionsbindung bzw. erlaubter Freiheit in Faktendeskription und Dinginterpretation zugunsten eines volkssprachlichen Laienpublikums. Aus des Übereinstimmung der Textbelege für eine ‘Verweltlichung’der ‘leringhe’ in Der Naturen Bloeme geht hervor, daβ der Bearbeiter (!) mit auβergewöhnlichem Geschick und didaktischer Überlegung verfährt; die ‘eigentliche’ Widmung an ‘mijn here Nyclaes van Cats’ (Prol. 149) kann - trotz einer erwünschten Bestätigungsfunktion - beinahe als sekundär eingestuft werden. Mit seinem ‘ghedichte’ überreicht Maerlant daher noch dem heutigen Betrachter ein Naturlehrbuch, ‘Dat vromeleec is ende bequame’. | |||||||||
AnhangIThomas Cantimpratensis: Liber de natura rerum. Editio princeps secundum codices manuscriptos. Teil I: Text. Ed. Helmut Boese. Berlin - New York 1973.
Lib. IV, cap. 63: De leoncophona. Leoncophona, ut dicunt Solinus et Iacobus, bestia est modica, que capta exuritur, ut cinere eius aspergantur semite leonum. Necantur enim leones, si vel modicum ex illis attigerint. Propterea leones naturali odio bestiam persequuntur comprehensamque frangunt. Sed leones circa morsum, quo mordent bestiam, exanimantur. Verum et illa contra venientem leonem urinam spargit sciens hanc leoni quoque esse exitalem. Hoc animal signat humiles animas, que capte vinculis religionis ardent caritate dei et proximi. Quarum cinere, id est recordatione et exemplis operum, respergi debent semite superborum, ut compuncti eorum imitatione moriantur mundo. Sed illi e contrario reddentes malum pro bono auditam eorum famam infamia et invidia lacerant. Sciant quoque quod in ipsa laceratione mortaliter peccantes sua malitia et invidia pereunt. | |||||||||
IISolinus: C. Ivlii Solini Collectanea rervm memorabilivm. Ed. Thfeodor] Mommsen. Berlin 1895.
Cap. XXII, 21 (S. 120): leontophonos vocari accipimus bestias modicas, quae captae exuruntur, ut earum cineris aspergine carnes pollutae iactaeque per conpita concurrentium semitarum leones necent, si quantulumcumque ex illis sumpserint. propterea leones naturali eas premunt odio atque ubi facultas data est, morsu quidem abstinent, sed dilancinatas exanimant pedum nisibus. Jacob von Vitry: Iacobi de vitriaco Primum acconensis, Deindè tvscvlani episcopi ... Libri dvo. Quorum prior Orientalis siue ... Hierosolymitanae: Alter, Occidentalis Historie nomine inscribitur. Omnia nunc primüm studio & opera D. Francisci Moschi Niuigellatis ... in lucem data. Dvaci. Ex Officina Typographica Balthazaris Belleri, sub Circino. Anno 1597.
Lib. I, cap. 88, p. 184: Leonthophonos Grscè dicitur quodda animal paruum, quod capiunt venatores & ex- | |||||||||
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urent, cuius cineres super carnes conspergunt, ex quibus carnibus Leones comedentes illicó moriuntur. Vndè Leones huiusmodi bestiam naturali quodam odio persequuntur, quam captam vnguibus statim dilaniant, ex ea veró gustare non audent. |
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