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Der Verbrecher Siebenhirt
Von Rudolf Jeremias Kreutz (Wien)
Der pensionierte Gymnasiallehrer Dr. Franz Siebenhirt stand vor seinem halbgeleerten Bücherschrank. Er kalkulierte Klassiker. Goethe... den mit den gepressten Lederrücken.
‘Gut erhalten, dreibändig’, murmelte er, ‘fast neu... macht vielleicht zwei Kilo Schmalz. Das reicht immerhin... das dürfte dann doch über die drei nächsten Monate reichen. - Schiller - ohne Leder, aber rot und gold mit Bildern von Doré. Das kaufen die Leute besonders gern, die Leute! Wollen was zum Anschauen haben und glanzen muss der Einband... glänzen!’ Er kollerte ein kurzes, böses Lachen hervor. ‘Bleibt in Reserve vorläufig, der Schiller. Für das Frühjahr. Anderseits - die Martha geht mir ein, sie sollte eigentlich jetzt... ein Ei wenigstens zweimal in der Woche -’ Siebenhirt fuhr sich durch das graue Haar, und musterte Grillparzer. ‘Wenn der nur besser aussehen mocht'! Dann könnte man ihn als Zuwage geben zum Goethe. Aber es wird nichts mit ihm: billige Volksausgabe, kleiner Druck und zerlesen... zerlesen! Wie ich.’ Um den verknitterten Mund des alten Mannes zuckte es höhnisch. Er griff aufs Geratewohl in die Bücherreihe, zog ein schmutziges, gelbes Bändchen hervor und schlug es auf. ‘Dass mich der Teufel narrt, just das muss mir in die Augen springen!’ schrie er, ‘der Oes- | |
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terreicher hat ein Vaterland, er liebt 's und hat auch Ursach es zu lieben. - Ursach! Ei, jawohl.’
Mit einer mutlosen Gebärde stellte er das Buch an seinen Platz zurück, und schickte sich an, den ledergepressten Goethe für den Auszug einzupacken. Da trat seine Frau ein. Die dürftige Dame wischte wie ein schmaler grauer Schatten an ihm vorbei, sank in den Lehnstuhl beim kleinen eisernen Ofen und rang die Hände. Ihre dünnen Finger knackten mit häszlichem Laut.
‘Was ist denn schon wieder los, Martha?’ fragte Siebenhirt mit scheuem Seitenblick und fuhr fort, Goethe in Zeitungspapier einzuschlagen.
Aus dem Lehnstuhl sprangen Zahlen. Riesenhaft, ungeheuerlich. Und hinter jeder her keuchte ein todmüdes: ‘Ich kann nicht weiter. Das Brot, denk' dir - seit heute kostet es -’ Vor den hilflos blinzelnden Augen Siebenhirts wuchs es auf wie ein Berg... Ein Friedensmonatsgehalt für einen Laib Brot! Er seufzte. Denn umschnürte er Goethe mit Papierspagat.
‘Und die Geschäftsleute... Gauner! Gauner!’ schrillte es. ‘Gestern noch habe ich zehn Deka billigste Wurst mit zweihundertzwanzig Kronen angeschrieben gesehen. Heute will ich sie kaufen für Sonntag und sie kostet zweihundertfünfzig. Ueber Nacht. Wenn S' es nicht wollen, lassen S' es bleiben', sagt mir der Verkäufer, morgen wird 's zweihundertsiebzig kosten, und in einer Woche dreihundert. Gauner!’
‘Die Welt ist reif’, sagte Siebenhirt, ohne irgendetwas zu denken. Seit dem Oktobertag, da er hatte beginnen müssen, seine Schätze zu verschleudern, um das Wirtschaftsgeld zu erhöhen, seit jener allertrübsten Stunde, da er wie ein verhärmter Bettler vor dem Antiquar gestanden war mit Lessing, Herder, Wieland, seinen ältesten Freunden - seither konnte er auf Verzweiflungs- | |
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ausbrüche seiner Frau nur mit Phrasen antworten. Er sammelte sie gierig aus dem Kommunistenblättchen. Nicht um Trost zu finden, nein, nur um ein Wort zu haben mit scharfer Schneide, ein Sensenwort, ein Schwertwort gegen das gepanzerte Ungeheuer Leben. Dumpfen Sinnes lernte er die klassenbewussten Drohschreie und Warnungen wie Vokabeln und stiess sie aus sich hervor. Es war ihm dann wie eine Befreiung. Eigene Formung für das Unfassbare, nach dreissig belobten Dienstjahren Hungers sterben zu sollen, eigener Ausdruck seines ausgehöhlten, zerriebenen, aus allen Fugen geratenen Ich fehlte ihm schon lange. Vollends vor seiner Frau, deren gläsern helle Art, an Unangenehmes zu rühren, ihm auf die Nerven ging.
Siebenhirt nahm also das Bündel unter den Arm und suchte nach einem Abgang.
‘Kartoffeln, achtzig Kronen das Kilo... fünf Heller haben sie im Frieden gekostet! Ja, was soll man dann essen?’ wimmerte es vom Lehnstuhl.
‘Die kapitalistischen Aasgeier werden es bereuen, unsere Geduld ist zu Ende,’ zitierte Siebenhirt und griff nach der Türklinke.
‘Bleib' doch,’ bat es schluchzend,’ was soll ich dann anfangen, göttlicher Heiland, mit sechstausend Kronen auf den ganzen Monat?!’
Siebenhirt liess die Türklinke los. ‘Martha,’ sagte er mit einer Stimme, die von wilder Lustigkeit zitterte, ‘Martha, kaufe die Kartoffel, das Schmalz dazu wird mein Goethe besorgen, ich schätze ihn auf zwei Kilo vom besten.’ Er schlug mit einer fast burschikosen Geste auf das dicke Paket: ‘Wir geistigen Mittelständler haben noch Reserven. Goethe gab ich für Schmalz, Gott sei Dank! Also weine nicht.’ Er streichelte ihre schmalen Wangen. ‘Weine nicht, Martha,’ wiederholte er drohend, ‘dann bring' ich dir noch ex- | |
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tra etwas Feines mit. Du höre doch endlich auf!’ Das verkümmerte Weiblein sah ihn voll an: ‘Du drohst? Und hast doch selbst die Augen voll Wasser. Oh du -’ Sie sprang auf und schmiegte sich an ihn. ‘Was soll aus uns werden, Franzl?’
Der quieszierte Germanist schluckte einigemale. Dann sagte er mühsam: ‘Was dir nicht einfällt, ich, Tränen? Freilich aber... du gehst mir schon nahe, oh ja!’ Und er küsste sie.
Sie lächelte bräutlich: ‘Ich kenn' dich doch, Franzl. Wenn du so runde, grosse Augen machst, ist immer Wasser darin.’
Siebenhirt schneuzte sich geräuschvoll: ‘Mein Goethe als Tausch-objekt für Schmalz - das allerdings muss... Das muss erst überwunden werden.’
‘Und der Schrank ist fast leer. Was dann, Franz!’
‘Dann,’ zitierte Siebenhirt mit dröhnender Stimme, ‘dann wird der Raubstaat eben gezwungen werden, sich seiner Kulturvermittler a. D. anzunehmen. Und sei es mit Gewalt! Das neue Reich ist nahe, denn erstens -’ ‘Möchtest du dich nicht lieber um eine Stellung umschauen?’ unterbrach Frau Martha schüchtern,’ schau, wir verhungern doch.’ Sie kauerte versunken im Lehnstuhl und weinte herzbrechend in ihr Taschentuch. ‘Und wenn wie nur Kraut essen...’ Ueberwimmelt von Zahlen stotterte sie: ‘Ich weiss mir keinen Rat.’ Siebenhirt deklamierte: ‘Gut dann, so will ich mich heute noch um eine Stelle als städtischer Strassenkehrer bewerben.’
‘Aber Franz?’
‘Staune nicht! Bin ich qualifizierter Arbeiter? Doktor der Philosophie bin ich. Kann ich mit sechzig Jahren ein ehrliches Handwerk erlernen, bin ich der doppelten Buchführung kundig?! Nein. Nun wohl - so bleibt das Strassenkehren. Sintemal die Ziegelschläger
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arbeitslos sind wegen brachliegender Bautätigkeit.’ ‘Lektor in einem Verlag?’...
‘Ich bin bei Goethe stehen geblieben, die sind über Sternheim hinaus. Was sollte ich ihnen? Schaffe mir einen Besen, Alte, und ich fange heute noch an vor fremder Türe. Die eigene ist rein.’ Er lachte mühsam. Die Frau schwieg, die verschränkten Finger knackten. Doktor Franz Siebenhirt schritt in aufrechter Haltung zur Türe hinaus.
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Der Antiquar bot als äussersten Preis zweitausend Kronen, und dies auch nur in Anbetracht des gepressten Lederrückens.
‘Was wollen Sie, Herr Doktor,’ sagte der Mann, ‘was glauben Sie? Der Substanzwert gilt heutzutag.’
‘Aber Goethe... Goethe komplett,’ stammelte Siebenhirt.
‘Goethe hin, Goethe her! Der Wieland und Herder liegen auch noch da, die Sie mir unlängst gebracht haben. Offen gestanden, nur unsere langjährigen persönlichen Beziehungen können mich dazu bewegen, Ihnen den Ladenhüter anzunehmen. Nicht zum anbringen! Wissen Sie was, bringen Sie mir einen Satz gebrauchter Courths-Mahler nächstens. Wie heisse Semmeln, sag' ich Ihnen, möcht' die gehen. Da wär' was zu machen. Aber sowas...?’ Er steckte die beredten Hände in die Taschen. ‘Ich versichere, verlieren tu ich dabei, Ehrenwort.’
Siebenhirt stützte sich auf den Ladentisch. ‘Die Jugend sollte man meinen,’ sagte er tonlos, ‘hat doch immer für Goethe -’.
‘Hat wenig zu essen und verfrisst darum alles. Hören Sie mir auf!’
Siebenhirt spielte den letzten Trumpfaus: ‘Diese Prachtausgabe würd heute mindestens zwanzigtausend Kro- | |
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nen kosten. Sie ist so gut wie neu, eine Kapitalsanlage wie... wie Perserteppiche.’
‘Eine Frage, lieber Herr Doktor. Warum behalten Sie das Werk dann nicht lieber selbst?’ Der Verkäufer masz das Männlein im schäbigen Mantel überlegen mitleidig.
Siebenhirt flüsterte: ‘Weil ich kein - Kapitalist bin und weil -’
‘Verstehe, verstehe. Meine Anfrage war natürlich doch nur scherzhaft gemeint. Umso eher sollten Sie mit dem Angebot zufrieden sein. Ich wiederhole: Ganz ausnahmsweise, weil Sie's sind, verehrtester Herr Professor - zweitausend Kronen. Soll ich drauf zahlen?’
Siebenhirt wurde es schwarz vor den Augen. Es fiel ihm ein, dass er errechnet hatte, Goethe würde mindestens zwei kilo Schmalz ergeben und über den Winter helfen bei äusserster Sparsamkeit. Im Frühjahr erst käme Schiller daran als ersparter Vorrat. Schliesslich müssten endlich auch die Preise fallen und es liesse sich bis zum Sommer ganz gut weiterleben. Und dann - weiter hatte Siebenhirt freilich nicht gedacht. Es schwindelte ihn. Er musste sich an den Ladentisch lehnen. Wenn der Mann Schiller zu demselben Schandpreis nähme oder... oder gar nicht nähme, denn war der letzte Notanker hin.
‘Nehmen Sie doch Platz, Herr Professor.’ Der Antiquar schob einen Stuhl zurecht.
‘Danke,’ hauchte Siebenhirt und setzte sich.
‘Nun - zweitausend. Wie beim Zahnziehen ist das, ich kann 's Ihnen nachfühlen, ein Moment... unangenehm, bevor man sich entschliesst. Hernach aber... befreit ist man, ich versichere.’
Siebenhirt versuchte, sich einen Ruck zu geben. Es gelang ihm nicht ganz. Immerhin presste er leidlich fest hervor: ‘Unter einer Bedingung.’
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Der Antiquar machte ein verdutztes Gesicht: ‘Wie beliebt? Seien wir doch einsichtig im gegenseitigen Einvernehmen.’
Da kollerte Siebenhirt in kalter Angst: ‘Hören Sie... Ich hab' einen Schiller, ein Unikum, ein Rarissimum für Bibliophile... illustriert mit Stahlstichen nach Doré - versprechen Sie mir, dass Sie ihn um viertausend mindestens abnehmen im Frühjahr.’
Der Antiquar lachte breit: ‘Mindestens ist sehr gut. Bringen Sie ihn her und ich werde schauen’.
‘Nein, nein, versprechen erst!’ rief Siebenhirt erregt, ‘sonst geh ich und... und Sie sehen mich nie wieder’. Er fingerte hastig nach dem Goethe auf dem Ladentisch. Der Antiquar hatte die fette Hand schützend über die Lederrücke gebreitet: ‘Sie sollen sich nicht aufregen, Herr Professor, ich verspreche Ihnen als wegen meiner a priori den höchsten erzielbaren Preis für den Pracht-Schiller im Frühjahr, obwohl es so eine Sache ist mit überpopulären Klassikern. Keiner liest sie, jeder kennt sie und gar niemand kauft sie. Aber weil Sie 's sind.’
Siebenhirt atmete auf. Das spitze Hämmern in seinen Schläfen liess nach. Wohlig durchströmte es ihn in einen breiten, starken Rythmus: Sechs tausend! drei Kilo Schmalz, vielleicht sogar mehr, wenn die Preise im Frühjahr fallen. Er lächelte leise.
Der Mann hinter dem Ladentisch zog zwei grosse, blaue Scheine aus der Brusttasche: ‘No, sehen Sie Herr Professor, so ist uns beiden geholfen trotz der schweren Zeit’.
Siebenhirt nahm das Geld, drückte eine warm-feuchte Hand und ging.
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Eisiger Wind fegte. Das schlotternde Männlein im wehenden Havelok trieb mit ihm. Wohin? - Sieben- | |
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hirt war es gleichgültig. Nur nach Hause nicht! Nicht sofort wieder den Platz anschauen müssen, wo sein Goethe dreissig Jahre gestanden war. Und die Frau nicht hören, mit ihrer singenden Klagestimme, die alles Leid' ges Leben zu unendlich zähen, klebrigen Lautfäden verspann. Lieber etwas kaufen, durchzuckte es Siebenhirt, etwas Fettes, Essbares, damit ihr armes, verknittertes Gesicht das frohe Erstaunen nicht ganz verlernt, leuchten soll es wie am ersten Tag. Eintreten will ich heute bei ihr... jawohl: suaviter in modo, fortiter in re. In der Hand fortiter ein Stück Butter und Schinkenwurst... ave Martha! Koste es was es wolle, ich hab 's!
Siebenhirt weitete seine Brust, rieb sich die erstarten Hände und steuerte mutig durch die Brandung der Kärntnerstrasse auf das Leuchtfeuer einer Auslage zu. Ankerte vor der blitzenden Scheibe. Eisblumen wucherten auf dem Spiegelglas. Sie waren in Nasenhöhe abgeschmolzen im Wolfsatem gieriger Betrachter der Schätze des Paradieses. Greifbar nahe lag es sinnvoll und prächtig da, Auslese aller Herrlichkeit der Erde. Siebenhirts philosophisch geschulter Geist empörte sich über den Speichel, der dem pensionierten Mittelschullehrer im Munde zusammenlief. Er zwang diesen mit ruhiger Fassung auf gespiekte Gänsebrüste, goldgelbe Butterberge und Kapaune zu sehen. Er schmetterte befehlend: Zähne zusammenbeissen! Speichel schlucken! Ruhig Blut! - Der Körper Siebenhirts gehorchte. Dass seine Augen sich weiteten, fiebrig glänzten, dass sie im ersten Ueberschwang solcher Schau Würste, Gänsebrüste und Butterberge verschlangen - das konnte der Geist nicht hindern. Es gelang ihm aber allmählich Siebenhirts ausschweifendes Gesicht auf das Wesentliche einzustellen - die Zahl. Wie Schwerter aus schwarzem Stahl flammten Ziffern neben den
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freundlich gleissenden Verheissungen. Rühre nicht daran! loderten sie, Erbsündiger, der du ein Bettler bist, Erbsündiger, der du kein Gauner bist oder es nicht wenigstens warst! Hebe dich hinweg, Wurm, wir sind vierstellig alle, und schlagen jeden nieder, der uns nahe kommt, jeden in verwittertem Mantel, jeden mit klaffenden Schuhen. Nur Pelze stimmen uns weich und Luxusschühlein und seidene Strümpfe.
Siebenhirt erschrack. Es schwanden die Gänsebrüste, es versanken die Butterberge und Wurstkränze. Die Kapaunen und Fasane wurden Nebel. In grellem Schwarz grinsten die Zahlen im Mysterium, auf sauberen, weissen Täfelchen.
Siebenhirt gab den Kampf nicht auf. Er zwinkerte scharf. Irgendwo musste doch eine dreistellige Käuflichkeit sein, ein Wächter mit drei Schwertern bloss. Er forschte gewissenhaft. Wieder und wieder überflog er die Waren, durchwühlte die Stapel der Konserven-büchsen. Nichts, nichts! Doch ja: Ganz hinten, wie beschämt über seiner Dürftigkeit kauerte ein Posten portugesischer Oelsardinen. K. 600 meldete der Preiszettel.
Siebenhirt kämpfte. Mit einem ganzen Kilo Fett war es wohl vorbei, wenn er die Sardinen nahm. Anderseits aber auch mit der Freude Marthas, denn das Fett war beschlossene Sache gewesen, also keine Freude mehr. In den Sardinen aber, lag das Wunderbare beschlossen, das Unvorhergesehene... und nur das ist Glück.
‘Ich tu's,’ sagte Siebenhirt,’ trotzdem es leichtsinnig ist. Sonne soll sie im Gesicht haben heut.’ Er presste die Arme an sich, in der Brusttasche knisterten aufmunternd die Scheine. Er setzte den Fuss auf die Schwelle des Geschäftes, er wollte eintreten, aber da - war plötzlich ein Neues, Unheimliches, das ihn zurückhielt. Er starrte verwundert und horchte. Brausen drang von
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irgendwo... es schwang aus unbestimmbarer Ferne heran, und musste doch nahe sein, denn die Leute um Siebenhirt fingen zu rennen an. Lärm stürzte nieder. Summen wie ungeheurer Schwarm erboster Bienen zitterte in der Luft. In den schlendernden Müssiggang der Passanten schnitten wie blitzende Sensenhiebe gellende Pfiffe. Das dichte Gewebe der Menschen, über die Gehsteige gespannt, zerriss mit Gekreisch. Haustore und Nebengassen schluckten im Nu die Fetzen. Die Fahrbahn wurde leer. Mit dem bösen Grunzen gemarterter Schweine entwichen elegante Autos.
Eine riesige, graue Wolke stob vom Stephansplatz heran. Sturm schien sie zu treiben, so schnell ballte sie zwischen den Mauern der stummen Häuser. Und Heulen trug sie in sich, Klirren und Knattern.
‘An Graben plündern sie!’ rief jemand im Vorbeihasten. Zwei beleibte Damen in kostbaren Pelzen watschelten wie gehetzte Enten und schnatterten asthmatisch: ‘Gottes Willen... Polizei!’
Siebenhirt stand fest gewurzelt. Er wunderte sich. Es war ihm warm geworden. Fast behaglich. Er blickte den dicken Frauen mit wollüstigen Spott nach: Getrüffelte Fasanhennen, Fettgänse... es gibt halt doch Augenblicke im Menschenleben, wo Fett und Trüffel nichts nützen. Im Gegenteil! - Und er kicherte.
‘Dies irae, dies illa, solvet saeclum in favilla,’ zitierte sein Geist und sein Körper, dieses arme Bündel unterernährten Fleisches, durchrieselte es heiss: Die Welt ist reif. Die Wolke rast gegen Sodom.
Gegenüber zerklirrten die grossen Scheiben einer Schuhwarenniederlage. Nebel floss in die Auslage, wischte Stiefel und Stiefelchen weg. Und wälzte sich weiter. Ein Bankhaus stand als gepanzerter Ritter ohne Furcht. An das geschlossene Visier stählerner Rollläden
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brandete es, zerbarst, und spie Blitze: ‘Blutsauger! Leichenräuber! Valutahyänen!’ Die Bank wies ihre stählernen Zähne und schwieg überlegen. Siebenhirt stak nun mittendrin in der Wolke. Er fühlte wie sie in ihn eindrang, ihn durchhöhlte, auslöschte gleichsam. Seine Wesenheit verging, wie eine Schneeflocke nicht mehr ist, wenn sie in den Schnee fällt, wie ein Tropfen, den das Meer nimmt. Zu unendlichem Nichts zerschmolz Siebenhirt und erwuchs doch auch wieder zum All, riesenhafter Kräfte teilhaftig in der Ohnmacht. Ledig aller Begrenzung, triebhaft allmächtig wie die Natur. Noch weigerte sich sein Ich der Hingabe, wollte entrinnen, tappte nach Auswegen - da trieb das gemergelte Körperlein schon in der nebelhaft wirbelnden Masse dem ersehnten und doch Ungewollten zu: der Befreiung durch Vernichtung.
‘Jawohl, Blutsauger!’ schrie nun auch Siebenhirt und reckte zitternde Fäuste aus der Wolke, ‘Kadaversatte Aasfliegen!’
Neben ihm schmetterte eine Brechstange in das Glas vor den Butterbergen, Gänsebrüsten und Würsten. Zwischen Scherben griffen Finger zu, wimmelten wie Spulwürmer in Fleisch und Fett. Schnelle Hände schaufelten Butter. Ein haariger, knotiger Arm, wundgeritztan Splittern, tropfte Blut auf Käse, stiess nach Konserven-büchsen, raffte blitzschnell. Es roch angenehm nach Rauchfleisch und Braten.
Jemand hing sich in Siebenhirt ein, schmiss ihn in halber Drehung dem geplünderten Laden zu: ‘Friss, Bruader, sauf! schaust en ah verhungert aus! Traust di not? Mir san die Herrn vo' Wean! Da hast, i schenk d'r was’. Siebenhirt spürte einen dicken Kranz von Schinkenwurst um den Hals baumeln. Des Gymnasiallehrer Ethos schauderte. Es stammelte Abwehr: ‘Gestatten Sie... ich bin kein Räuber’. Und es warf mit ent- | |
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schlossener Gebärde die Wurst auf das Pflaster. Ein rotes, gesundes Gesicht lachte knapp über ihn: ‘Alter Tepp, Zahltag is, vastehst!’
‘Ich bin...’ stotterte Siebenhirt, ‘lassen Sie mich’.
Der vierschrötige Bursche blies ihn mit Schnapsdunst an: ‘Krepier' halt, wannst net leben willst, blöder Hund. I hab 's guat g'mant als solidarischer, proletarischer Genosse’. Er zuckte die Schultern und verschwand in der Wolke.
Siebenhirt versuchte klar zu schauen. Vergebens. Kein Einzelbild formte sich ihm. Gespenstisch grellten die Laternen. Chaos war Form geworden, Sinn und Ziel. Gesichter flatterten auf... versanken. Gehörten sie Menschen? Leiber, zu Klumpen gepresst erbrachen Schreie, zerrieselten, balken sich neu, schoben vorwärts.
‘Im Krieg haben s'uns Bluat saufen g'lernt, Schnaps is g'sünder,’ gröhlte ein trunken humpelnder Invalide, ‘auf zum Exzelsior! Dort san die feinsten Trauben.’ Flaschen zerschellten, Wein rann über den Gehsteig. Der betrunkene Humpelmann schwang die Krücke: ‘Direktion Exzelsior. Sturm! Ententeschiaber hängen!’ Die Wolke donnerte Widerhall: ‘Exzelsior! Exzelsior!’
Und wehte gegen die Ringstrasse.
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Siebenhirt flatterte mit. Eingekeilt, gedrückt, geschoben, betäubt von Hall und Stoss, in einem wohligen Gefühl des Verlöschtseins. - Wachleute klebten hilflos an den Rändern der Wolke. Ihr Amtsmienen drückten die Bereitschaft aus, dem Naturerreignis zu begegnen, wenn es vorüber war. Der Portier ruderte mit den Armen der Sintflut entgegen, die über den Perserteppich der Halle lief. Er flog wie ein Ball gegen die Täfelung
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einer Wand, schnappte nach Luft und beteuerte gekränkt, dass er am Luxus unschuldig und nur Angestellter sei. In seine Loge gesperrt, verstummte er kläglich. Siebenhirt warf federnder Stoss in die Mitte des Raumes, gerade unter den strahlenden Glasluster. Er stolperte, sank weich in die Wolle des Teppichs ein, raffte sich auf und fand Halt an der spiegelnden Kante eines Tischchens. Mühselig begann er zu denken: Cogito - ergo sum. Was suche ich hier, was soll dass... um Gottes willen?!
Im Licht, in der warmen Gepflegtheit des Raumes löste sich Siebenhirts Wesenheit ganz langsam aus ihrer Ohnmacht. Er tastete nach seinem Ich und erschrack über die Ungeheuerlichkeit des Geschehens, dass sich erfüllte.
Der Teppich, auf dem er stand, klaffte kreischend auf und zerriss. Ein Tier auf zwei Beinen verrichtete seine Notdurft auf den eingewebten Sûren des Korans. Der Luster knallte und hagelte geschliffenes Glas. ‘Alles muass hin werden!’ heulten dumme Teufel. Heiss mühten sich sehnige Arbeitersfäuste, den ledernen Club-fauteuils die Haut abzuziehen.
‘Im Krieg war 's erlaubt als Belohnung für 's Morden,’ rief behaglicher Bass, ‘is Frieden? Ja, an Dreck, Krieg is, sag i! Krieg bis aufs Messer.’ Grimmig zerfetzt sanken die Leichen der Möbel auf das Parkett. Kostbarer Stuck bröckelte von den Mauern, nach dem lustigen Takt der Hömmer, die auf ihm tanzten.
Siebenhirt horchte, ein fernes Löcheln im fahlen Gesicht. Dies irae..., Gott zerstört sein Ebenbild. Warum aber hat er die Menschen erschaffen? Damit die einen zerschlagen, was die anderen bauen? Damit die einen leben vom Sterben der anderen? Dürf en die einen es so wunderbar gut haben, während die anderen draussen bleiben, unmündig, schmutzig, hungrig und darum bös?
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Warum verhärten die einen in der Fülle und die anderen in der Not? Siebenhirts Gedanken hämmerten: Ich habe Ekel und Abscheu vor den Plünderern, doch Mitleid nicht mit den Geplünderten. Ekel vor beiden. Gallenbitteren Geschmack im Munde knirschte der pensionierte Lehrer: ‘Fett statt Goethe - Goethe statt Fett. Beides müssen wir wieder haben, dann erst werden wir wieder Menschen sein. Auch ich.’ Und Tränen sickerten langsam über seine Wangen.
Die Einrichtung der Halle war kurz und klein geschlagen. Besoffene, Flaschen in den Händen, sangen das Lied der Arbeit. Ein paar rammten die Tür zum Speisesaal. Ein Herr im Pelz sprang furchtlos aus der Bresche. ‘Ich bin Engländer,’ rief er mit starker Beschwörung und hatte keinen Pelz mehr.
‘Engländer!’ wiederholte er, verdutzt drohend.
‘Dös macht nix,’ beruhigte eine gemütliche Stimme, und aufmerksame Hände versorgten ihm Uhr und Kette. ‘Engländer...’ flüsterte der furchtlose Herr und duckte sich hinter dem Wort wie hinter verbeultem Schild. ‘Uas maken Sie?’
‘An Ausgleich,’ tröstete es behaglich, und nahm ihm das Jackett. Da grüsste der Herr - wahrhaftig er faltete die gepflegten Hände und verbeugte sich mit einem bittenden Lächeln vor der schmutzigen Wolke. Sie liess ab von ihm. Er lief in grossen Sätzen hemdärmelig in das Dunkel.
Siebenhirt spürte unbändigen Lachreiz. Alle Erscheinungen heute waren von schrecklicher Traurigkeit gewesen: Fett für Goethe... die Wolke dann... das splitternde Spiegelglas... hungrige Gliedmassen, kribbelnd in Fleisch und Butter... die untätigen Wachleute an den Rändern der Verzweiflung... zerschnittene Perser, zerschlagene Luster, klein gehackte Möbel - oh, irrsinnig traurig war die Welt!
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Aber dieses Bild war aufregend lustig. Siebenhirt lachte laut. Er plusterte in das Krachen des grossen Buffetschrankes hinein, der unweit mit wildem ‘Hoh ruck!’ umgestürzt wurde.
Siebenhirt dachte: der Herr der Welt... haha! Blütenweiss in seiner Allmacht... mit Pelz und Uhr und schöner Wäsche... haha - verneigt sich, verbeugt sich vor dem schmutzigen Tier, das ihn beraubt. Faltet die Hände! Haha. Der Satz eines berühmten Sozialethikers sprang ihn höhnisch an: ‘Das Individuum ist etwas, das nicht aufhören will zu sein, noch nach seiner Art zu sein.’ Herrlich! Nach seiner Art! Scheinquell der Weisheit, an dürrem Schreibtisch erbohrt. Ich fasse ihn anders, ich, Siebenhirt, hungernder Lebenskünstler, der Goethe für Fett hingab: Alles Lebendige ist etwas, das nicht aufhören will, zu sein. - Nichts mehr und nichts weniger! Oh über das Individuum, das ihr zu sehen vermeint! Ist es des Einzelnen Wille und Wunsch, Spiegelglas zu zerschlagen, Teppiche zu beschmutzen, zu plündern? Sind Individuen willens nach ihrer Art zu sein, warum lassen sie sich dann zu Klumpen ballen für Schlachtfelder, Wählerversammlungen, Plünderungen? Hätte der Engländer sich verneigt zum Dank für die Plünderung, wenn er hörig seiner Wille geblieben wäre?
So ist es vielmehr. Schmerzenden Kopfes, gehöhlt von Hunger und Höhn, subsummierte Siebenhirt: das Individuum stirbt, sobald es an das Leben geht. Als der Engländer die Hände vor jenen faltete, die ihn beraubt hatten, hat das Leben in ihm um Gnade gebettelt. Das Individuum war tot, als der Mann merkte, dass ihn die ‘Organisation’ England vor der ‘Organisation’ Pöbel im Stiche lies.
Siebenhirt freute sich seiner Feststellung. An sein Wortankerchen geklammert, sah er ohne Erstaunen in
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die Verwüstung ringsum. Koffer polterten die Treppe herab, die zu den Passagierzimmern führte. Damenwäsche, duftig und weiss flog umher, sank in die Alkoholpfützen auf dem Parkett. Sie dünkte den schiefäugigen gepflegten Kerlen in feinen Pelzen und Lackschuhen wertlos, denn sie untersuchten die Reisetaschen nach Schmuck.
An Siebenhirts beschauliche Versonnenheit, stiess plötzlich eine Flasche. Eierkognac las er. Da lag sie wackelnd, schön gelb und rund, und sah ihn herausfordernd an. Eierkognac!
Er stiess mit dem Fusse nach ihr: Mach' fort! Was suchst du hier? Woher kommst du übrigens?
Aus dem Buffet bin ich, kicherte die Flasche, die Schwestern sind zerschlagen worden, ich bin noch ganz... rette mich! Hast du deiner armen kranken Frau nicht eine Ueberraschung versprochen? Bring' mich, ich habe den höchsten Nährwert. Soll mich der Teppich saufen wenn ich zertreten bin? Das wäre doch sinnlos. Soll mich der Kerl leer en, der meinen Schwestern den Hals gebrochen hat? Dem steig' ich ja doch wieder zum Kragen heraus, so ekelt mich vor ihm. Ich bin eine vornehme Flasche, ich hasse den Pöbel. Er ist so gemein.
Der Pöbel, der euch aus geschliffenen Gläsern trinkt, dachte Siebenhirt mit melancholischem Grimm, ist es um nichts weniger, als jener, der euch die Hälse bricht. Wie viel kostest du denn?
Fünftausend Kronen sonst, flüsterte die Flasche, aber heute... heute bin ich gratis. Niemandem gehöre ich mehr. Schenk' mich deiner Frau!
Wieder stiess Siebenhirt mit dem Fuss nach der dicken Flasche. Sie rollte ein wenig: Au, du Grobian! Du wirst es bereuen; ein solcher Tritt noch und ich muss ausrinnen. So nötig hätte mich deine Frau! Für Schwerkranke wurde ich geschaffen, für müde Herzen,
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dass sie sich erholen an meiner Kraft. Mein inner er Gehalt ist grösser als der der feinsten Braten, nicht einmal Vollmilch reicht an mich heran. Was hab' ich dir getan, dass du mich trittst für mein gutes Wollen? Siebenhirt sagte mühsam: Du gehörst dem Hotel.
In diesem Augenblick huschten aufgeregte Schatten vom Eingang her: ‘Versteckts euch. Polypen san da! Glei' hinter uns... paar hundert Mann.’
Fluss grauer Gestalten schwamm rasend schnell an Siebenhirt vorbei gegen das zertrümmete Tor. Erbarmen! flehte die Flasche, gestossen von tölpelnden Stiefeln, rette mich! Denk an deine Frau! Oh ich Aermste... - es prallte sie schmerzhaft an Siebenhirts Schienbein.
Strom kollernder Leiber schwämmte ihn vom Fleck, er bückte sich schnell und steckte die Flasche ein. Ende... ganz recht.., dachte er, aber warum soll sie zerstampft werden? Martha ist krank.
Aus khakifarbenem Wall dröhnte Posaunenton: ‘Hände hoch!’ und Revolver starrten.
Menschlein, schuldbewusst, angstvoll und blöde reekten gehorsam die Aerme gegen Himmel. Nur dieeleganten Kerle mit den scheuen Augen und geläufigen Händen, traten vornehm gelassen heran. ‘Wir sind Hotelgäste, pardon’, sagte ihr Führer sehr bestimmt auf französisch, ‘wollen Sie die Güte haben uns durchzulassen?’
Der Kommissär salutierte: ‘Schö fu prih, mossjöh’, und winkte einladend. Längsam entschlüpften die Kerle und hielten, distinguirt lächelnd, die Hände in den Taschen.
Ein Wachmann von biederem Aussehen riss dem wie an unsichtbarem Kreuz hängenden Siebenhirt die Flasche aus dem Havelok. Er schwenkte sie geniesserisch prüfend vor dem auf die Brust gesunkenen grauen
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Gesicht: ‘Schamens' Ihna, a alter, besserer Mensch in solchener Gesellschaft!’ Und er forschte böse mitleidig: ‘Schamens' Ihna net?’
Siebenhirt griff nach seinem Herzen. Er zitterte stark. ‘Ich bin... es ist... ich hab' nicht...’ stiess er hervor. ‘Sie sind in flagranti erwischt, da gibt 's keine Würsteln nicht,’ sagte der Wachmann in zwingendem Hochdeutsch und legte eine Hand auf Siebenhirts Schulter: ‘Ich erkläre Sie hiemit für verhaftet’.
An dieser Hand, die ihn hob und zog und nach Gefallen lenkte, ging der magere Körper des pensionierten Gymnasiallehrers willig in den grünen Zellenwagen ein.
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‘Es ist höchst merkwürdig,’ sagte der Vorsitzende und rollte milde Augen gegen Siebenhirt, ‘dass ein akademisch gebildeter Mensch in Ihrem Alter und von Ihrer Vergangenheit, sich in solche Gesellschaft begibt, in ihr gewissermassen durchhält.’
‘Und ganz im Stile dieser Gesellschaft ausharrt bis zum letzten,’ ergänzte der Staatsanwalt mit spitzem Blick nach der grossen, gelben Flasche auf dem Gerichtstisch. ‘Erklären Sie uns,’ fuhr der Vorsitzende fort, ‘warum sind Sie nicht gleich weggegangen, als Sie merkten, was sich vorbereitete? Es musste Ihnen doch alsbald klar geworden sein, dass Sie unter Elementen waren, die Böses im Schilde führten.’
Siebenhirt hob den gesenkten Kopf. Er sah leer zu der Tribüne empor. Im Nebel dort klumpten schwarz die Talare. Etwas abseits fing die Glatze des Verteidigers Oberlicht. Sie glänzte weiss. Siebenhirt starrte sie an. Er schwankte hin und her, griff nach seiner Uhrkette, tastete nach dem Hemdkragen, als ob er sich Luft machen wolle, und schwieg.
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Der Vorsitzende mahnte in väterlichen Brustton: ‘Fassen Sie sich, denken Sie nach!’
Der Staatsanwalt fiel schnell ein: ‘Ich will Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Sie sind mit der plündernden Menge bis vor das Hotel Excelsior gezogen und in das Vestibul eingedrungen. Ist das richtig?’
Siebenhirt schüttelte heftig den Kopf. Der Verteidiger wackelte energisch mit.
Der Staatsanwalt feixte: ‘Sie werden doch wohl die Fakta nicht leugnen wollen?!’
‘Es ist inmich eingedrungen,’ sagte Siebenhirt zögernd, ‘ich kann das nicht erklären... ich war nicht mehr. Es war.’
‘Ein interessantes Abstractum dieses “Es”, der grosse Unbekannte, meine Herren Geschworenen,’ grinste der Staatsanwalt.
‘Ich protestiere gegen solch kindliche Einschätzung psychologischer Phänomene!’ schrie der Verteidiger und seine Glatze flimmerte rötlich.
Der Vorsitzende räusperte sich: ‘Hm, ja - Sie wollen wohl sagen, Angeklagter, dass Ihre Selbstverantwortung erlosch, als Sie in der Masse staken, dass Sie als Individuum wehrlos wurden.’
‘Ich wusste, was ich tat,’ sagte Siebenhirt, ‘aber ich konnte nichts dagegen tun.’
Die Geschworenen schauten verdutzt, der Verteidiger rang die Hände und sprang auf: ‘Die wahrhaft mustergültige Definition für unwiderstehlichen Zwang, die der Angeklagte soeben gegeben hat, veranlasst mich zu einer Frage.’ Er wandte dem Gerichtshof das nervös zuckende Gesicht zu. ‘Waren Sie, meine Herren, ins besondere Sie, Herr Staatsanwalt, im Feld? Wenn nein, dann bedauere ich. Ich war achtzehn Monate vorn. Und darum fällt mir das psychische Phänomen des Sturmes ein. Tausend Menschen wollen den Tod
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nicht, keiner will ihn, und doch laufen sie willig in ihn hinein. Alle auf einmal, in einem Willen, der keinem von ihnen gehört und darum alle zwingt. Genau so meine Herren Geschworenen -’
Der Vorsitzende unterbrach: ‘Die Konklusionen bitte ich für das Plaidoyer zu sparen. Wir schreiten fort. Angeklagter Siebenhirt, Sie standen also plötzlich in der Halle. Um Sie herum wurde die Einrichtung zerschlagen, wurde geplündert. Was dachten Sie nun?’
Siebenhirt richtete sich steil auf: ‘Ich hatte keine Freude dran und kein Bedauern.’
Der Staatsanwalt machte eine Handbewegung zur Geschworenenbank, als ob er sagen wollte: Na, sehen Sie, da haben wir 's.
Der Vorsitzende zog die Brauen dreieckig hoch: ‘Sie stellen Ihrem sozialen Nivau ein Armutszeugnis aus, wenn Sie die sinnlose Zerstörung von Sachwerten kalt lässt. Menschen Ihres Standes haben gemeiniglich in solchen Lagen doch wohl noch ethisches Empfinden.’ Der Verteidiger rieb sich die Stirne, als wollte er dort einen Fleck wegwischen.
‘Ei jawohl,’ rief Siebenhirt und sah jetzt frei und furchtlos zu den schwarzen Klumpen hin, ‘ei jawohl habe ich ethisches Empfinden, aber seit ich Goethe verfüttern muss und jene, die ihn nicht lesen doch auf feinen Tellern speisen, und über Perserteppiche lustwandeln, seither habe ich, Gott verdamm' mich, kein Mitgefühl für zerbrochene Teller, zerschmissene Weinflaschen und zerschnittene Teppiche.’
‘Haben Sie mitgeplündert?’ Der Verteidiger warb mit bittenden Augen um ein Nein.
‘Das nicht,’ erwiderte Siebenhirt ruhig, ‘aber ich war ohne Anteilnahme an einer Welt, die während es vor ihren Türen stirbt, sich schamlos überfrisst.’
‘Es war Ihnen also quasi eine Genugtuung, dass geplün- | |
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dert wurde?’ fragte der Staatsanwalt lauernd. ‘Und was dachten Sie sich eigentlich als die Polizei kam?’
Das dünne Körperchen des pensionierten Gymnasiallehrers wuchs. Es reckte sich hoch, donnernd entsprangen ihm die Worte: ‘Ich hab mir gedacht, die Sterbenden sperrt man ein, die Lebendigen lässt man laufen. Dies irae... die Welt ist reif.’
‘Und haben die Flasche hier eingesteckt.’ Der Staatsanwalt wies triumphierend auf das corpus delicti.
Siebenhirt zuckte die Achseln und schwieg. Der Staatsanwalt bemerkte schmunzelnd, dass er auf jede weitere Frage verzichte.
In seinem äusserst objektiven Resüme hob der Vorsitzende einerseits den Mangel an moralischer Kraft hervor, der bei einem Intellektuellen vom Bildungsgrade des Angeklagten zweifellos erschwerend in das Gewicht falie, anderseits liess er als mildernd die Unbescholtenheit Siebenhirts wie die Willenlähmende Suggestion durch die Masse gelten.
Der Staatsanwalt trat mit Rücksicht auf die höhnische Verstocktheit des Angeklagten für den höchsten Strafsatz ein.
Der Verteidiger feierte Siebenhirt als den Märtyrer einer Epoch, die die Träger ihrer Kultur verkommen und verderben lasse, damit die lachenden Erben vierjähriger Barbarei, die Sieger und Schieber schön unter sich bleiben und in prunkvollen Asylen sich am Leichenraube mästen könnten. Als er vom tausendköpfigen Tier der Apokalypse sprach, das sich bereite diese ganze Unwelt zu verschlingen, brachen elegante Damen im Zuschauerraum in hystherischen Beifall aus, weil sie das gruslig-schöne fremdartige Bild nicht verstanden. Der Vorsitzende rügte gemütlich den Applaus.
Die Geschworenen zogen sich reich befruchtet zur Beratung zurück.
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Siebenhirt wurde mit Stimmen Mehrheit freigesprochen.
Der Verteidiger sprang ihn freudig an und beglückwünschte sich heftig zu seinem Erfolg.
Siebenhirt war ohne Freude. Er stolperte scheu aus dem grauen Gebäude in den klaren Wintertag hinaus. Vor dem nächsten Lebensmittelgeschäft blieb er stehen. Schweineschmalz blankte in der Auslage, daneben, in grossen schwarzen Zahlen: ein Kilogramm - K. 2200. Siebenhirt kalkulierte seinen Goethe mit dem betrüblichen Ergebnis, dass der Olympiër nach nur dreitägigen Zuwarten nicht einmal ein Kilo Schmalz wert geworden sei.
‘Die Welt ist reif,’ zitierte er und schlich heim.
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