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Fjedor Dostojewskis Bedeutung fuer die gegenwaertige Kulturkrisis
Von Paul Natorp, Prof. an der Universität Marburg
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Wenn ich zu Ihnen reden will von Fjedor Dostojewskis Bedeutung für die gegenwärtige Krisis der abendländischen Kultur, so ist damit schon gesagt, dass es mir jetzt nicht zu tun ist um Dostojewski als Schriftsteller. Ich bin nicht Literat, und Dostojewski ist weit mehr als nur das. Ich verstehe nicht Russisch: schon das wäre verhängnisvoll, wenn es gälte ihn als Schriftsteller zu kennzeichnen und zu würdigen. Aber Dostojewski wollte nicht bloss für Russland geschrieben haben, sondern für die Menschheit. Er wollte, in allem, worauf es ihm wesentlich ankam, schlicht als Mensch zum Menschen gesprochen haben, in keiner Sprache, die nicht, wenn es sein könnte, jedem verständlich wäre.
Meine Haltung zu ihm wird auch nicht die des Psychologen sein. Ich bin es nicht, oder nur sehr nebenher, aber auch Dostojewski ist es nicht, seiner wesentlichen Absicht nach; er hat sich mehr als einmal nachdrücklich in diesem Sinne ausgesprochen. Wohl ist er ein Seelenkundiger und ein Seelenkünder hohen Ranges; er ist wie kaum ein zweiter hinabgetaucht in Tiefen der Menschenseele, die keiner vor ihm ermessen hatte. Aber seine eigene Haltung ist nicht die des psychologischen
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Beobachters und Ergründers. Nicht das lebendige Leben der Lebensunmittelbarkeit zu entreissen, es unter ursachliche oder sonstige Kategorieen und Gesetze zu zwingen, nach solchen in Klassen zu ordnen, berechenbar und bestimmbar, beherrschbar zu machen, ist seine Absicht. Nicht irgend welche Logisierung des Psychischen ist bezweckt (und nur das wäre im eigentlichen Sinne Psycho-logie), sondern viel eher umgekehrt möchte er, was sonst unter logischen, ethischen, ästhetischen, religiösen Kategorieen aufgefasst wird, zurückversetzen in die Unmittelbarkeit, in die volle Individuität, das heisst wörtlich Ungeteiltheit, Unteilhaftigkeit des lebendigsten Lebens der Psyche. So aber zielt sein Ergründen und Darstellen des Menschen - und nur mit dem Menschen hat er es zu tun - stets auf ein und dasselbe Letzte: das unzerstückte Ganze des Menschseins. In allen seinen Einzelphasen, durch sie hindurch, sucht und sieht er nichts andres als dies, erkennt es darin zugrundeliegend und durch alles durchscheinend. Er sieht es im Schlichtesten, scheinbar Aeusserlichen, Alltäglichen, Gemeinen, Niedrigen nicht minder, sondern fast mehr als im Seltenen, Eigengearteten, Hochhervorragenden, im kaum zur Oberfläche Dringenden, Innerlichsten, Eigensten. Einem Goethe ist es bewusst, dass alles Vergängliche, Sichtbare oder sonst von aussen her Erfassliche nur Gleichnis ist eines Unvergänglichen, Unsicht-und Ungreifbaren, wie er sagt ‘Unzulänglichen’, darum Unbeschreiblichen; bei Dostojewski scheint es im Gegenteil, als ob in allem noch so Flüchtigen, Oberflächlichen, daher jedem Geläufigen,
alltäglich Gewordenen das Ewige nicht etwa tief verborgen, sondern dem einmal dafür hellsichtig gewordenen Auge offen zu Tage liege und nur beachtet und herausgehoben sein wolle. Seine Menschenzeichnung will daher streng unterschieden sein von
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allem im gewöhnlichen Sinne Realistischen und etwa Impressionistischen, das man bei ihm hat finden wollen. Sie hat damit nur eine oberflächliche Aehnlichkeit. Man bestaunt die psychologische Treffsicherheit Dostojewski'scher Zeichnung des Menschen in jedem Stadium etwa der Trunkenheit, der Liebesraserei, der epileptischen Ekstase, des Traums und des unbewachten Wachlebens, der Halluzination, der geistigen Umnachtung und Verkrampfung jeder Art, der Sünde in jeder Gestalt bis zur losgelassenen Wut des Verbrechens, und dann wieder der reinen Ursprünglichkeit der unberührten Kindesseele, der Knaben- und Mädchenstimmung in den Jahren der Reifung - aber auch der politischen und sonstigen Massensuggestion, im Feinsten des unmittelbaren Hin-und Herüberwirkens im Gespräch und allem wechselbezüglichen Handeln. Gewiss spricht er dabei oft genug Selbsterfahrenes aus; doch empfindet man, es brauchte von dem allen so gut wie nichts ihm draussen im Leben oder bei sich selbst begegnet zu sein, sondern alles fliesst ihm aus den Tiefen einer Innenschau; es ist, gerade in allem Letzten und Wesentlichen, ‘expressionistisch’ vielleicht mehr als das meiste von dem, was sich als aus letzten Innengründen hervorbrechend gibt. Es ist, am fühlbarsten auf den Höhepunkten seiner Darstellung, etwas wie prophetische Vision, was sich da ausspricht. Es ist nicht bloss er, Dostojewski, der das alles wie im Wachtraum erlebt und nun heraussprudelt, sondern es ist der Mensch, der ewige Mensch, der das alles, durchaus nicht traumhaft sondern in wachster Wirklichkeit, lebt, tut,
leidet und darum aussprechen muss, nur für diesmal gerade ihn sich zum Sprachrohr gewählt hat. Es ist das eine, ewige Ganze des Menschseins, das sich darin, hellsichtiger als sonst, selbst erfasst und sich selbst davon Rechenschaft gibt. Darum ist Dostojewskis Darstellungsart objektiv
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in einem äusserst selten sonst erreichten Grade; sie hat nichts von dem Subjektivismus der Romantik. Karl Nötzel kennzeichnet in andrer Hinsicht (davon wird noch zu reden sein) Dostojewskis Haltung durch das Merkmal der ‘Voraussetzungslosigkeit’; es trifft ganz auch im eben umschriebenen Sinne zu, im Sinne der unbedingten Nichtvoreingenommenheit durch eigene Stimmungen und Erregungen oder durch irgend eine ihm voraus feste Stellungnahme sei es theoretischer Ergründung oder ethischer oder künstlerischer Forderung oder religiöser Ausdeutung und Wertung. Es ist eine so reine Selbstdarstellung des Menschen, des ewigen Menschen, wie sie nicht leicht sonstwo zu finden ist.
Es war dies deshalb so stark und in einer für manchen vielleicht nicht nötigen Ausführlichkeit auszusprechen, weil es nicht allgemein erkannt zu sein scheint, dass genau in dieser Eigenheit Dostojewski'scher Darstellung die Bedeutung wurzelt, die dieser Romanschreiber für uns hat. ‘Für uns’, das will sagen: für die gegenwärtige Weltwende, für die tiefgreifende Krisis der sich so nennenden ‘Kultur’, die, in der Menschheit des Abendlands schon seit einigen Jahrhunderten vorbereitet, jetzt nahe vor dem Punkte steht, wo der Umschlag erfolgen muss. Hat davon Dostojewski ein Bewusstsein gehabt? Ich glaube ja. Er hat den schon nicht mehr aufzuhaltenden Einsturz des babylonischen Turmes bestimmt vorhergesagt. Er sieht schon im Geiste die Ströme Blutes, durch die die europäische Menschheit zu waten haben, in denen sie, wie bisher im Alkohol, ihre Angst und Qual zu ersticken suchen werde. Den allzu getrosten Glauben an den sicheren Aufstieg der Menschheit dank dem unaufhaltsamen Siegeszuge der Wissenschaft und Technik der Naturbeherrschung und der damit notwendig zugleich wachsenden Weis- | |
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heit wirtschaftlich-politischer wie volkserzieherischer Organisation - diesen stolzen Glauben hat Dostojewski nicht gehegt. Den Traum eines, sei es in aller Stille gleich dem Sonnenlicht vor Tag unmerklich aber sicher heraufrückenden, oder allenfalls in einem kurzen Gewittersturm sich durchkämpfenden leuchtenden Tages der Menschheit im brüderlichen Verein der Völker und Volksklassen, einer daraus erfolgenden gänzlichen
Abstellung oder doch beträchtlichen Linderung der namenlosen physischen, geistigen und sittlichen Nöte nicht bloss einzelner Schichten sondern aller, in selbst-verständlicher gegenseitiger Hilfe und sittlich-rechtlicher Gleichachtung aller, die Menschenantlitz tragen; der nahen Erfüllung der evangelischen Verheissung Ehre Gottes in der Höhe, Frieden der Menschheit auf Erden dank dem guten Willen aller gegen alle - diesen schmeichlerischen Traum hat Dostojeswki entweder nie geträumt, oder er ist aus ihm sehr bald wieder jäh erwacht. Die Zustände gerade der russischen Menschheit, die in schwersten eigenen Schicksalen ihm in nur zu greller Deutlichkeit vor Augen traten, die Unbestechlichkeit seines nichts fraglos hinnehmenden und an nichts bloss von aussen her seine Fragen richtenden Wahrheitsgewissens machte es ihm unmöglich, sich in solch schöne Träume zu wiegen. Aber auch die fröhliche Tatbereitschaft eines Maxim Gorki ist ihm fremd. Wohl teilt er ganz mit diesem die innige Ueberzeugung von dem unzerstörlichen Kern des Guten in dem auch von ihm heiss geliebten russischen Menschen, in all seiner Verkommenheit und schier unglaublichen Chaotik. Nicht zu ertöten ist in ihm der Glaube an die hohe Berufung, an die unverwüstliche Jugendkraft dieses von den verhängnisvollen Irrungen des Westens nur an der Oberfläche berührten, immer doch natur- und gottnah verbliebenen Volks. Aber seine Hoffnung stützt sich
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auf ganz und gar nichts Aeusseres. Alle noch so fein erklügelten äusserlich gesetzlichen, organisatorischen Massnahmen würden den Menschen eben nur von aussen umschliessen; an seine Seele reicht nichts heran, als was, aus der Seele des Mitmenschen geboren, sie zu ergreifen und von innen her zu wandeln vermag. Nicht die edelsten Kräfte des begreifenden Verstandes, des entschlossenen Tatwillens, nicht die erhabensten bloss menschlichen Schöpferkräfte sind dem bis tief in sein Innerstes gedrungenen, schliesslich sittlichen Verderb des Menschen gewachsen. Nur aus der gemeinsamen letzten, innersten Wurzel des Seelenlebens, aus dem tief in es versenkten Saatkorn des Göttlichen in ihm kann das Heil ihm erwachsen; einzig dann würde der Mensch auch seinem äusseren Leben die Form zu finden wissen, die seinem innern Wesen gemäss ist und dem zarten doch unzerstörlichen Saatkorn den nötigen Schutz auch nach aussen zu bieten imstande ist. Nicht die Kultur Altindiens, Chinas, Griechenlands, des abendländischen Mittelalters hat den altindischen, chinesischen, griechischen, mittelalterlichen Menschen, sondern nur dieser Mensch hat diese Kultur schaffen können. Und nicht ursprünglich aus den Kräften des Intellekts und des Willens, selbst nicht aus der beiden überlegenen und schliesslich gebietenden Schöpferkraft der freien Gestaltung, jener von Goethe hochgepriesenen ‘stolzen Gewalt der Formung’ (vis superba formae), sondern allein aus dem letzten, tief verborgenen göttlichen Grunde der Menschenseele heraus ist je der
Mensch, ist der Gott im Menschen erwacht, hat dann erst jene in sich reichen und wertvollen aufbauenden Kräfte des Menschentums in seinen Dienst genommen und ihnen die menschliche, die gottmenschliche Seele eingehaucht.
Doch wenn man nun diese Antwort ernster durchdenkt,
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so findet man sich bald in noch tiefere Gründe zurückgewiesen. Welches denn ist die innerste seelische Kraft, von der wir sprachen, im Unterschied von jenen, für sich gewiss auch hohen und heiligen Kräften des Menschtums? Der Unterschied ist kein geringerer als derdes Unendlichen und des Endlichen. Endliche Kräfte sind endlichen Aufgaben gewachsen; es gibt aber noch einen letzten Grund des Seelischen im Menschen, der allem Endlichen entrückt, vom Hauche des Ueberendlichen, Göttlichen unmittelbar berührt, ihm wesenhaft zugekehrt ist. Darum will die Seele des Menschen zuletzt in keine Schranken der Endlichkeit gebannt bleiben; für sie bedeutet Knechtung schon jede Begrenzung auf bloss endliche Ziele und Aufgaben. Alles Endliche endet eben; Endlichkeit besagt einmal und irgendwie Nicht-mehr-sein, jedes solche ‘Nicht’ aber empfindet die ihres unzerstörlichen Jasinns bewusst gewordene Seele des zum vollen Leben erwachten Lebendigen selbst als nichtig; das echte, alles Ja ausstossende Nein kann sie gar nicht gelten lassen, ausser für das Nein selbst; die Verneinung alles Nein aber bedeutet schon Verneinung der Endlichkeit, Anerkennung, zuletzt alleinige Anerkennung des Ueberendlichen nicht bloss als überhaupt und an sich, sondern für sie daseiend, in ihrem eigenen, ihr selbst unwidersprechlich bewussten Sein sich bezeugend und somit ihr kund und offenbar. Sein bedeutet für alles, was im besonderen ist, Teilhabe an dem, seinem ganzen Sinn nach schliesslich einzigen, mithin allbefassenden, selbst des Nichtseins in
jedem Sinne unfähigen Ur-Sein. Leben aber ist eben dieses Sein, sofern es sich selber weiss als diesem einzigen, allbefassenden Sein zugehörig, in seiner Ewigkeit ewig gegründet, darum seinem letzten Wesen nach unverletzlich, keines Abbruchs, keiner Zerstückung fähig. Alles
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besondere Einzelne an ihm kommt und vergeht, aber das ist nur Gelebtes, nicht das Leben selbst. Jenes alles liegt vor und unter ihm gleichsam ausgebreitet in der Zeitlinie und in räumlicher oder raumartiger Erstrekkung, es selbst aber, sein sehender Blick, ist etwas durchaus anderes, es ist in der Zeitlinie, in der räumlichen Erstreckung überhaupt nicht zu suchen. Versucht man doch, es sich unter räumlichem Bilde zu versinnlichen, so darf man es nur ganz ausserhalb, gleichsam vertikal zur ganzen Ebene des Erlebbaren suchen, einer ganz andern Dimension angehörig, der Dimension eben des Ueber-Zeit-Räumlichen. Darum aber ist alles Leben sich heilig, es weiss sich selbst, wofern es sich überhaupt weiss, in seiner letzten Wurzel überendlich und damit allein voll lebendig. In dieser Ueberlegenheit über Zeit und Raum bleibt es in sich ganz unberührt vom Vergang des bloss endlich Erlebten und Erlebbaren. Darum darf es sich unerschrocken darbieten allem bittersten Leiden, aller drückendsten Mühsal, allem heissesten Kampf, es darf, es muss, je fester es sich seines ewig unangreifbaren Ja-sinns bewusst ist, um so mutiger entschlossen allen Widerspruch, alle härteste Dissonanz des zeit-räumlichen Daseins und Geschehens, alle Sünde sogar und allen Fluch der Sünde auf sich nehmen, es weiss, es muss in das alles getrost hineingehen, um durch es alles hindurch seinen Sieg zu erstreiten, gerade an ihm sein ewiges Selbst zu bewähren und darüber zu triumphieren.
Erkennt es sich aber so, wird es dieser reinen Gegenstellung gegen alle Endlichkeit sich erst ganz bewusst, dann wird es ruhig verzichten auf jede endliche Lösung der Dissonanz in reinen Einklang, auf den endlichen Ausgang alles Leids in Freude, aller Mühsal in die Befriedigung bleibender Gestaltung, alles Kampfes in Frieden und Aussöhnung, aller Sünde in innere Lossprechung und Entschuldung.
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Es wird die endliche Lösung, eben als endliche, verschmähen und dem Fortgang ohne Ende, selbst um den teuren Preis des nie erreichten oder auch nur näher rückenden Zieles, den Vorzug geben, weil in der gänzlichen Erhabenheit über all solche Scheinlösung erst die Ewigkeit, die Ueberendlichkeit des letzten, tiefsten Lebens der Seele sich beweist.
Habe ich Dostojewski recht gelesen, so ist mit dem Tiefsten in ihm keine andere als diese Haltung vereinbar. Nicht ein Zusammenlaufen aller Strahlen in einem Punkt (Konvergenz), sondern Auswickelung des Strahlenkreises um einen bloss gedachten, nicht gegebenen Mittelpunkt, wie in eine unendliche Spirale, und zwar nicht in nur einfacher, ein- oder zweidimensionaler, sondern unendlichfacher, ja ich wage zu sagen unendlich-dimensionaler Unendlichkeit: das etwa möchte, in einem mathematischen, vielmehr schon hochübermathematischen, vom Mathematischen nur den Ausgang nehmenden Symbol ausgedrückt, die letzte Lebensansicht Dostojewskis bezeichnen. Unmittelbar formuliert findet man das bei ihm allerdings nicht; er spricht niemals die Sprache der Philosophie. Aber recht vieles, nein alles in ihm weist in diese Richtung und ist mit keiner anderen letzten Voraussetzung verträglich. Nötzels Kennzeichnung der Eigenheit Dostojewskis durch das Merkmal der ‘Voraussetzungslosigkeit’ lässt diese weitestgehende Deutung nicht bloss zu, sondern fordert sie, wie mir scheint. Denn jeder endliche Abschluss würde sofort unüberschreitbare Voraussetzungen schaffen. Völlig voraussetzungsfrei ist allein die gänzliche Erhebung über jede endliche Abgrenzung.
Als für das Gesagte beweisend möchte ich an erster Stelle die eigen ergreifende, tief angelegte kleine Dichtung Dostojewskis in Anspruch nehmen, die den Titel trägt: ‘Traum eines lächerlichen Men-
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schen’. Jener Mensch, der sich selbst und den alle Welt lächerlich findet, ist es, weil aller Welt und ihm selbst als Kind der Welt allerdings höchst befremdend sein muss, was einzig ein Traum ihm offenbart hat, und was er einzig diesem Traume glaubt. Einem Traume allerdings von ganz besonderer Art. Am Ende war es gar kein Traum; jedenfalls ihm ist er von so unwiderstehlicher Wahrheitsgeltung, dass vor ihm viel eher das wache Leben des Menschen hier auf unserer Erde zum Traum verblasst. Was ist denn Traum? Warum wäre nicht weit eher dies vermeinte Wachleben nur geträumt? Jedenfalls er hat in diesem Traum die Wahrheitgeschaut. Nicht sein Verstand hat sie erklügelt, er hat sie geschaut, wirklich geschaut; ihre lebende Gestalt hat seine Seele ergriffen und auf ewig ausgefüllt. Und er hat sie in vollendeter Ganzheit geschaut, so dass er nicht länger glauben kann, das, was er geschaut hat, sei für den Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. - Und was ist diese Wahrheit? - In einem Anfall nicht sowohl von Verzweiflung als einer entsetzlichen Gleichgültigkeit gegen alles hatte er seinem Leben ein Ende machen wollen. Aber spät in der Nacht, eben im Begriff seinen Entschluss auszuführen,
war er, erschöpft vom langen Grübeln, unversehens in einen tiefen Schlaf gefallen, in dem nun eben der wundersame Traum ihm kam: Ihm träumt, er hat sich das Leben genommen, aber ein hoher Geist hat ihn durch unermessliche finstre Weltenräume auf eine sonst der unsern ganz gleiche andere Erde, in eine Gegend entsprechend dem griechischen Inselmeer, entführt, bewohnt von sonst menschgleichen Wesen, aber in einem Zustand gleich dem, den die Völkermythen als den des Paradieses schildern; mit dem Unterschied, dass ihr Paradies nicht eine Oase auf einer sonst wüsten Erde, sondern ihre ganze Erde, übrigens
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nicht bloss diese, sondern das Ganze der ihnen sichtbaren Welt ist. Denn die Menschen dort leben in unmittelbarem vertrautem Verkehr, ja innigem Liebesverein mit der ganzen Natur, auch der Gestirnwelt. Das alles lebt er nun in seinem Traume mit in so wacher Wirklichkeit, dass er unmöglich daran zweifeln kann, es sei ganz so, wie er es geschaut hat. Und so weiss er und kann keinen Augenblick mehr nicht glauben: der Mensch vermag auch hier auf unserer Erde in Paradiesesunschuld und -seligkeit zu leben, er braucht nur zu wollen. In einem Tage, in einer einzigen Stunde sogar würde alles völlig zurechtkommen unter einer einzigen Bedingung: Es liebe jeder den andern so wie sich selbst. Nichts weiter ist nötig, dann würde jeder auch sogleich wissen, was er zu tun hat. Nur eine verhängnisvolle, verführerische Irrung seines Verstandes hat es ihn vergessen lassen und ihn von seinem reinen Wesen himmelweit entfernt. Am ergreifendsten aber wird das vorgeführt (denn auch dies hat er im Traum mit heissem Schmerz ganz wie wach Erlebtes durchgemacht). wie er selbst, der Sohn unsrer Erde, auf jenes Traumparadies vergiftend wie eine garstige Trichine, wie ein Pestbazillus wirkt, bloss dadurch, dass die Menschen dort nach und nach von dem Leben der Menschen hier auf unsrer Erde durch ihn erfahren, in ihr mühseliges, gequältes,verderbtes Leben sich anfangs aus reinem Mitleid und Neugier hineindenken, damit aber von seinem Fluch, vom Fluch des Wissens, unvermerkt mehr und mehr mitergriffen
werden und so zuletzt diesen Fluch mit all seinen grauenhaften Folgen auf sich laden. Sie lernen kennen den Reiz der Lüge, die Grausamkeit der Wollust und Eifersucht, und Hass, Vorwurf, Scham, Ehre, alle wilden Leidenschaften. Daraus folgt gegenseitige Absonderung und Entfremdung, der falsche Stolz der Persönlichkeit, Abgrenzung
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und gegenseitige Anfechtung des Mein und Dein. So lernt man das Leid kennen, gewinnt es sogar lieb; man dürstet nach Qual, denn Wahrheit lerne man nur durch sie. Damals erschien bei ihnen auch - die Wissenschaft! ‘Als sie schlecht geworden waren, fingen sie an von Brüderlichkeit und Humanität zu schwätzen und diese Ideen zu verstehen. Als sie Verbrecher geworden waren, erfanden sie die Gerechtigkeit, schrieben ganze Gesetzbücher zusammen, um sie aufrecht zu erhalten, richteten das Schaffot auf, um die Gesetzbücher zu sichern.’ Zwar der Glaube an die dereinstige Seligkeit war schon ganz dahin; fast war schon jede Erinnerung daran erloschen. Dennoch sehnte man sich, wissend oder nicht, nach ihr zurück, vergötterte den Gegenstand seiner Sehnsucht, baute ihm Tempel, betete zu ihm als seinem Gott. Indessen, sollte man nun dahin zurück, so würde man sich dessen weigern. ‘Mögen wir Lügner, Bösewichter, Ungerechte sein’ (würden sie sprechen), ‘wir wissen es, wir weinen darum, wir quälen uns deshalb, wir martern und strafen uns, mehr als der barmherzige Richter, der uns richten wird, dessen Namen wir nicht kennen. Aber wir haben das Wissen, und Wissen steht höher als Gefühl, Erkenntnis des Lebens höher als Leben, Kenntnis der Gesetze des Glücks höher als Glück.’
Die so zum Wissen um Gut und Böse erwachte Menschheit will nicht die ewige Ruhe, sie will die Qual des Leidens. Leiden ist ihr Schönheit, nur im Leiden ist Sinn!
Dies der Inhalt des merkwürdigen Traums. Wie will er gedeutet sein? Ist es einfach die Forderung der Rückkehr zur Kindesunschuld durch die Erlösung vom Fluche des Wissens? Konnte Dostojewski übersehen, dass Kindheit nicht bestimmt ist Kindheit zu bleiben, dass der Durchgang durch die Reifung eben des
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Wissens, des Wahrheitsgewissens, damit aber durch die Sünde mit aller ihrer Qual, unabwendlich ist? Mir scheint im Gegenteil eben dies der Traum zu besagen, indem er zeigt: Wäre dem Menschen ein paradiesisches Kindesdasein, wie er es, mit oder ohne Grund, im Urbeginn seines Erdenwallens sich denkt, ein zweites Mal beschieden, so würde es dabei doch nicht bleiben, er würde die Frucht vom Baume der Erkenntnis ein zweites Mal brechen, sich dadurch die Pforte des Paradieses nochmals selber verschliessen und die ganze absteigende Stufenfolge der Schuld und des Elends nochmals zu durchmessen haben, so wie die einst seligen, nun doch wieder in die gleiche Unseligkeit wie wir gefallenen Bewohner jener fernen andern Erde. Stets doch hat Dostojewski das Leben geliebt, er hat es heilig gesprochen ganz in seiner Leidenschaft, seiner Sünde, seiner Qual. Noch in der Hölle würde er es preisen. So in seinem Dmitri Karamasoff. In den zwei Monaten seiner Untersuchungshaft hat der des Vatermords unschuldig Verklagte in sich den neuen Menschen erfühlt. In seinem wie unterirdischen Sträflingsleben ist seine Seele durch Leiden wissend geworden. Nicht wegen der angeblichen Mordtat wird er nach Sibirien gehen, aber für die leidenden Kinderchen; überhaupt für alle, denn alle sind an allen schuldig. In seinen Ketten wird er wieder auferstehen zur Freude, ohne die der Mensch, ohne die Gott selbst nicht sein kann,
denn das ist sein erhabenes Vorrecht. Es lebe Gott und die Freude! Was bedeutet denn Leiden? Ich fürchte es nicht, und wenn es unermesslich wäre! Es lebt jetzt in mir diese Kraft, dass ich alles ertrage, bloss um mir jeden Augenblick zu sagen und zu künden: Ichbin! In tausend Qualen bin ich, in Foltern quäle ich mich, allein ich bin! In Finsternis sitze ich, aber ich lebe, ich sehe die Sonne, und sähe ich sie nicht, ich weiss doch,
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sie ist, und das, das ist schon das ganze Leben! - Nicht minder gewiss aber ist das andre, was, scheint mir, der ‘Traum’ uns künden will: die durch keine Sünde, keinen Tod, keine Höllenqual je aufhebbare Gotteskindschaft des Menschen. Kindschaft kann nicht verloren gehen. Der ‘verlorene Sohn’ der evangelischen Erzählung war damit, dass er das Vaterhaus verliess, nicht der Kindschaft verlustig gegangen, er hatte nur seinerseits sie verachtet und vergessen; er brauchte nur zum Vater zurückzukehren, so war er schon bei ihm als Kind wieder angenommen: weil die Kindschaft zwar seinem Sinn, aber nicht seinem Wesen verloren war noch je verloren gehen konnte. Eben deshalb bleibt die Sehnsucht nach der Seligkeit der Unschuld und der Glaube an sie im Menschen unvertilgbar, und so wird er das Vaterhaus wieder aufsuchen, sollte er selbst vergeblich anklopfen. Aber die Heimkehr zum Vater bedeutet dann nicht die Rückkehr zum Kindesstand, wie er zuvor gewesen war, sondern er muss bedeuten den Eintritt in ein neues Verhältnis zum Vater, und zwar nicht ein ferneres, sondern unvergleichlich von seiner Seite, für den Menschen selbst näheres. Nur so kann die evangelische Legende, nur so kann auch Dostojewskis Traum gemeint sein.
Der ‘Traum’ weist rückwärts auf den Roman ‘Werdejahre’ (oder ‘Der Jüngling’), vorwärts auf die ‘Brüder Karamasoff’. Diese drei, den letzten Lebensjahren Dostojewskis angehörigen Werke bezeichnen die Höhe seines Schaffens. Im ersteren Werk erzählt Wersileff seinem natürlichen Sohne Dolgoruki, der in dem Roman der Fiktion nach von seinem eignen Werdegang sich Rechenschaft gibt, von einem Traum, der mit dem des ‘lächerlichen Mannes’ viel Aehnliches hat. Auf seinen Reisen nach dem Westen hatte der Berichtende in Dresden (hier spielt eine persön- | |
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liche Erinnerung Dostojewskis herein) in der Gemäldegalerie ein Bild des Claude Lorrain gesehen; im Katalog war es als ‘Acis und Galathea’ bezeichnet; er möchte es lieber ‘Das goldene Zeitalter’ betiteln. In seinem Traume nun sah er nicht dieses Bild, sondern das, was es darstellt, als lebendige Wirklichkeit. Eine abgelegene Gegend des griechischen Archipels wundervolles Gestade, zauberische Fernsicht, im glühenden Licht eines südlichen Sonnenuntergangs, etwa 3000 Jahre zurück - ergriff es seine Seele mit einer Art Heimatgefühl als die Wiege der europäischen Menschheit, als das irdische Paradies, wo noch die Götter vom Himmel herabstiegen und mit den Menschen sich gatteten. Schöne Menschen lebten da in Glück und Unschuld, in Liebe und harmloser Fröhlichkeit, überflutet von Wärme und Licht der Sonne, die sich ihrer schönen Kinder freute.
Ein höchst unwahrscheinlicher Traum, dem doch die Menschen ihr Leben und alle Kräfte geweiht, um den Propheten sich gemüht und den Tod erlitten haben; ohne ihn könnten die Völker nicht leben, nicht einmal sterben! Ihm aber war dieser Traum Leben. Noch nach dem Erwachen lebte er in ihm weiter und erfüllte ihn mit einer nie gekannten, geradezu schmerzenden Seligkeit und einem Gefühl heisser Liebe zur ganzen Menschheit. Allein die untergehende Sonne des ersten Tages der Menschheit - dem selbst im scheidenden Abendlicht Erwachten wandelte sie sich in die untergehende Sonne ihres letzten Tages über Westeuropa erklangen grade damals die Klänge des Grabgeläutes! Es war die Zeit des Tuilerieenbrandes im Aufstand der Kommune 1871. Gewiss ein durchaus logischer Vorgang; er habe volles Verständnis, sagt der Berichtende, für die Unwiderstehlichkeit der im Fluss befindlichen Idee. Aber als Träger des höchsten russischen Kulturgedankens ver- | |
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mochte er nicht sich darein zu finden; denn dieser ist der Gedanke der allgemeinen Versöhnung der Ideen. Hier aber wollte der Franzose nichts als Franzose, der Deutsche nichts als Deutscher sein, beide in der bis dahin höchsten Anspannung ihrer Kräfte. Nie aber hat der Franzose seinem Frankreich, der Deutsche seinem Deutschland so schweren Schaden zugefügt wie damals. In ganz Westeuropa gab es damals keinen Westeuropäer als ihn, den Russen, da er allein empfand: diese Handlung, und ebenso die Rache des durch sie beleidigten Bürgertums,
war durchaus logisch, aber darum nicht weniger ein Verbrechen an der Menschheit. Zwar auf ihn kam es dabei nicht an; um den russischen Gedanken handelt es sich. Für diesen aber gab es in Westeuropa damals kein Verständnis. Es hat die herrlichen Typen des Franzosen, des Engländers, des Deutschen geschaffen, aber wie sein, Westeuropas künftiger Bürger aussehen solle, davon wusste es so gut wie nichts, davon schien es gar nichts wissen zu wollen. Begreiflich, denn sie sind nicht frei, wir aber sind frei! Sie meinen bloss als Franzosen, als Engländer, als Deutsche zugleich der Menschheit zu dienen; einzig der Russe weiss, dass er im höchsten Masze Russe gerade dann sein wird, wenn er im höchsten Masze Westeuropäer ist. Das ist der wesentliche nationale Unterschied zwischen den Russen und den andern Völkern. Nicht das viele vergossene Blut, nicht die abgebrannten Tuilerieen schmerzen ihn so, aber alles, was nun folgen muss. jenen ist beschieden, noch lange mit einander zu ringen, weil sie noch zu sehr Deutsche und zu sehr Franzosen sind und ihre Rolle in diesem Spiel noch nicht ausgespielt haben. So leben sie immer noch jeder für sich. Russland allein lebt für die Idee, es hat bereits ein Jahrhundert lang bloss für sie gelebt. Aber
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wie steht es mit jenen? Oh, ihnen sind noch schreckliche Leiden beschieden, ehe sie das Reich Gottes erlangen werden. - Welches Reich Gottes? Und wie würde es kommen? - Dostojewski unterlässt nicht darauf zu antworten. Denken wir uns, der Kampf sei schliesslich geendet; nach allen Flüchen, allem gegenseitigen Begeifern und Auspfeifen sei Ruhe eingetreten, sie sähen ihren Wunsch erfüllt: jeder sei für sich, die einstige grosse Idee der Menschheit sei untergegangen wie die majestätische Sonne auf dem Gemälde des Claude Lorrain - da endlich würden die Menschen erkennen, wie ganz sie vereinsamt und verwaist sind. Dann würden sie sich auf einmal eng aneinanderschliessen, sich bei den Händen fassen und sich bewusst werden, dass nur sie allein jeder des andern Ein- und -Alles sind. Das wäre Ersatz für die grosse Idee der Unsterblichkeit, der Unsterblichkeit, welche die Liebe bedeutet. Die ganze Fülle der Liebe müsste sich dann der Natur, der Welt, dem Menschen, jedem Grashalm zuwenden. Je mehr sie ihrer Endlichkeit sich bewusst würden, um so unwiderstehlicher müssten sie einander lieben, mit einer Liebe ganz unähnlich der früheren. Geheimnisse würden sich ihnen erschliessen, von denen sie bis dahin nichts geahnt hatten. Die Natur würden sie mit neuen Augen ansehen, mit dem Auge, mit dem der Liebhaber die Geliebte ansieht. Wie aus einem Rausch erwacht, würden sie es eilig haben einander zu lieben, für einander zu arbeiten,
einander zu beglücken, in dem Bewusstsein, dass ihre Tage kurz und dies alles ist, was ihnen blieb. Jedes Kind würde wissen und fühlen, dass jeder Mensch es so gut mit ihm meint wie ein Vater und eine Mutter. Die Sorge für das heraufwachsende Geschlecht würde ein ausreichender Ersatz sein für den Gedanken an ein Wiedersehen nach dem Tode. - Wahrlich eine ganz unwahrscheinliche Phantasie!
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Aber stets endete sie mit einer Vision wie Heine's Christus auf der Nordsee: der Heiland inmitten der verwaisten Menschen, zu ihnen tretend, ihnen die Hände entgegenstreckend: Wie konntet ihr Seiner vergessen! Dann würde ihnen allen gleichsam die Binde von den Augen fallen und es würde der grosse begeisterte Hymnus der neuen, der letzten Wiedergeburt erschallen!
So in dieser Schrift. Voll aufgenommen und in vollem Ausklang entwickelt findett man dieselben Kerngedanken im letzten grossen Werk: ‘Die Brüder Kar amasoff’, besonders im Vermächtnis des Sossima (6. Buch). Unser Bericht darf hier kürzer sein, eben weil die Motive der beiden andern Werke zum Teil wiederkehren. Herausgehoben seien nur die ergreifenden Aeusserungen des sterbenden Jünglings Markell, des älteren Bruders des Sossima: ‘Mutter, weine nicht! Das Leben ist ein Paradies! Alle sind wir im Paradies, wir wollen es bloss nicht wissen. Würden wir es wissen wollen, dann wäre schon morgen auf der ganzen Erde das Paradies zur Wahrheit geworden. Was zählen wir die Tage, wo ein Tag genug ist für den Menschen, das ganze Glück zu erfahren? Ihr Lieben, was zanken wir uns, was prahlen wir gegen einander, weshalb können wir erfahrene Beleidigungen nicht vergessen? Lasst uns doch sogleich in den Garten gehen, lasst uns lustwandeln, Mutwillen treiben, einander lieben und loben und küssen und unser Leben segnen!... Vöglein Gottes, frohe Vöglein, verzeiht auch ihr mir, denn ich habe vor euch gesündigt. Welcher Gottesruhm war rings um mich her: die Vögel, die Bäume, die Wiesen, der Himmel - und ich allein lebte in Schmach, ich allein entehrte alles und spürte gar nicht die Schönheit und den Ruhm!’ Und er weint vor Freuden, indem er dies erkennt; es verlangt ihn selbst vor ihnen schuldig zu sein,
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denn ihm wird ja Vergebung dafür, und das ist ja das Paradies. Ist er nicht also im Paradies?... Wird der Mensch erst diesen einzigen Gedanken fassen, dass jeder Mensch für alle und alles schuldig ist, dann wird damit das Himmelreich nicht mehr in der Phantasie sondern in der Wirklichkeit angebrochen sein. Dazu muss freilich erst der Menschselbst ein andrer werden, er muss ‘einen neuen Seelenpfad einschlagen’. Und dazu kommt er freilich solange nicht, als, wie jetzt, jeder nur danach trachtet sich in seiner Persönlichkeit abzusondern und auf sich zu stellen, in sich die ganze Fülle des Lebens zu erfahren: Gerade das führt nicht zur Fülle des Lebens, sondern zuletzt zum Selbstmord, weil zu gänzlicher Vereinsamung.
Auf die Predigt der Liebe kommt alles zurück. Verzeih doch jeder dem andern und fürchte sich nicht vor der Sünde der Menschen, liebe den Menschen auch in seiner Sünde, denn solches ist schon der Liebe Gottes ähnlich und steht über der irdischen Liebe. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, die ganze Welt, jedes Sandkörnchen unsrer Erde, jedes Blättchen habt lieb, jeden Lichtstrahl Gottes! Liebet die Tiere, die Pflanzen, liebt jedes Ding, dann werdet ihr das Geheimnis Gottes in den Dingen erfassen und Tag und Nacht mehr erkennen, zuletzt die ganze Welt lieb gewinnen in ihrer Einheit, mit einer Liebe, die die Welt umfasst. Denn alles ist ja nur ein Weltmeer, alles fliesst, alles berührt sich; du rührst an eine Stelle, und an einer andern Stelle der Welt hallt es wieder. Ein heimliches Ahnen ist uns verliehen von einem lebendigen Bande zwischen uns und einer andern, erhabenen, höchsten Welt. Die Wurzeln unserer Gedanken und Gefühle sind nicht hier, sondern in andern Welten. Gott hat Samenkörner aus andern Welten genommen und sie auf diese Erde ausgestreut, so erwuchs sein
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Garten; es ging auf, was aufgehen konnte, das Aufgegangene aber lebt und bleibt lebendig nur dadurch, dass es der Berührung, in der es mit den anderen geheimnisvollen Welten steht, sich bewusst wird. Wird aber dies Gefühl schwach oder stirbt es ab, dann stirbt auch, was aufgegangen war. - So glaube du und zweifle nicht! Und wenn alle andern daran zweifeln und auf dich nicht hören wollen, und wärst du der einzige, der daran festhielte, es würde nicht vergeblich sein. Wenn aber auch nur Einer sich mit dir vereint, so ist da schon die ganze Welt, das ganze Weltall der lebendigen Liebe. Dagegen das Leid, nicht mehr lieben zu können, das und nichts andres ist die Hölle. ‘Einmal ward in dem endlosen Sein, das weder an Zeit noch Raum gemessen werden kann, einem bestimmten geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf dieser Erde die Fähigkeit verliehen sich zu sagen: Ich bin und Ich liebe. Nur dafür war das Leben auf Erden geschaffen, und mit ihm Zeit und Raum. Er aber verschmähte dies unschätzbare Geschenk, erlebte keine Liebe, blickte Hohn und blieb teilnahmlos. Scheidet ein solcher dann hin, so mag ihm wohl hinterher die Einsicht kommen, aber der Durst nach Liebe, der ihn dann überfällt, wird nicht mehr zu stillen sein, denn es wird nicht mehr Leben und Zeit sein! Auch alle Qual des Leibes wird dann die seelische Qual ihm nicht wegnehmen können, alle äusseren Flammen den innern Brand nur schüren, den Brand des Durstes nach antwortender, tätiger, dankbarer Liebe! Doch ist am Ende selbst in dieser sengenden Qual eine gewisse Vorstellung jener tätigen Liebe und vermag selbst
dieser schwächste Abglanz von ihr dem unter solcher Qual Leidenden noch eine gewisse Linderung zu verschaffen. Würde er aber in frevelndem Hochmut auch diese letzte Spur des Göttlichen in sich selbst zurückweisen und
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damit ebenso sich selbst fluchen wie dem Leben und Gott, dann müsste er brennen im Feuer seines Zorns ewiglich und würde vergebens dürsten nach Tod und Nichtsein.
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