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Ueber die Liebe
Von Emil Lucka
(Slot)
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Wie kommt es eigentlich, dass wir, wenn das Wort ‘Liebe’ fällt, zuerst oder sogar ausschliesslich an die Liebe zwischen Mann und Frau denken, als ob sie allein Liebe wäre und nicht anderes? Der Mensch ist weder ganz Seele noch ganz Leib, er stellt vielmehr eine unlösbare Einheit von Leiblichem und Seelischem dar, und die Geschlechtsliebe allein vermag diese Einheit in Schwingung zu setzen. Nur sie ist Sehnen der Seele und Trieb des Leibes zugleich. Vaterlandsliebe, Menschenliebe, Naturliebe, Gottesliebe ruhen fast nur im Seelischen, das hier seinen höchsten Gipfel erreichen kann; wir Menschen einer misstrauischen und psychologisch geschulten Zeit wollen freilich nicht so durchaus glauben, dass die Gottesliebe ganz im seelischen Kreise verharrt, wir argwöhnen, dass sie ihre Ausstrahlungen ins Leibliche sendet, und haben überhaupt ein gewisses Misstrauen gegen rein seelische Gefühle, ein Misstrauen, das meistens berechtigt sein wird. - Wo wiederum einseitige Begierde des Leibes zur Vereinigung besteht, sprechen wir, auch wenn sich diese Begierde nur auf eine bestimmte Person bezieht, nicht von eigentlicher Liebe, sondern von Sinnlichkeit, und schalten auch diese Sphäre gern von der wahren Liebe aus. So kommt es denn, dass uns die seelisch-sinnliche Liebe
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zwischen Mann und Frau, völlige Hingabe des einen Menschen an einen anderen, als die einzige wahre Liebe gilt, dass wir geneigt sind, alles andere nur für Nebenformen gelten zu lassen, wenn nicht gar als Entgleisungen zu entwerten. Nur diese eine Liebe geht ja von der menschlichen Einheit, die nun einmal seelisch-sinnlich ist, auf eine andere menschliche Einheit, und wieder zurück, und erfüllt so das Bedürfnis nach Auflösung eines ganzen Menschen in der Gemeinschaft mit einem anderen ganzen Menschen.
Vielleicht ist dem einen oder dem anderen mein Buch ‘Die drei Stufen der Erotik’ bekannt, und er findet nicht gleich den Zusammenhang des eben Gesagten mit dem dort Niedergelegten. In diesem Buche habe ich die Sinnlichkeit als die Form der Erotik aufgestellt, die zuerst in der Menschheit erscheint, die zweite Stufe ist die seelische Liebe, die unsinnlich ist, und in sich selbst beruht, und endlich die dritte Stufe die Vereinigung beider verschiedenartiger Elemente zur seelisch-sinnlichen Synthese, zur modernen Liebe. - Will ich nun heute dies letzte allein als die eigentliche Geschlechtsliebe gelten lassen? Die Sache erklärt sich einfach: Ich habe dort eine Geschichte des Liebesgefühles in der Menschheit zu geben versucht, jetzt aber interessiert mich das Historische nicht, sondern nur das, was wir heute als wahr und lebendig empfinden. Und für uns Menschen der Gegenwart ist das die dritte Stufe der Erotik, die Einheit seelischer und sinnlicher Liebe. Die Sexualität äfft Geste und Gefühl der echten Liebe im Körperlichen nach, ersehnt Vereinigung wie jene, aber ihr fehlt die metaphysisch-übersinnliche Weihe, die den geliebten Menschen zum Symbol des Kosmos wandelt. Denn für den wahrhaft Liebenden ist der Geliebte Stellvertreter der Welt. In ihm ruht alle Schönheit und alle Vollkommenheit beschlossen, in ihm ist
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zum Höhepunkt gesteigert, was in der Welt Wert und Bedeutung hat. Das ist ja der Gemütszustand des wahrhaft Liebenden, und er geht nicht irr, er ist nicht das Opfer einer Täuschung, in seinem Gefühl hat sich wirklich die Vereinigung seines Ich mit der Welt vollzogen, die durch den geliebten Menschen vertreten ist. ‘Selbst dann bin ich die Welt’. (Tristan und Isolde). Nichts Fremdes ist geblieben, die Welt ist in die Vereinigung dieser beiden eingegangen, alle Sehnsucht des Daseins hat sich erfüllt, Vereinzelung und Angst sind geschwunden, in der höchsten Extase ist ein neues Sein, ein Bewusstsein höherer Ordnung angezündet worden ohne ich, ohne du, gesühnt ist die Erbsünde in der höchsten Liebe, das Bewusstsein der Menschheit ist nicht mehr vielfach zerspalten, Einheit alles Seienden ist geschaffen. Könnte dieser Zustand dauern, so wäre die Welt vom Fluche erlöst, jede Tragik aufgehoben, Vollkommenheit und Harmonie eingetreten.
Aber die Extase weicht. Und wenn die Liebenden nicht im höchsten heroischen Aufschwung des Liebestodes ihr Sonderdasein enden, so fallen sie wieder in zwei Menschen auseinander, wenn auch erhöht und gestärkt, durch die schmerzhafte Glut der Vereinigung hindurchgegangen. Wäre freilich echter Liebestod möglich, dann hätten diese beiden die Tragik des Menschenseins vernichtet, wären aus einer natürlichen Zweiheit zu einer übernatürlichen Einheit geworden. Hier muss man verstummen.
Eine Wechselwirkung besteht zwischen Liebe und Schönheit und sie wird am allerstärksten den Liebenden fühlbar. Der Kreis ist unauflöslich: Das Schöne wird geliebt, das können wir leicht begreifen, aber auch das Geliebte wird schön. Wie diese beiden Gewalten Schönheit und Liebe zusammenhängen, das ist über Menschenverstand, und was man darüber vermuten
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könnte, wäre unzulänglich. Der Mensch, der von Schönheit oder von Liebe ergriffen wird, - meistens beides untrennbar geeint -, erfährt ganz jäh das Bewusstsein des Unvergänglichen im Vergänglichen. Das ist aber wieder Erhöhung seiner selbst in eine andere Sphäre, Fühlung kosmischen Zusammenhangs.
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Wenn ein Mensch niemals in irgend einer Form Liebe erfahren hat, oder noch mehr, wenn er im Aufflammen seines echtesten Gefühles zurückgestossen und missachtet worden ist, dann wird er leicht in Isolierung und Verschlossenheit hineingedrängt, verliert immer mehr jeden Zusammenhang mit dem Leben der Welt und den anderen Menschen. So einer wird oft ganz und gar egoistisch, boshaft und voll mit Menschenhass. Hass ist das der Liebe entgegengesetzte Gefühl, ist ein sich Zusperren gegen den Zusammenhang mit den Menschen und mit der Welt. Der Hassende vergräbt sich immer mehr in sich selbst, ohne doch meistens sich selbst zu lieben - er baut immer höhere Wälle um sich auf. Er pflegt und nährt seinen Hass, er liebt ihn sozusagen, und er ist geärgert und beleidigt, wenn er durch irgend etwas aus seiner Isoliertheit herausgerissen wird und seine feindselige Stellung mildern oder aufgeben soll. Eigentlich böse ist die endgültige Verhärtung und Absonderung einer Seele, die sich um und mit Hass gewappnet hat; das schwächere Wort boshaft meint nicht so sehr prinzipielle und radikale Ablehnung jedes sympathischen oder Liebesgefühles, sondern mehr die durch den Mangel an Liebe eingetretene bittere Gemütsstimmung. Menschen, die wegen ihrer abstossenden Hässlichkeit oder aus anderen Gründen ihr Bedürfnis nach Liebe niemals stillen konnten, pflegen, wenn
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ihnen nicht ein Schatz innerer Güte zu Gebote steht, verbittert und boshaft zu werden; sie können den Schmerz und den Neid nicht überwinden, wenn sie anderen reichlich gewährt sehen, was sie selbst entbehren müssen.
Wird ein Mensch, der in Bitterkeit und Hass lebt, einmal zu seinem eigenen Schrecken und gegen seinen eigenen Willen vom Aufflammen der Liebe überrascht, so kann eine so tiefe Umwandlung in ihm geschehen, dass ihr nichts anderes im Seelenleben gleichkommt. Es gibt wahrscheinlich keinen grösseren Umsturz als den jähen Uebergang vom Hass zur Liebe. In einem geringeren Grade zeigt diesen Uebergang jeder Akt des Verzeihens. Da wird alles Hassende und Feindselige, das sich gegen einen Menschen gekehrt hat, weggeschafft und vertilgt, der Wall wird abgetragen und der Zusammenhang der Liebe in die Seele eingesetzt. Wer wahrhaft verzeihen kann, der ist der echten Liebe fähig, die alle Grenzen aufhebt und zur Einheit führt.
Hass ist der positive Gegensatz der Liebe - wenn man überhaupt von einem positiven Gegensatz der Liebe sprechen könnte. Denn obgleich der Hass für die Feststellung des seelischen Bestandes ein tätig Wirksames, ein Positives also, bedeutet, für die höhere Betrachtung ist doch nur die Liebe positiv und schöpferisch, was ihr widerstrebt, ist Negation ihres Wesens und ihrer Kraft und bedeutet daher eine Verneinung. (Dieser Gedankengang führt unmittelbar in eine der tiefsten und wichtigsten Entscheidungen hinein: ob nämlich das Böse eine positive Macht ist oder nur die Verneinung des Guten, ob die Welt-Konstruktion des Passismus die richtigere ist oder die des Christentumes). Doch es gibt noch eine andere Negation der Liebe, die Negation, die aus der Entbehrung der Liebe entsteht: Die Angst.
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Bei manchen jungen Menschen stellt sich eine unerklärliche Angst ein, Angst, dass man für immer zur Einsamkeit verurteilt, ausgeschlossen sein könnte aus der Gemeinschaft der Liebe, dass man in seiner Vereinzelung erfrieren müsste und gänzlich verloren gehen. Das ist auch, aufs höchste gesteigert, die Angst vor dem Tode. Man besitzt nichts als sein Ich und das hat sich nicht hingeben können an höheres Leben, nun muss es verstäuben und verwehen. Menschen, die sich in völliger Liebe einem Höheren anvertraut haben, fürchten den Tod nicht. Von gleicher Art ist die Angst, ausgeschlossen zu sein dem ewigen Kreis der Liebe und des Lebens. Der Hass wendet sich aktiv gegen jeden Zusammenhang, bekämpft ihn, will Vereinzelung - und kehrt sich noch gegen sich selbst, indem er das eigene Ich anfrisst und lähmt. Die Angst bittet um Liebe, und sie wird nicht gewährt. Ueber ihre beiden Verneinungen kann die Liebe siegen, sie gibt Trost und Gewissheit, dass das Vereinzelte aufgenommen wird ins Ganze. Dann schwindet die Angst, dann kann es auch geschehen, dass der Hass erweicht wird und sich löst (wie im Epilog von Dostojewskis Raskolnikow, wo plötzlich alle von Hass und Eigensucht aufgerichteten Dämme unterm Anhauch der Liebe hinschmelzen). Alle diese seelischen Vorgänge sind in den verschiedenen Lehren der Theologie von Gottesliebe, Sündenangst, Verstocktheit, teuflischem Hass und anderem ins System des Christentumes hineingenommen worden.
Schwerer als für den Mann ist für die Frau Entbehrung der Liebe zu tragen. Die Frauen leiden noch mehr, wenn sie von jeden Zusammenhang, von der seligen Lösung in einen anderen Menschen ausgeschlossen sind. Der Mann, der ohne Liebe durchs Leben gegangen ist, pflegt nicht selten kalt und selbstsüchtig zu sein, aber meistens hat er doch Anschluss an
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irgend etwas Objektives gefunden, gibt sich seiner täglichen Beschäftigung hin, er vergisst sich über seiner Arbeit oder er hat eine Liebhaberei erkoren. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass den Frauen dieser Ersatz im Objektiven nicht genügt und auch nur selten gelingt. Jeder kennt den Typus der Frau, der niemals Liebe empfangen noch gegeben hat, man weiss, dass diese Frauen von Grund aus unglücklich sind, gepeinigt vom Bewusstsein eines verfehlten Lebens. Sie hängen im Leeren, werden ohne Halt hin und hergeweht. Ich will nicht weiter davon sprechen, wie solche beiseite geschobene Frauen Ersatz für Liebe suchen, wie sie sich manchmal an lächerliche Geschöpfe und Dinge verschwenden oder sich im Dienste einer Idee zu vergessen suchen.
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In Goethe ist zuerst die Liebe zum erscheinenden All, zur Natur, ganz lebendig und wirksam gewesen. Er ist im Lauf seines Lebens der Natur immer näher gekommen, schauend, sinnend, erkennend, hat alle ihre Bereiche durchwandert und sich einverleibt. Sommernächte sind gewesen, wo er sich nicht vom Leben der Erde und von den Gestirnen lösen konnte, er hat, ohne äusseren Grund, im Freien geschlafen - als Erster! (wie Petrarca als erster Mensch ohne einen äusseren Grund auf einen hohen Berg gestiegen ist). Weil Goethe ein Liebender im höchsten Sinn gewesen, hat er auch die Gegenliebe der Natur empfangen, sie hat ihm treue Organe verliehen zum Schauen und zum Erkennen. Das Verhältnis Goethes zur Natur entspricht der liebenden Hingabe des Mystikers an die Gottheit, die ihn mit ihrer Gegenliebe lohnt, im tiefsten ist Gemeinschaft, wenn auch alles Sichtbare und Scheinbare in verschiedenen Kreisen abrollt. Und wenn der alte Goethe plötz- | |
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lich das Verlangen spürt, ‘sich wieder mit den Urelementen zu befreunden’ und von den Menschen zu den Steinen hinabsteigt, so ahnen wir die grosse heilige Liebe, ahnen wir, dass die Menschheit auf ihrem höchsten Gipfel wieder ins Leben der Natur eingeht - um aus ihr noch grösser und noch reifer hervorzutreten. Da ist mythisches Fühlen gleichwie bei einem Zauberer der Vorzeit.
Ich habe schon gesagt, dass jede starke Kulturepoche eine Form der kosmischen Liebe aus sich herausgebiert: Das Griechentum die Schönheitsliebe, das späte Mittelalter die Gottesliebe, die Zeit der Aufklärung die Menschenliebe, unserer Zeit aber, und das dürfen wir am Vorbild Goethes erkennen, ist die Liebe zur Natur bestimmt. Sie äussert sich auch als Erkenntnis der Natur und die hat einen Nebenweg urbar gemacht, der sich fast hundert Jahre lang als wichtigster, manchmal als einziger behauptete. Aber den immer abstrakter und mathematischer werdenden Methoden der Naturwissenschaft ist die Liebe ganz fern; nur der Anschauung, dem unmittelbaren Erlebnis, nicht der abstrakt-gedanklichen Forschung entkeimt die Liebe zu dem in Schönheit erscheinenden All.
Zum Schluss will ich ein wenig von der Allgemeinheit und Zeitlosigkeit der Darlegung abgehen und einen Blick auf die Menschen unserer Zeit und auf ihre Liebe werfen. Dieser Blick ist nicht allzu erfreulich. Wir werden immer mehr von den anonymen Mächten der Technik und der Gesellschaft unterjocht, immer weiter in Teile aufgefasert, bei dem einen wird die eine Fähigkeit bis zum äussersten ausgebildet, während alle anderen verkümmern, bei dem anderen eine andere. Diese hoch getriebene Arbeitsteilung ist charakteristisch für unsere Zivilisation, sie formt die Menschen von heute wie keine andere Macht; jeder muss an seiner Ecke stehen
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und Tag für Tag seinen Handgriff tun - hämmern, rechnen, Akten schreiben, durchs Mikroskop schauen, Prozesse führen, politische Reden halten - immer dasselbe. Je mehr Menschlichkeit in einem steckt, desto mehr leidet er unter diesem Zwang. Die Vereinzelung, die sich in der Tatsache einer in Individuen zerspaltenen Menschheit ausdrückt und die wir als die Urtragik und das Urleid verstanden haben, spitzt sich im Zeitalter der Zivilisation noch einmal zu erschreckender Enge zu: nicht nur, dass ich der eine Mensch bin, der seine Anlagen, seine Neigungen, seine körperliche Konstitution, seine gesellschaftliche Stellung zu tragen hat; ich muss auch noch den grösseren Teil meiner Tage immer eines, immer dasselbe tun! Und doch wäre es fatalistische Tatsachen-Anbetung und Götzendienst vor der Naturwissenschaft mit ihren Gesetzmässigkeiten, zu behaupten, dies müsste so sein und nach historischen Analogieschlüssen den Untergang des Abendlandes zu verkünden. Unser Tiefstes weiss, dass es nicht so sein muss. Es sind auch gegen den Dämon Zivilisation, der die menschliche Einheit zerstört, gegen das notgedrungene Spezialistentum hundert Mittel und Mittelchen ersonnen worden, von der trivialsten Zerstreuung nach der Arbeit wie Kartenspiel und Einschlingen von Tagesneuigkeiten hinüber zum Sport, der wenigsten einen körperlichen Ausgleich bietet, zu künstlerischen Bestrebungen jeder Art und vielem anderen. Nie hat es eine Zeit gegeben, die die Einheit und Ganzheit schaffende Macht der Liebe hoch gehalten hat wie unsere. Die Menschen schreien nach Hilfe, nach Seelenrettern und Heilanden. Geängstigte, jedes Haltes Beraupte, die sich nicht in die Geschlechtsliebe retten können, hunderte, die dem wirren Getriebe, dem Durcheinander-brüllen der Schlagwörter nicht gewachsen sind, greifen nach allem, was ihnen geboten wird, seien es
Träume
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von Gerechtigkeit und ewigem Frieden oder Geheimlehren oder sie finden reuig ins Tor der Kirche zurück. Mysteriöse Verheissungen kommen der Herrlichkeit und kommenden Heiles werden von Erleuchteten und Erweckten, von leibhaftigen Profeten ausgerufen. Es hat zu jeder Zeit Privatheilande und Seelenfänger gegeben, aber niemals so viele wie heute, wo die Menschen gequält und ohne Hilfe sind. Das Meiste, was auf diesen heute so bettelbreit gewordenen Strassen wandert, ist enttäuschte und hungernde Liebe, die Zusammenhang um jeden Preis gewinnen will, sei es mit Geistern von Verstorbenen, sei es mit höheren Welten, deren Geographie aufgezeichnet wird. So ist man doch nicht mehr verloren und vereinsamt in der kalten feindlichen Welt, man ist nicht ein elendes vereinzeltes Körnchen, sondern Glied im Reich der Erweckten und Erlösten. Auf die Psychologie der Führer ist hier nicht einzugehen, wir wollen annehmen, dass sie allesamt von ihrer Sendung überzeugt sind, jeder von der seinigen. Gross ist ja die Suggestionskraft, die eine starke und zielbewusste Männlichkeit auf schwankende Frauen und auf passive Männer übt.
So wird die Sehnsucht vieler Menschen nach Zusammenhang und Ganzheit auf unklare und auf krumme Wege geleitet. Andere jedoch lassen sich in ihren natürlichen Gefühlen nicht beirren, hoffen nicht auf besondere Offenbarungen, sodern suchen die Liebe, die unserer Zeit so angemessen ist wie die mystische Gottesliebe dem 14. Jahrhundert: Die Liebe zur Natur. Mehr und mehr bricht die Erkenntnis durch, dass sich uns in der Natur das grosse Leben der Welt in Sichtbarkeit und Schönheit offenbart, dass wir nicht in magischen Zirkeln mit Hingabe der Nervenkraft und der Urteilskraft suchen müssen, was taghell vor aller Augen liegt. Jeder Garten am Rande der Stadt ist ein rührendes
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Zeugnis der Liebe, die sich des rechten Wegens bewusst ist. Es werden ja nicht nur Kartoffel gebaut, sondern auch Blumen, man will ja nicht nur eine Beschäftigung für seine freie Zeit haben, sondern auch Luft atmen und den Himmel über sich fühlen. Die hier arbeiten und die anderen, die hinausfahren, wann immer sie nur können, ahnen, dass sie so die wahre Ergänzung ihrer Zerrissenheit, den Anschluss ans höhere Leben finden werden. Wenn ich mich an die Türen stelle, wo die Jüngerinnen und die Jünger der Okkultisten, Anthroposophen, Urchristen und sonstigen Seligkeitsverkünder aus verfinsterten Räumen treten, lese ich auf den Mienen, wenn nicht heimliche Enttäuschung: Hochmut des Adepten, sehnsüchtige Frage nach dem Wunder, das sich nicht erfüllt, hysterische Verzückung; niemals hat dort eine Seele wirklich zum Frieden gefunden. Die Menschen aber, die aus der Natur kommen, mögen sie auch noch so sehr dem Sportteufel verfallen sein, haben Kraft und Fröhlichkeit gewonnen. Der Blick vom Gipfel löscht für eine kurze Zeit auch im stumpfsten Rekordgehirn die Ziffern aus.
Wir stehen ja erst bei Anfängen, aber wenn es überhaupt eine Rettung vor der menschenfressenden Zivilisation gibt, so liegt sie nicht im Bibellesen und nicht im vorwitzigen Trachten nach überirdischer Erleuchtung, sondern in der Liebe. Parallel dem Anwachsen von Arbeitsteilung und seelischer Vereinsamung wächst das Bedürfnis nach dem Heilmittel. Von den wenigen Einzelnen, die gleich den grossen Mystikern früherer Zeiten in unmittelbarer Ergriffenheit die Gottheit ahnen, ist nicht zu sprechen. Auch andere, Zweifelhaftere mögen ihre besonderen Extasen haben, meinetwegen soll alles wahr sein, was die verschiedenen Ueberwisser lehren. Aber für die Vielen, die in ihrer Seelenangst um Rettung aus Dumpfheit und Enge flehen, für die sind das
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verderbliche Locklieder; oft erst nach Jahren, nach verlorenen Jahren kommen sie darauf, dass man ihnen Steine für Brot gegeben hat. Der Weg, der dem Menschen von seiner untrüglichen Seele gewiesen wird, was immer er sei, wie immer er denke, ist nur einer: Der Weg der Liebe. Wer in der Geschlechtsliebe zur Ruhe gekommen ist, weiss es; doch auch die anderen mögen in der Richtung gehen, die ihnen die Seele selber weist; vielleicht findet einer im liebenden Dienst der Menschheit den Frieden oder in der Liebe zu einer Landschaft. Ich rede nicht von Geheimnissen, die dem Jünger erst nach langem harten Dienst entschleiert werden sollen, sondern von Dingen, die offen zutage liegen und um die doch gerungen werden muss. Die Grössten unserer Zeit sind voraus geschritten, jeder kann ihnen folgen.
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Das Verhältnis, das sich der Mensch zur Welt gewinnen kann, hat in der Liebe seine letzte Formung gefunden. Die Liebe im weitesten Sinn löst für das Fühlen das objektive Problem des Menschen: wie steht der eine zum All, wie verhält sich das Einzelne zum Ganzen? Und die Liebe offenbart dem Gefühl nichts anderes als was die weisesten Menschen, die unbekannten Verfasser der Upanischaden, Eckehart, Goethe als ihre letzte Einsicht verkündet haben: Einzelseele, geh hin zur Allseele! Weltseele, komm mich zu durchdringen! Oder wie es Christus ausspricht: Ich und der Vater sind Eines. Geschaffen wird das Grosse aber nur aus der Seele des Menschen, und es vollbringt sich unmittelbar in der Liebe.
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