Niet-verklassiekte stijl?
Es finden sich wirkliche Widersprüche gleichzeitig und später in deutschen Gedichten, bei denen die Möglichkeit vollständig ausgeschlossen ist, dasz sie aus verschiedenen Quellen entnommen seien, oder dasz mehrere an ihnen gearbeitet haben. Und nicht blosz in deutschen Gedichten begegnen Widersprüche. Die lateinischen sind nicht frei davon. Nicht selten wird in ihnen erzählt, was mit dem Stoffe, den sie eigentlich behandeln, nur in losem Zusammenhange stelit. Episoden sind manchmal so erweitert, dasz der Hauptgedanke in den Hintergrund tritt. Zwei Themata sind in einander verarbeitet. Man vermiszt auch noch im zwölften Jahrhundert nicht selten eine streng logische Gliederung der Gedanken. Gleiches wird mit ähnlichen Worten zweimal gesagt. Es finden sich unvermittelte Übergänge. Überall wird auf Vorhergegangenes zurückgegriffen und Nachfolgendes voraus erwähnt. Die deutschen Dichter konnten doch nur anwenden, was sie aus den lateinischen Vorbildern gelernt hatten. Warum sollte also in ihren Gedichten nicht vorkommen, was in den lateinischen fortwährend begegnet? Man kann bei den wenigen, die deutsch dichteten, doch nicht voraussetzen, was bei den vielen, die lateinisch schrieben, nicht stattfindet. Warum sollten sich diese lateinisch gebildeten Menschen anders ausgedrückt haben, wenn sie einmal deutsch schrieben? Unser reflektierendes Zeitalter hat bei lateinischen wie bei deutschen Gedichten oft das Gefühl, dasz etwas zugesetzt, ausgelassen, verstellt sei. Die damalige instinktive Welt empfand in keiner Weise diese mitunter höchst auffälligen Erweiterungen, Unterbrechungen, Unordnungen. Ja sie gehören so sehr zum Wesen der damaligen Ausdrucksweise, dasz es auffallen müszte, wenn sie sich einmal nicht fänden.
Johann Kelle, Geschichte der Deutschen Litteratur, Zweiter Band, 1896.