De nieuwe tijd.
Das mir auffallendste Zeichen dieses nenen Geistes, den ich als in späten Jahren noch neu in mich eindringendes Element beobachte, ist die Abneigung, ja Unfähigkeit, in die Erforschung des menschlichen Daseins früherer Jahrhunderte heute noch so mich zu vertiefen, wie ich in früheren Jahren gethan. Was hinter dem Beginne dieses Jahrhunderts liegt, hält, wie von Mattigkeit befallen, mich nicht mehr fest. Nicht ich allein mache diese Erfahrung, auch Andere, in vertrauten Gesprächen, gestehen sie als die ihrige ein...
Es ist mir zuweilen, als sei man in ein neues Dasein versetzt und habe nur das nöthigste geistige Handgepäck mitgenommen. Als zwängen völlig veränderte Lebensbedingungen zu völlig neuer Gedankenarbeit. Denn Entfernung ist nichts mehr, was Menschen trennt. In spielender Leichtigkeit umkreisen unsere Gedanken den Umfang der Erdoberfläche und fliegen von jedem Einzelnen zu jedem Anderen, wo er auch sei. Die Entdeckung und Ausnutzung neuer Naturkräfte vereinigt sämmtliche Völker zu unablässiger gemeinsamer Arbeit. Neue Erfahrungen, unter deren Drucke unsere Anschauung alles Sichtbaren und Unsichtbaren in ununterbrochenem Wechsel sich ändert, drängen uns auch für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit neue Betrachtungsweisen auf. Die in bedeutenden Menschen verkörperte Kraft suchen wir auf ihre reine Leucht- und Bewegungskraft zu priifen und anders als bisher in ihrer individuellen Erscheinung zu begreifen und darzustellen......
Auf die Gegenwart concentrirt sich meine geistige Arbeit. Sie verstehe ich, weil sie lebt. Selbst Goethe gilt mir nur insoweit noch, als er in und für uns heute fortlebt, und der ‘junge Goethe’ insoweit, als er den ‘alten Goethe’ verständlich macht. Es musz in der geistigen Weltatmosphäre sich etwas verändert haben, dasz die früheren Jahrhunderte heute zu verblassen beginnen. Was nicht lebt und sich bewegt, ist todt.
Herman Grimm, Deutsche Rundschau, Mai '95.