De Stem. Jaargang 2
(1922)– [tijdschrift] Stem, De– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Fjodor Dostojewski
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alle Mühe auf, um sie aufzuheben. Endlich stellte ich sie auf die Beine und fing an, sie bei den Schultern zu schütteln. Sie zeigte einigemal das Bestreben, wieder zusammenzusinken, stellte sich aber plötzlich von selbst auf die Füsse, und in ihrem Blick leuchtete Neugier auf. Sie war erwacht; ich hatte mich nicht geirrt: sie war nicht mehr als zehn Jahre alt, aber sehr schlecht und leicht gekleidet; sie trug ein altes, zerrissenes, mit Watte gefüttertes Pelzchen ohne Ueberzug, das, nach den kurzen Armeln zu schliessen, die ihre kleinen, von der Kälte rotblauen Hände nicht zu verdecken vermochten, vielleicht schon das dritte Jahr diente. An den Füssen hatte sie übrigens dicke wollene Strümpfe und derbe Schuhe. Am Halse trug sie ein langes rauhes Handtuch; seine Enden hingen über die beiden Schultern herab, und an jedem Ende war ein länglicher Behälter aus geflochtener Rinde angebunden oder angenäht; die Behälter sahen wie Flaschenfutterale aus, und in jedem von ihnen steckte in der Tat eine Flasche. Diese Vorrichtung kannte ich schon von früher her: die Arbeiter pflegen Jungen oder Mädchen mit dieser Vorrichtung in eine Kneipe zu schicken, um Branntwein zu holen; die Behälter sollen verhindern, dass sie unterwegs die Flaschen zerschlagen. Die Kleine hatte sich aber im Torwege hingesetzt und war eingeschlafen. Wie mochte das geschehen sein? Lange Zeit begriff sie keine von meinen Fragen: wo sie wohne und wohin ich sie bringen solle. Sie sah mich nur mit ihren grossen schwarzen Augen an, aber ihr Blick wurde immer schärfer und schärfer. Endlich regten sich ihre Lippen, und sie flüsterte: ‘Erfro-o-ren!’ Sie sagte das schnell, nicht gerade klagend, eher unbewusst, und nicht ‘erfrorén’, sondern ‘erfro-o-ren’, wobei sie das ‘o’ scharf betonte und von mir keinen Blick wandte. | |
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‘Du wirst erfrieren, wo wohnst du denn? Komm mit, ich will dich heimbringen, komm!’ wiederholte ich immer eindringlicher. ‘Erfro-o-ren!’ entfuhr es ihr wieder. Ich ergriff ihre Händchen und schleppte sie mit, sie wollte nicht mitkommen. Ich begann sie zu überreden, holte aus der Westentasche ein Zwanzigkopekenstück und gab es ihr, ich weiss selbst nicht warum. Plötzlich besann sie sich gleichsam, wandte sich um und schlug schnell den Weg in der Richtung zum Boulevard ein. Ich ging ihr nach. Die Quergasse war sehr kurz, wir kamen bald auf den Boulevard, sie durchquerte ihn schnell, gelangte auf das gegenüberliegende Trottoir, blieb vor dem Tore eines der nächsten Häuser stehen und sagte: ‘Hier!’ Ich klopfte ans Tor, der Hausknecht kam verschlafen heraus, erblickte das Mädchen, murmelte etwas unwirsch und liess uns ein. Das Mädchen durchquerte den grossen Hof, gelangte durch ein anderes Tor in einen zweiten Hof, blieb plötzlich im hintersten Hofwinkel stehen, zeigte auf die Fenster im Kellergeschoss und sagte: ‘Ich geh nicht hin.’ Ich ergriff ihre Hand, hielt sie fest, damit sie nicht hinfalle, un klopfte an die Fenster. Ich klopfte lange, endlich ertönte irgendein Schimpfwort, und gleich darauf rief eine Frauenstimme: ‘Es ist ja Arischka, du lieber Himmel, es ist Arischka!’ Ich trat über die Schwelle, von wo aus zwei Stufen nicht hinauf, sondern hinunter führten, eine Tür ging auf, und ich gelangte in ein Zimmer. Mich umfing sofort eine schwüle, feuchte, stickige Luft. ‘Wer sind Sie denn, he, wer sind Sie?’ rief die Frau, als sie mich sah. ‘Ich habe Ihre Kleine hergebracht, sie ist beinah erfroren!’ schrie ich. | |
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‘Wo ist denn die Verdammte, wo ist das Aas!’ rief die Frau, indem sie die Kleine packte, und ich hörte im Finsteren, wie sie sie an den Haaren herumzuzerren begann. Die Kleine aber schwieg. Plötzlich leuchtete ein Licht auf, jemand hatte eine Kerze angezündet. Es war eine recht grosse Stube mit einem breiten Ofen in der einen Ecke, einem ungestrichenen hölzernen Tisch und zwei ebensolchen Stühlen in der anderen Ecke, Bänken längs der Wände, zwei kleinen Fenstern nach dem Hofe, einem schmutzigen Fussboden und einem Haufen Kleider und allerlei Lumpen an den Wänden. In dieser Stube schliefen wohl sieben oder acht Menschen, und alle schienen betrunken; sie lagen auf den Bänken, auf dem Ofen und selbst auf dem Fussboden. Der Mensch, der das Licht angezündet hatte, war ein schon ergrauter, kräftiger Mann, in einem Hemd, über dem er einen Rock trug. Er war betrunken, bewahrte aber eine ernste und wichtige Miene. Als er sah, dass die Frau die Kleine zu Boden geworfen hatte, rief er mit heiserer Stimme: ‘Die Flasche! Zerbrich die Flaschen nicht!’ Die Frau hörte auf, das Mädchen zu schlagen, die Kleine richtete sich auf, sah sich mit wilden Blieken um und rief plötzlich wieder wie früher: ‘Erfro-o-ren!’ In diesem Augenblick stieg von einer Bank ein vollkommen betrunkener, lahmer Bursche. Er hatte nur Unterwäsche an und war barfuss. Er torkelte auf das Mädchen zu, hob schweigend die Hand und liess auf sie aus aller Kraft die Faust niedersausen. Die Kleine fiel hin wie ein abgemähter Halm, der Bursche aber schwankte, brüllte etwas und fiel auch selbst zu Boden. Er war vollkommen betrunken. ‘Wie der sich besoffen hat!’ flüsterte der Grauhaarige. Ich schrie auf und stürzte mich zu der Kleinen, aber sie | |
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sprang van selbst auf; ich kann mich nicht mehr recht besinnen, was mit mir los war. Ich weinte laut, ich rief ihnen zu: ‘Es geht doch nicht, sie ist ganz erfroren, warum schlagt ihr sie? Warum?’ Ich rang die Hände, ich bat, ich flehte. Auch die anderen fingen zu erwachen an, zwei oder drei Köpfe hoben sich von den Bänken, Stimmen ertönten; der Grauhaarige stellte sich mit einem Lichtstummel in der Hand vor mich hin und musterte mich mit trunkener Wichtigkeit. Nur die Frau allein war wohl wenig betrunken und schien sich über mich sehr zu wundern. ‘Was wollen Sie denn?’ sagte sie plötzlich. - ‘Sie ist doch wirklich ein Aas, Sie kennen sie nicht, wenn sie etwas nicht will, so kann man sie mit einem Holzscheit erschlagen! Ich habe sie um elf weggeschickt, sie wollte nicht gehen. “Ich geh halt nicht!” Wo bist du bis jetzt gewesen, Hündin? Die Verfluchte hat dem kleinen Kinde eine Stecknadel in den Rücken gebohrt, sie wollte es nicht herumtragen! Ihre Mutter ist tot, sie gehört jetzt niemand, wenn sie doch verrecken wollte, die Verfluchte, so sitzt sie mir aber auf dem Halse!’ ‘Sie hat also keine Mutter, ist eine Waise?’ schrie ich plötzlich. Ich weiss nicht, was mit mir plötzlich geschah: ich fiel über Arischa her, umarmte sie und begann sie zu küssen. Ich beschreibe es zwar nicht buchstäblich, bemühe mich aber, es nach dem mir gebliebenen Eindruck zu schildern. Vielleicht besinne ich mich nicht auf vieles, aber ich habe auch damals vieles übersehen. Ich erinnere mich nur, dass Arischa so flink wie eine Katze auf den Ofen kletterte, sich dort in einem Winkel zusammenkrümmte und mich von dort aus mit neugierigen, wie bei einem Tiere wilden Augen betrachtete. ‘Wer sind Sie denn?’ fragte jemand. ‘Ist vielleicht betrunken...’ | |
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Die Frau schwieg, sah mich aber durchdringend an und kam schliesslich ganz dicht an mich heran. ‘Sie haben hier nichts zu suchen... Es ist Unfug... Jetzt ist Nacht, es ist Schlafenszeit, hier ist die Tür!’ Sie rückte gegen mich vor und drängte mich zur Tür. Ich besann mich plötzlich auf alles Meine und wunderte mich über mich selbst. ‘Was habe ich hier zu suchen?’ ging es mir durch den Kopf. Ich drehte mich um und lief hinaus. In grösster Hast suchte ich den Hausknecht auf, damit er mir öffne, und als ich auf der Strasse war, lief ich schnell über das Trottoir und gelangte auf die gleiche Nebengasse. Als ich jenes Tor erreichte, schlug ich meinen Pelz vorn zu und setzte mich in den Schnee, in die gleiche Ecke, wo die Kleine gesessen hatte. ‘Nun,’ dachte ich mir, ‘ich werde hier einschlafen wie Arischa.’ Da erinnerte ich mich, dass ich einmal in einer Zeitung gelesen hatte, ein Droschenkutscher sei einmal in einer Frostnacht auf dem Bocke seines Schlittens eingeschlafen und erfroren. Folglich kann man auch in einem Pelzmantel einschlafen und erfrieren. Nun, ich werde sitzen, ich werde einschlafen und erfrieren. Alles ist gestorben, also werde auch ich sterben. |
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