Taalverarming?
Es ist eine romantische Illusion, zu glauben, unsere Sprache sei in früheren Epochen vollkommener gewesen als heute. Und wenn man diese Ansicht, wie mit all den bisher aufgeführten Dingen, so auch mit den volleren Endungen zu begründen sucht, so irrt man gründlich. Selbst der eiufache Satzbau bedurfte noch äusserer Hilfsmittel, Klangassoziationen, damit sich der primitive Mensch mit Hilfe des Gehörs darin zurecht fand. Eben dies ist die Funktion der Endungen, die wir als akustische Gesten bezeichnen können, weil sie ihre Funktion mit den optischen Gesten der Hand, mit denen der Primitive ausserdem noch seine Rede zu begleiten pflegt, teilen. Auch diese volleren Endungen sind ein Ding, dem man so genie nachtrauert, - aber die Vollkommenheit einer Sprache kann sich nur danach bestimmen, ob sie dem Kulturzustand der Sprachträger gemäss ist oder nicht, d.h. ob sie den Anforderungen der jeweiligen Kultur genügt oder nicht. Und dann zeigt sich, dass die modernen Sprachen mit sehr viel rascheren, geistigeren und sichereren Mitteln arbeiten, dass eine sehr vollkommene Sprache heute etwa das Englische ist, und dass es für die moderne Kultur einfach unzulänglich und unmöglich wäre, Sprachen zu gebrauchen, die noch so sehr wie das Vor- und Urgermanische auf äussere Assoziationen und reine Gedächtnismechanik ihren Bau begründen. Was wir aus der Sprache ablesen können für die frühesten Epochen des Germauentums, ist der geistige Zustand eines primitiven Bauernvolkes, ähnlich dem, auf dem sich bis vor kurzem etwa das litauische befand.
(H. Naumann, Versuch einer Geschichte der deutschen Sprache als Geschichte des deutschen Geistes, S. 146, 147.)