Über Reminiscenzenjägerei.
Die Reminiscenzenjäger vergessen nämlich über der halb kindischen, halb hämischen Freude, solche Gleichstellungen von Noten gefunden zu haben, den Charakter des Themas selbst, die Stelle, wo es steht, die Art seiner Verarbeitung, endlich das Bild, die Qualität, die Physiognomie des ganzen Werkes zu betrachten. Sie hören mit den Augen, nicht mit den Ohren. Sie vergessen, dass dieselbe Folge von Tönen noch lange keine Reminiscenz ist, dass da noch viele Momente dazu treten müssen, wie Tempo, Tonart, Ausdruck, Stellung im Laufe des Ganzen, vor allem aber die erkennbar gleiche, innerliche Veranlassung gerade zu dieser und keiner anderen Tonfolge, damit eine solche daraus werden kann, weil sich dann erst die Unfätigkeit des Componisten dokumentiert, selbst den richtigen Ausdruck zu finden. Sie vergessen aber auch, dass andererseits durch die gesamte Stimmung einer Stelle und die Erinnerung an eine ähnliche das Gefühl der Reminiscenz erzeugt werden kann, ohne dass im geringsten eine Gleichheit der Noten zu entdecken ist. Diese Stimmungsreminiscenzen werden merkwürdigerweise viel weniger bemerkt, sind aber die eigentlich bedenklichen und lassen viel mehr auf bewusste oder unbewusste Anlehnung des Componisten an einen anderen schliessen, als zufällige Gleichklänge. Solche kommen in den grössten Meisterwerken von Bach bis Wagner überall und zahlreich vor; sie sind stets unbeachtet geblieben und niemandem ist es eingefallen, etwa ein Werk früher danach beurteilen zu wollen, zu einer Zeit nämlich, da es noch keine ‘Leitmotive’, ‘Leitfaden’ und ‘Programmbücher’ gab, da man noch verstand aus dem Vollen zu hören und ein Werk als ganzes
Produkt seines Schöpfers zu betrachten, nicht als ein Gemengsel willkürlicher Einzelheiten, zu einer Zeit, wo man - kurz gesagt - ein Werk wenigstens kennen lernen musste, bevor man es beurteilte.
Neue Deutsche Rundschau viii, Nov. 1897 p. 1101 ff.:
Die Symphonie nach Beethoven v. Felix Weingärtner (Berlin).
Zouden bovenstaande uitspraken ook op litteraire kunst van toepassing zijn?
R.