De Stem. Jaargang 2
(1922)– [tijdschrift] Stem, De– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Buitenlandsche litteratuur
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gewachsen, während Theodora schliesslich unter der Last der ihrigen zusammenbricht und im Wahnsinn endet. Der Verschiedenheit beider Kulturkreise, die ja gewiss von ihren Dichtern nicht ohne das Bewusstsein innerer Affinität gewählt wurden, entspricht die Divergenz der Darstellung. Dort die eben aus primitiven Anfängen aufsteigende Kultur des fränkischen Reiches, hier die späte Pracht des oströmischen Kaisertums. Bei Lucka das Fieber und die Zerrissenheit des Mittelalters, bei der Koenig (obwohl ihr Buch, rein schulmässig betrachtet, ja auch im Mittelalter spielt) noch ein letztes Sonnenuntergangslächeln der sterbenden Antike. In ‘Fredegund’ steil ansteigende Handlung, balladeske Komposition, jähes Dahinstürzen der Ereignisse; in ‘Der heilige Palast’ bei allem Reichtum spannendster Geschehnisse etwas von der strömenden Ruhe des grossen Epos. Lucka ist Bildhauer, der seine Menschen mit wuchtigem Meissel aus dem widerstrebenden Stein hervorzwingt. Alma Johanna Koenig Malerin, die im Reichtum seltener Farben und in der bezaubernden Wirkung überraschend aufgesetzter Lichter schwelgt. In Luckas Sprache zuckt Qual und Krampf des mittelalterlichen Menschen; der Stil der Koenig bleibt inmitten des grössten Grauens beherrscht, fast kalt. Etwas von der unerbittlichen artistischen Souveränität der grossen französischen Erzähler lebt in dieser Sprache und der gewaltige Schatten Flauberts drängt sich mehr als einmal zum Vergleiche auf. Es ist charakteristisch für unsere vom Imperialismus bis in ihre letzten Grundvesten erschütterte Welt, dass das Problem des Machttriebes unsere Dichter nicht zur Ruhe kommen lässt; erfreulich auch, dass ihrer die meisten diesem Götzen den Gehorsam aufsagen und unermüdlich bestrebt sind, uns zu zeigen, wie dieser dämonische Instinkt sich selbst zerstören muss. Wie die beiden vorangehenden Bücher, paraphrasiert auch Otto Soykas Roman ‘Die Traumpeitsche’Ga naar voetnoot1) das Machtthema. Wer Soykas bisheriges Schaffen kennt, wird sich darüber nicht wundern. Er hat, wie vielleicht kein zweiter Schriftsteller unserer Zeit, dieses Phänomen zu seinem Spezial problem gemacht, er weiss mehr als andere um die schwarze Magie des Willens und die unpersönliche, aber umso furchtbarere Herrschaft des Geldes. In seinem gegenwärtigen Roman handelt es sich um die Erfindung, das Traumleben zu beherrschen und dadurch unbeschränkte Gewalt über die Gemüter der Menschen zu erlangen. In einer ausserordentlich geistvoll geführten Handlung zeigt uns der Verfasser, wie Erich | |
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Imra, der Held des Romans, an seinem eigenen Werkzeug zerbricht, wie sich schliesslich die Waffe gegen ihren Träger kehrt und sein Lebensglück vernichtet, zu dem sie ihm verhelfen sollte. Man könnte Soyka den Mathematiker unter unseren Dichtern nennen. Seine unerbittliche, felsenharte Logik durchwaltet auch die atemlose Spannung dieses seines neuesten Werkes, dessen letzter Wert in seinen grossen sittlichen Aspekten liegt. Auf den Trümmern seines Machtgedankens wird dem Helden und mit ihm dem Leser der Ausblick auf ein neues Reich zuteil, das Reich der gewaltlosen Liebe, das allerdings Erich Imra nur noch in seinen Träumen betreten wird. Der Gegenpol des Machttriebes ist die Liebe. In ihrem Zeichen ist ‘Vögelchen’Ga naar voetnoot1) entstanden, ein Roman der Schriftstellerin Friederike Maria Winternitz. ‘Vögelchen’ - so wird Arabella Mannsthal genannt, ein junges, elfenhaftes Weib, dessen kurzes, seltsam verworrenes Leben dem Leser in einem eigentümlich gedämpften, gleichsam sordinierten, aber äusserst kultivierten Stile erzählt wird. Die Handlung des Buches ist Nebensache. Dass Arabella von ihrem Stiefvater verführt und missbraucht wird, durch allerlei Abenteuer hindurchgeht, die grosse Liebe ihres Lebens findet und wieder verliert und schliesslich nach kurzer Ehe mit einem sympathischen Jugendfreunde lautlos erlischt - das alles ist nur Rahmen, bestimmt, der lieblichen Gestalt der Heldin Ort und Begrenzung zu geben. Sie selbst, Arabella, ist das ganze Buch. Alles übrige, selbst die wichtigsten Personen des Werkes, sind nur Anlässe, alle Nuancen dieser einen Seele zu entwickeln. Das Problem war: ein Letztes der Frauennatur zu zeigen, die Identität mit sich selbst, die nur das echte Weib ganz kennt, jene tiefe Unschuld der Sinne, die dem Manne versagt ist, weil er in sich nicht mehr einheitlich ist. Erst wenn die höheren Aufgaben des Geistigen dem Naturgebot gegenübertreten, entsteht das, was wir Sünde nennen. Darum geht Arabella rein durch alle Mysterien der Geschlechtlichkeit. ‘Vögelchen’ ist ein Buch der Liebe, aber noch mehr vielleicht ein Buch von der Heilig keit der Sinne. Befremdlich gegenwartsentrückt und antiquarisch mutet auf den ersten Blick der Titel von Felix Brauns neuestem Werk an. ‘Die Taten des Herakles’Ga naar voetnoot2) nennt es sich, und man fühlt sich zunächst versucht, an irgend eine artistische Umformung des alten griechischen Heldenmythus zu denken, eine Nachdichtung, die vielleicht unserem ästhetischen Bedürfnis mehr zu sagen hätte als unserem Gefühl. Aber bald wird man gewahr, dass dieses selt- | |
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sam schöne Buch in antiken Gewande ein ewiges Problem aufrollt, dass es um nichts geringeres geht als um die Heiligung der menschlichen Seele überhaupt, um die Erweckung eines neuen, höheren Lebens. In jene tiefbewegte Zeit hineingestellt, da die erste Morgenröte des Evangeliums über den zerbröckelnden Ruinen der alten Welt aufzuleuchten begann, wächst Heraclius, der Sohn des römischen Patriziers Gajus Sempronius Caecus, zunächst völlig in den harten, kämpferischen Traditionen des griechisch-römischen Heidentums auf. Sein Vater erzieht ihn, einem seltsamen Zeichen folgend, im Gedächtnis des Herakles, und der Knabe lernt es von frühester Kindheit an als seine Bestimmung begreifen, dass er dereinst dem göttlichen Vorbilde nacheifern müsse. Wie er, der sensitive, verträumte, über das Mass des Gewöhnlichen weiche Jüngling sich abquält, dieser Bestimmung zunächst im rein buchstäblichen, physischen Sinne gerecht zu werden, wie diese Mühe immer wieder an seiner körperlichen Unkraft und der Zartheit seines Wesens zuschanden wird, wie eine geheimnisvolle Macht ihn durch tausend Schicksale und Abenteuer hindurch der Lehre Christi entgegenführt, wie sich ihm die Aufgabe, die Taten des Herakles noch einmal zu tun, immer mehr ins Geistige umformt, bis er endlich, nach langer Irrfahrt, im Bekenntnis zum Evangelium und im Märtyrertod den Sinn seines Lebens begreift - das ist der Inhalt des wundervollen, aus reinster Sehnsucht geborenen, in eine erlauchte Sprache gegossenen Werkes. Unsagbar ist der Reiz des Schicksalhaften, der die Legende dieses Lebens vom Anfang bis zum Ende durchwaltet. Ein echter Dichter hat in diesem Buche dem tiefen, religiösen Drange unserer Zeit Gestalt und Wort geliehen. Wieder auf die Erde zurück führt uns Robert Hohlbaums ‘Grenzland’.Ga naar voetnoot1) Hohlbaum hat dem deutschen Lesepublikum trotz seiner Jugend und des Krieges, an dem er als Frontkämpfer teilnahm, schon eine stattliche Anzahl schöner Bücher geschenkt, so erst kürzlich den Roman ‘Der wilde Christian’,Ga naar voetnoot2) in dem das Leben des unglücklichen Dichters Johann Christian Günther mit feiner Poetenhand nachgezeichnet wird. ‘Grenzland’ führt uns in die unmittelbare Gegenwart, die Zeit nach dem Kriege. Kein einzelner Mensch ist hier der Träger der Handlung: das von seinem Stamme durch den Friedensvertrag abgetrennte deutsche Sudetenvolk selbst ist der Held des warmherzigen Buches. Eine Fülle von Schicksalen spielt sich vor unseren Augen ab, die verschiedenartigsten Persönlichkeiten, vom Dichter mit kla- | |
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rem Blick gesehen und mit festem Griffel gestaltet, ziehen an uns vorüber und erdulden, die einen mit zornigem Widerstand, die anderen mit mattherziger Resignation, die Folgen der grossen Umwälzung und das Leid der Fremdherrschaft. Das soziale Problem kreuzt sich mit dem nationalen, die Frage des Anschlusses an Deutschland wird aufgeworfen und von den Leidenschaftlichen, denen ihr Volkstum über alles geht, ungestüm bejaht, von den Vorsichtigen, die vor der Konkurrenz der grossen deutschen Industrie zittern, in behutsamen Wendungen, aber entschieden verneint. Einzelne, zumal Frauen, erliegen der Verführung der fremden Rasse. Trotzdem schliesst das wehmütige, von einer stillen Traurigkeit erfüllte Buch mit einem kräftigen Durklang: ein Menschenpaar, das sich gefunden, schreitet mit erhobenem Haupte, frohe Hoffhung im Herzen, zu neuer Arbeit ins harte Leben hinein, dem Dichter ein tröstliches Symbol deutscher Kraft und Tüchtigkeit. Auf wessen Seite Hohlbaum mit seinen Sympathien steht, weiss man von der ersten Zeile an. Umsomehr ehrt es den Menschen und Dichter Hohlbaum, dass er auch die wenigen Vertreter der fremden Nation, die in seinem Buche auftreten, ohne Hass gestaltet hat, ganz objektiv, ja zum Teile sogar nicht ohne Sympathie, wie zum Beispiel den czechischen Leutnant Vavrouch, dessen etwas düstere, aber von tiefstem sittlichen Ernst erfüllte Persönlichkeit ahnen lässt, dass vielleicht die Kluft zwischen deutscher und czechischer Art nicht unüberbrückbar sein müsste: denn über nationalen Unterschieden steht das Menschentum und wer es unternimmt, die wirklich positiven Kräfte des eigenen Volkstums zu wecken und lebendig zu erhalten, der arbeitet auch für die ganze Menschheit. Ich habe Hohlbaums Roman nicht ohne Absicht so ausführlich besprochen; es ist ein symbolisches Buch, trotz des scheinbar provinziell begrenzten Kreises, in dem es spielt. Wo immer unterdrückte Völker unter einer Fremdherrschaft seufzen, können sie in diesem Werke Trost finden: auch ihr Leiden und ihre Hoffnung ist in ihm gestaltet. Zum Schlusse sei noch eines merkwürdigen, aber geistvollen Capriccio Erwähnung getan. Es betitelt sich ‘Gespenster im Sumpf’Ga naar voetnoot1) und stammt aus der Feder des bereits durch eine grosse Anzahl von Werken rühmlich bekannten Dichters Karl Hans Strobl. Das Buch spielt einige Dezennien nach dem Kriege, der Schauplatz der Handlung ist Wien - ein sterbendes, in Rui- | |
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nen zerbröckelndes Wien, das von aller Welt abgeschnitten ist, um durch die Miasmen seiner Verwesung nicht die übrige, sich gesund dünkende Menschheit anzustecken. Das klingt gruselig genug, aber es zeigt sich bald, dass dieser Roman überhaupt in einer ganz anderen Realität spielt als der unsrigen und dass vielleicht der unerfreuliche Zustand Wiens nach dem Kriegsende für Strobl die Gelegenheitsursache war, den Ort der Handlung gerade in diese Stadt zu verlegen, dass aber seine Folgerungen doch mehr seiner Einbildungskraft als logischen Deduktionen aus den Tatsachen entstammen. So fasst man bald wieder Mut und gibt sich der frohen Hoffnung hin, dass es vielleicht doch so arg nicht kommen werde. Die Voraussetzungen des Verfassers eingeräumt, aber nicht allzu tragisch genommen, folgt man umso lieber dem Spiel seiner entfesselten Phantasie, die uns in rasendem Galopp über Stock und Stein trägt. Toller Spuk steigt auf, einem Alptraum vergleichbar. Durch verfallende Gassen, durch düstere, von gespenstischen Existenzen bewohnte Häuser geht der nächtliche Ritt. Vierdimensionale Dinge ereignen sich, seltsamste Geschehnisse werden wie Alltagsvorgänge hingenommen. Ab und zu gellt in das Grauen das Gelächter eines grotesken Humors, dann wieder schwebt geisterhaft das gute Lächeln des alten, lustigen Wien über dem irrsinnigen Treiben. Dass die wilde Phantastik der Handlung vom Anfang bis zum Ende von einem starken artistischen Willen gebändigt und im Zaume gehalten wird, dass der Plan des Ganzen trotz der verwirrenden Fülle der Ereignisse dem Leser immer klar und durchsichtig bleibt, ist nicht das kleinste Verdienst des mit erlesener Fabulierkunst erzählten Buches. Ein Capriccio - so nannte ich ‘Gespenster im Sumpf’ am Eingange meiner Besprechung, ohne jedoch mit dieser Bezeichnung die Qualitäten des Werkes ausschöpfen zu wollen. Denn dem aufmerksamen Leser offenbaren sich auch hier tiefere Zusammenhänge und Deutungsmöglichkeiten. Unsere ganze auf kalten Egoismus und Gewalt aufgebaute Zivilisation wird vom Dichter in Frage gestellt, und so ist auch Strobls Roman, richtig gelesen, ein Appell an das Kulturgewissen der ganzen Welt, ein Aufruf zu höherem Menschentum. |
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