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Die Beichte Stawrogins
Drei unveroffentlichte Kapitel aus dem Roman ‘Die Teufel’
Von F.M. Dostojevsky
Sinds het in de Piper-uitgave verschenen is, weten alle lezers van Dostojevsky, dat het derde hoofdwerk van Dostojevsky ‘die Dämonen’ in zeer onvolledigen vorm tot ons is gekomen. Een der belangrijkste hoofdstukken bleek te ontbreken. Dit hoofdstuk werd door Dostojevsky voltooid, het werd zelfs gedrukt, doch, waarschijnlijk op het laatste oogenblik, uit den tekst losgemaakt en ter zijde gelegd. ‘Afgrijselijk naturalisme’ was het bezwaar van Dostojevsky's omgeving tegen dit gedeelte der ‘Dämonen’. - Het gemis van dit hoofdstuk is den lezer van Dostojevsky altijd een hindernis geweest. Men kon feitelijk alleen maar met voorbehoud spreken van de ‘Dämonen’, en zijn hoofdfiguur Stafrogin, - het voorbehoud van ‘het onbekende hoofdstuk’. Want dat het van essentieele beteekenis zou zijn voor het begrip van dit gansche soms zoo raadselachtige werk van Dostojevsky, dit kon men van tevoren vrijwel vaststellen. Het behelsde namelijk ‘de biecht van Stafrogin’, - het was dus, in het verloop van den ganschen roman, de plaats waar ‘Stafrogin de zwijgende’ tot spreken kwam, en waar de sluier van zijn verleden, dat als een levende aanwezigheid alle conflicten van den roman beheerscht, werd opgeslagen. En juist deze centrale bladzijden moest men missen. In de mate dan ook, dat de Dostojevsky-problemen intenser beleefd en doordacht werden in het intellectueele West-Europa, in diezelfde mate steeg het verlangen, dit nog ontbrekende hoofdstuk eindelijk te leeren kennen. Het bleef echter ontoegankelijk, en zelfs aan den meest onbevangen litteratuur-onderzoeker bleef mevrouw Dostojevsky de inzage van deze bladzijden weigeren.
Na den dood van mevrouw Dostojevsky was het te verwachten dat het geheimzinnige manuscript niet lang meer verborgen zou blijven. Den 12den November 1921 werd in het Staatsarchief
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te Moskou, van regeeringswege, een kist met papieren van Dostojevsky geopend, en daarin bevond zich ook de drukproef van het bedoelde hoofdstuk. Het is der Redactie van ‘de Stem’ een vreugde, dit manuscript hier te mogen publiceeren.
Het bezwaar van ‘afgrijselijk naturalisme’ dat in dit fragment overheerschen zou, kan thans, nu wij door het Fransche en Hollandsche naturalisme zijn heengegaan, nog slechts een glimlach oproepen. - Integendeel: Dostojevsky, die de meest verslindende menschelijke hartstochten heeft beschreven, heeft dit immer weten te doen met een bijna wonderbaren innerlijken en uiterlijken tact, en deze tact verloochent zich dan ook geen oogenblik in de enkele waarlijk huiveringwekkende passages, die in deze ‘Beichte Stawrogins’ verwacht konden worden en ook inderdaad aanwezig zijn.
Verder zullen wij dit weergevonden fragment van een der grootste werken, die de menschheid voortgebracht heeft, door geen commentaar ontsieren. Wij willen alleen nog maar opmerken, dat de lezer dit fragment in gedachten moet plaatsen aan den ingang van het Tweede Deel der ‘Dämonen’. Wijvangen de publicatie aan, daar waar de Piper-Ausgabe afbreekt. In de Jubileum-uitgave van 1906 heeft mevrouw Dostojevsky n.l. reeds een klein fragment van dit achtergehouden stuk gepubliceerd, - dat ook als ‘Zweiter Anhang’ gepubliceerd is in de Piper-Ausgabe. - Stafrogin begeeft zich daarin naar het klooster, waar de Bisschop Tichon teruggetrokken woont. Deze Bisschop Tichon wordt door velen als een heilige vereerd, door anderen als een geesteszwakke uitgelachen. In het hartstochtelijke, nachtelijke gesprek met Schatov is deze naam reeds genoemd: Schatov smeekt Stafrogin, naar Tichon te gaan en daar verlichting te vragen voor den ondragelijken nood van zijn ziel. Verstrooid belooft Stafrogin het. Nu gaat hij inderdaad. Het is half elf in den ochtend. Hij wordt door Tichon ontvangen en een gesprek ontstaat. In den loop van het gesprek vraagt Stafrogin o.a. of Tichon aan de werkelijkheid ‘van verschijningen, van hallucinaties’ gelooft. Hij zegt dat ‘hij niet geheel gezond is.’ Zijn blik valt op den bijbel, de beroemde passage van de ‘lauwen en de brandenden’ treft hem scherp. Ten slotte haalt Stafrogin een manuscript te voorschijn en vraagt den Bisschop, het in zijn tegenwoordigheid te willen lezen. Het Piper-fragment eindigt met de woorden ‘Und Tichon las also folgendes....’
Met deze woorden beginnen wij onze publicatie.
Red.
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Tichon las also folgendes:
Von Stawrogin.
Ich, Nikolai Stawrogin, Offizier a. D. lebte im Jahre 186* in Petersburg, der Unzucht ergeben, in der ich keinen Genuss fand. Eine Zeit lang hatte ich drei Wohnungen. In der einen, die ich möbliert, mit Verpflegung und Bedienung mietete, wohnte ich selbst; in dieser wohnte auch Marja Lebjadkina, meine jetzige legitime Gattin. Die anderen Wohnungen hielt ich mir monatlich für meine Intrigen: in der einen empfing ich eine Dame, die mich liebte, und in der anderen ihr Dienstmädchen; eine Zeitlang beschäftigte mich sehr der Plan, die beiden zusammenzuführen, so dass die Dame und die Dirne sich bei mir begegneten. Da ich die Charaktere der beiden kannte, erwartete ich von diesem Scherz ein grosses Vergnügen.
Als ich auf diese Begegnung nach und nach hinarbeitete, musste ich eine dieser beiden Wohnungen, die sich in einem grossen Hause in der Gorochowaja befand, öfter aufsuchen, da das Dienstmädchen hierher zu kommen pflegte. Hier hatte ich nur ein Zimmer im vierten Stock, das ich bei einer russischen Kleinbürgersfamilie mietete. Die Leute selbst wohnten nebenan im anderen Zimmer, das so eng war, dass die Tür zwischen den beiden Zimmern immer offen stand, und das war mir gerade erwünscht. Der Mann war in irgendeinem Komtor angestellt und vom Morgen bis zum Abend nicht zu Hause. Die Frau, eine etwa vierzigjährige Person, schnitt etwas zu und nähte alte Sachen zu neuen um; auch sie ging oft aus dem Hause, um ihre Näharbeit abzuliefern. Ich blieb dann allein mit ihrer Tochter, die noch ganz wie ein Kind aussah, in der Wohnung. Sie hiess Matrjoscha. Die Mutter hatte sie lieb, schlug sie aber oft und schrie sie schrecklich an, wie es solche Menschen zu tun pflegen. Dieses Mädchen bediente mich und räumte bei mir
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hinter der spanischen Wand auf. Ich erkläre, dass ich die Nummer des Hauses vergessen habe. Jetzt weiss ich nach Erkundigungen, dass das alte Haus abgebrochen worden ist und dass an Stelle von zwei oder drei alten Häusern ein neues, sehr grosses steht. Ich habe auch den Familiennamen meiner Kleinbürger vergessen (vielleicht habe ich ihn auch damals nicht gewusst). Ich erinnere mich nur, dass die Kleinbürgerin Stepanida, ich glaube, Michailowna hiess. Seiner erinnere ich mich nicht mehr. Ich denke, dass man, wenn man ordentlich suchen und die nötigen Erkundigungen bei der Petersburger Polizei einziehen wollte, die Spuren leicht auffinden könnte. Die Wohnung befand sich im Hofe, in einer Hausecke. Dies alles spielte sich in Juni ab. Das Haus war von hellblauer Farbe.
Einmal verschwand von meinem Tisch ein Federmesser, das ich gar nicht brauchte und das nur so herumlag. Ich sagte es der Wirtin, dachte aber dabei nicht im entferntesten, dass sie die Tochter mit Ruten züchtigen würde. Die Frau hatte aber soeben die Kleine wegen irgendeines verloren gegangenen Lumpens ausgeschimpft, und sogar an den Haaren gezerrt, weil sie sie im Verdacht hatte, ihn gestohlen zu haben. Als aber dieser selbe Lumpen sich unter dem Tischtuch fand, wollte die Kleine kein Wort des Vorwurfes sagen und blickte nur schweigend vor sich hin. Ich sah es und merkte mir bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal das Gesicht der Kleinen, das ich bisher nur flüchtig mit den Blicken gestreift hatte. Sie war hellblond und hatte viele Sommersprossen, das Gesicht war gewöhnlich, es war aber viel Kindliches und Stilles, ausserordentlich Stilles darin. Der Mutter missfiel es, dass die Tochter ihr wegen der unverdienten Strafe kein Wort sagte, und hob über sie die Faust, schlug sie aber nicht. Da kam gerade die Geschichte mit meinem Federmesser. Die Frau wurde
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wütend, weil sie das Kind zuerst ungerechterweise geschlagen hatte; sie lief zum Besen, riss mehrere Ruten heraus und züchtigte das Mädchen vor meinen Augen so, dass es rote Striemen bekam, obwohl das Kind schon beinahe zwölf Jahre alt war. Matrjoscha schrie während der Rutenstrafe nicht, wahrscheinlich, weil ich zugegen war, schluchzte aber sonderbar bei jedem Schlage. Dann schluchzte sie noch eine ganze Stunde später sehr laut. Vorher hatte sich aber dieses ereignet: im selben Augenblick, als die Wirtin sich zum Besen stürzte, um Ruten daraus zu reissen, fand ich das Federmesser auf meinem Bett, auf das es irgendwie vom Tische gefallen war. Mir kam sofort der Gedanke, es ihnen nicht zu sagen, damit die Kleine ihre Ruten bekomme. Dieser Entschluss war in mir augenblicklich gereift; in solchen Fällen stockt mir immer der Atem. Aber ich will dies alles in bestimmteren Worten berichten, damit nichts mehr verborgen bleibe.
Jede schändliche, masslos erniedrigende, gemeine und, vor allem, lächerliche Lage, in der ich mich in meinem Leben befand, erregte in mir immer neben einem grenzenlosen Zorn auch einen grenzenlosen Genuss. Ebenso war es auch in Augenblicken von Verbrechen und Lebensgefahr. Hätte ich etwas gestohlen, so würde ich beim Verüben des Diebstahls einen Rausch in der Erkenntnis der Tiefe meiner Gemeinheit empfunden haben. Ich liebte nicht die Gemeinheit (meine Vernunft blieb dabei immer intakt), aber mir gefiel der Rausch, den ich im schmerzvollen Bewusstsein meiner Niedrigkeit fand. Ebenso hatte ich diese selbe schändliche und tolle Empfindung, so oft ich an der Barriere in der Erwartung des Schusses eines Gegners stand, einmal war es ganz besonders stark. Ich gestehe, dass ich dieses Gefühl oft selbst suchte, denn es war für mich stärker als alle ähnlichen. Wenn ich eine Ohrfeige bekam (ich
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bin in meinem Leben zweimal geohrfeigt worden), so hatte ich auch dann, trotz des schrecklichen Zornes, dasselbe Gefühl. Wenn ich aber dabei den Zorn zurückhielt, so übertraf der Genuss alles, was man sich vorstellen kann. Ich habe es noch keinem Menschen erzahlt, selbst andeutungsweise nicht, habe es immer als eine Schmach und Schande verheimlicht. Als man mich einmal in einer Petersburger Kneipe fürchterlich prügelte und an den Haaren herumzerrte, hatte ich dieses Gefühl nicht, sondern empfand nur, ohne betrunken zu sein, eine masslose Wut und wehrte mich gegen die Schläge. Hätte mich aber im Auslande jener französische Vicomte, der mich einmal geohrfeigt hat und dem ich dafür den Unterkiefer weggeschossen habe, bei den Haaren gepackt und niedergedrückt, so würde ich einen berauschenden Genuss und dabei vielleicht gar keinen Zorn empfunden haben. So schien mir damals.
Das alles sage ich, damit jedermann wisse, das dieses Gefühl mich niemals ganz gefangen nahm, und dasz ich vielmehr immer beim vollsten Bewusstseinblieb (alles beruhte ja auf dem Bewusstsein). Es bemächtigte sich meiner zwar bis zum Wahnsinn, oder sozusagen bis zum Trotz, aber niemals bis zur Bewusstlosigkeit. Wenn es in mir sogar in hellen Flammen stand, konnte ich es dennoch vollstandig beherrschen und selbst auf seinem höchsten Punkt zum Stillstand bringen, allein ich wollte es niemals zum Stillstand bringen. Ich bin überzeugt, das ich mein ganzes Leben wie ein Mönch leben könnte, trotz der tierischen Lüsternheit, mit der ich begabt bin und die ich auch in den anderen immer weckte. Wenn ich will, bin ich immer Herr meiner selbst. Ich erklare also, dass ich meine Verbrechen weder durch das Milieu noch durch Krankheiten zu rechtfertigen suche. Als die Exekution zu Ende war, steckte ich das Messer in meine Westentasche, ging, ohne ein Wort zu sagen,
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aus dem Hause und warf es, als ich mich weit vom Hause entfernt hatte, auf die Strasse, damit es kein Mensch erfahre. Dann wartete ich zwei Tage ab. Die Kleine war, nachdem sie sich ausgeweint hatte, noch schweigsamer geworden; gegen mich hegte sieaber ich bin davon überzeugt, kein feindseliges Gefühl. Es war übrigens wohl auch einige Scham dabei, dass man sie auf diese Weise in meiner Gegenwart bestraft hatte. Aber auch für diese Schande machte sie, da sie noch eind Kind war, sicher nur sich selbst verantwortlich.
Damals, in diesen zwei Tagen steilte ich mir einmal die Frage, ob ich im Stande sei, einen gefassten Entschluss aufzugeben, und ich fühlte sofort, dass ich dazu wohl im Stande sei und es in jedem Augenblick tun könne. Urn jene Zeit trug ich mich auch mit Selbstmordgedanken herum, infolge einer krankhaften Gleichgültigkeit; ich weiss übrigens selbst nicht, warum. An einem dieser zwei oder drei Tage verübte ich (da ich unbedingt abwarten wollte, dass die Kleine alles vergesse), und wohl auch um mich von den mich verfolgenden Gedanken abzulenken, oder auch nur zum Spass, in meiner Pension einen Diebstahl. Es war der einzige Diebstahl meines Lebens.
In dieser Pension nisteten viele Leute. Unter anderem wohnte hier mit seiner Familie in zwei möblierten Zimmerchen ein Beämter von etwa vierzig Jahren, nicht dumm, von anständigem Aussehen, aber arm. Ich verkehrte mit ihm nicht, und er fürchtete die Gesellschaft, die mich dort umgab. Er hatte soeben seinen Gehalt von fünfunddreissig Rubel bekommen. Vor allem bewegte mich dazu, dass ich in jenem Augenblick tatsächlich Geld brauchte (obwohl ich nach vier Tagen welches mit der Post erhielt), so dass ich gleichsam aus wirklicher Not und nicht zum Spass den Diebstahl beging. Ich machte es frech und offen: ich trat einfach in sein Zim- | |
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mer, als er, seine Frau und die Kinder in der anderen Kammer zu Mittag assen. Auf dem Stuhle dicht neben der Tür lag zusammengefaltet sein Uniformrock. Dieser Gedanke hatte mich schon im Korridor durchzuckt. Ich steckte die Hand in die Tasche des Rockes und zog ein Portemonnaie hervor. Der Beamte hörte aber das Geräusch und sah aus der Kammer heraus. Er hatte es, glaube ich, sogar gesehen, jedenfalls etwas davon; da er aber nicht alles gesehen hatte, so traute er natürlich seinen Augen nicht. Ich sagte, dass ich aus dem Korridor in sein Zimmer hineingeschaut hätte, um auf seine Wanduhr zu sehen. ‘Sie steht’, antwortete er, und ich ging hinaus.
Um jene Zeit trank ich viel und hatte in der Pension eine ganze Kumpanei, zu der auch Lebjadkin gehörte. Das Portemonnaie mit dem Kleingeld warf ich fort und behielt mir nur die Banknoten. Es waren zweiunddreissig Rubel, drei rote und zwei gelbe Scheine. Ich liess sofort einen roten Schein wechseln und Champagner bringen; dann schickte ich auch den anderen roten Schein wechseln und nach ihm den dritten. Nach etwa vier Stunden, es war schon Abend, fing mich der Beamte im Korridor ab.
‘Nikolai Wsewolodowitsch, als Sie vorhin zu mir hereinkamen, haben Sie da nicht zufällig meinen Rock vom Stuhle geworfen?... Er lag neben der Tür’.
‘Nein, ich kann mich nicht erinnern. Lag denn ein Rock da?’
‘Gewiss.’
‘Auf dem Fussboden?’
‘Erst auf dem Stuhle und dann auf dem Fussboden.’
‘Haben Sie ihn aufgehoben?’
‘Gewiss’.
‘Was wollen Sie dann noch?’
‘Nun, in diesem Falle nichts....’
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Er wagte nicht zuendezusprechen, wagte auch nicht, es jemand in der Pension zu erzählen, - so scheu sind oft diese Menschen. In der Pension hatten vor mir übrigens alle grosse Angst und einen tiefen Respekt. Später liebte ich es, ihm mit den Blieken zu begegnen, an die zwei Mal im Korridor. Bald wurde ich aber dessen überdrüssig.
Nach drei Tagen kehrte ich in die Gorochowaja zurück. Die Mutter war eben im Begriff, mit einem Pack Sachen fortzugehen; der Kleinbürger war natürlich nicht zu Hause; so blieben nur ich und Matrjoscha in der Wohnung. Die Penster standen offen. Im Hause wohnten lauter Handwerker, und den ganzen Tag hörte man in allen Stockwerken hämmern und singen. Wir waren schon eine Stunde zusammen. Matrjoscha sass in ihrer Kammer auf einem Schemel mit dem Rücken zu mir und machte etwas mit einer Nadel. Plötzlich fing sie leise zu singen an, sehr leise, wie sie es manchmal zu tun pflegte. Ich zog die Uhr aus-der Tasche, es war zwei. Mein Herz fing an zu klopfen. Ich stand auf und schlich mich an sie heran. Sie hatten auf den Fensterbrettern viele Geranientöpfe stehen, und die Sonne schien schrecklich grell herein. Ich setzte mich leise auf den Boden neben sie. Sie fuhr zusammen und erschrak im ersten Augenblick furchbar und sprang auf. Ich nahm ihre Hand und küsste sie leise; dann zwang ich sie wieder auf den Schemel und fing an, ihr in die Augen zu schauen. Dass ich ihr die Hand geküsst hatte, kam ihr als einem Kinde plötzlich komisch vor, aber das dauerte nur eine Sekunde, denn sie sprang gleich wieder auf, diesmal so sehr erschrocken, dass ihr durchs Gesicht ein Krampf lief. Sie sah mich mit entsetzlich unbeweglichen Augen an, ihre Lippen zuckten, als wolle sie weinen, aber sie schrie dennoch nicht auf. Ich küsste ihr wieder die Hand und nahm sie auf den Schoss. Da
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rückte sie plötzlich mit ganzem Körper weg und lachelte wie vor Scham, es war aber ein eigentümliches schiefes Lächeln. Ihr ganzes Gesicht glühte vor Scham. Ich flüsterte ihr immer etwas zu, wie betrunken. Schliesslich geschah etwas so Seltsames, was ich niemals vergessen werde und was mich in Erstaunen setzte: die Kleine umschlang meinen Hals mit den Armen und fing plötzlich selbst an, mich wahnsinnig abzuküssen. Ihr Gesicht drückte vollkommenes Entzücken aus. Ich war nahe dabei, aufzustehen und wegzugehen, - so unangenehm war es mir an dem kleinen Geschöpf, aus Mitleid, das ich plötzlich spürte.
Als alles zuende war, wurde sie verlegen. Ich versuchte gar nicht, ihr etwas auszureden, und liebkoste sie nicht mehr. Sie sah mich an und lächelte scheu. Ihr Gesicht kam mir auf einmal dumm vor. Schliesslich bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und stellte sich unbeweglich in die Ecke, mit dem Gesicht zur Wand. Ich fürchtete, sie würde wieder wie vorhin erschrecken und ging schweigend aus dem Hause.
Ich glaube, sie hat das Vorgefallene zuletzt mit Todesgrauen als etwas grenzenlos Hässliches aufgenommen. Trotz der russischen unflätigen Schimpfworte und aller sonderbaren Gespräche, die sie von den Windeln an gehört haben musste, bin ich vollkommen davon überzeugt, dass sie nichts davon verstand. Zuletzt hatte sie sicher den Eindruck, ein ungeheures Verbrechen begangen zu haben, an dem sie die Todsünde trüge, als hätte sie ‘Gott ermordet’.
In der folgenden Nacht hatte ich die Prügelei in der Kneipe, die ich schon flüchtig erwähnt habe. Aber ich erwachte am nächsten Morgen in meiner Pension; Lebjadkin hatte mich heimgebracht. Mein erster Gedanke nach dem Erwachen war: ob sie es gesagt hatte oder nicht. Es war der Augenblick einer wirklichen
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Angst, wenn auch keiner allzu grossen. Ich war sehr heiter an jenem Morgen und ungewöhnlich gut gegen alle, und die ganze Kumpanei war mit mir sehr zufrieden. Ich verliess sie aber und ging in die Gorochowaja. Ich traf sie schon unten im Flur. Sie kam eben aus dem Laden, wohin man sie nach Cichorie geschickt hatte. Als sie mich erblickte, schoss sie in unsagbarer Angst die Treppe hinauf. Als ich eintrat, hatte ihr die Mutter bereits eine Ohrfeige gegeben, weil sie ‘wie verrückt’ in die Wohnung gestürzt sei, und das verdeckte die wahre Ursache ihres Schreckens. Also war vorläufig alles ruhig. Sie hatte sich irgendwohin verkrochen und kam, während ich in der Wohnung war, nicht zum Vorschein. Ich blieb eine Stunde da und ging.
Gegen Abend fühlte ich wieder Angst, aber schon unvergleichlich stärker. Natürlich hatte ich alles leugnen können, aber man könnte mir das Verbrechen dennoch nachweisen, und mir schwebte schon das Zuchthaus in Siberien vor. Ich habe in meinem ganzen Leben ausser diesem einen Fall, weder vorher, noch nachher Angst gehabt. Am allerwenigsten vor Siberien, obwohl ich schon mehr als einmal verschickt werden konnte. Diesmal war ich aber wirklich erschrocken und empfand eine wirkliche Angst, ich weiss selbst nicht warum, zum erstenmal in meinem Leben, ein sehr qualvolles Gefühl. Ausserdem überkam mich am Abend in meiner Pension ein solcher Hass gegen sie, dass ich mich entschloss, sie zu töten. Mein Hass beruhte vor allen Dingen auf der Erinnerung an ihr Lächeln. In mir wuchs eine Verachtung, verbunden mit einem grenzenlosen Abscheu, bei der Erinnerung daran, wie sie sich nach dem Vorgefallenen in die Ecke gestürzt und das Gesicht mit den Händen bedeckt hatte; meiner bemächtigte sich eine unbeschreibliche Wut, darauf folgte ein Schüttelfrost, und als ich gegen Morgen Fieber bekam, fühlte ich
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wieder Angst, diesmal mit einer solchen Qual, wie ich sie vorher nie gekannt habe. Ich hasste aber nicht mehr das Mädchen, jedenfalls erreichte der Hass nicht mehr den Paroxysmus wie am Abend. Ich habe bemerkt, dass eine grosse Angst den Hass und Rachedurst vollkommen vertreibt.
Ich erwachte gegen Mittag, gesund, und wunderte mich sogar über die Kraft meiner gestrigen Eindrücke. Ich war jedoch schlechter Laune und musste, trotz meines Abscheus, wieder in die Gorochowaja gehen. Ich erinnere mich noch, dass ich damals ein grosses Verlangen spürte, unterwegs einen Streit mit irgendjemand zu haben, aber nur einen ernsthaften. Als ich in die Gorochowaja kam, traf ich in meinem Zimmer Nina Ssaweljewna an, das Dienstmädchen, das schon seit etwa einer Stunde auf mich wartete. Dieses Mädchen liebte ich gar nicht, und sie hatte darum ein wenig gefürchtet, dass ich ihr wegen des unerwarteten Besuches zürnen würde. Aber ich freute mich plötzlich, sie bei mir zu sehen. Sie war gar nicht übel, aber bescheiden und hatte Manieren, wie sie den Kleinbürgern gefallen, so dass meine Wirtin sie mir schon seit langem lobte. Ich traf sie beide beim Kaffeetrinken an; meine Wirtin war mit der angenehmen Unterhaltung ausserordentlich zufrieden. In der Ecke ihrer Kammer bemerkte ich Matrjoscha. Sie stand da und sah ihre Mutter und den Besuch regungslos an. Als ich eintrat, versteckte sie sich nicht mehr wie damals und lief auch nicht davon. Mir schien bloss, dass sie sehr abgemagert sei und Fieber habe. Ich war freundlich zu Nina und schloss die Tür zu der Wirtin, was ich schon lange nicht getan hatte, so dass Nina sehr erfreut wegging. Ich begleitete sie selbst hinaus und kam dann zwei Tage nicht mehr in die Gorochowaja. Es langweilte mich schon. Ich hatte
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mich entschlossen, allem ein Ende zu machen, die Wohnung zu kündigen und Petersburg zu verlassen.
Als ich aber kam, um die Wohnung zu kündigen, traf ich die Wirtin in Unruhe und Kummer an: Matrjoscha war schon den dritten Tag krank, hatte jede Nacht Fieber und phantasierte. Natürlich fragte ich, worüber sie phantasiere (wir sprachen ganz leise in meinem Zimmer), und die Wirtin flüsterte mir zu, es seien ‘schreckliche Dinge’: ‘sie hatte Gott ermordet’. Ich schlug ihr vor, auf meine Kosten einen Arzt zu holen, aber sie wollte es nicht: ‘So Gott will, wird es auch so vorübergehen; sie liegt ja auch nicht immer zu Bett, am Tage geht sie aus und ist sogar vorhin unten im Laden gewesen.’ Ich entschloss mich, Matrjoscha allein anzutreffen, und da mir die Wirtin verraten hatte, dass sie gegen fünf Uhr auf der Petersburger Seite zu tun habe, nahm ich mir vor, am Abend wiederzukommen.
Ich ass in einem Gasthause zu Mittag. Punkt fünf und ein Viertel kam ich wieder. Ich pflegte die Wohnung immer mit meinem eigenen Schlüssel zu öffnen. Ausser Matrjoscha war niemand da. Sie lag in der Kammer hinter der spanischen Wand, und ich sah, wie sie herausblickte; aber ich tat so, als merkte ich es nicht. Alle Fenster standen offen. Die Luft war warm, es war sogar heiss. Ich ging eine Weile auf und ab und setzte mich dann aufs Sofa. Ich erinnere mich noch an alles bis zum letzten Augenblick. Es verschaffte mir einen ausgesprochenen Genuss, Matrjoscha nicht anzusprechen, sondern sie verschmachten zu lassen, ich weiss selbst nicht warum. Ich wartete eine ganze Stunde, und plötzlich sprang sie selbst hinter der spanischen Wand heraus. Ich hörte, wie ihre beiden Sohlen auf den Boden stiessen, als sie aus dem Bette sprang, dann recht schnelle Schritte, und da stand sie schon an der Sch welle meines Zimmers. Sie stand da und sah mich schweigend an. Ich
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war so gemein, dass mein Herz vor Freude darüber erzitterte, dass ich mich beherrscht und abgewartet hatte, dass sie den ersten Schritt mache. In diesen Tagen, als ich sie seit damals kein einziges Mal in der Nähe gesehen hatte, war sie wirklich entsetzlich abgemagert. Ihr Gesicht war wie ausgetrocknet, und der Kopf sicher heiss. Die Augen waren gross geworden und sahen mich unverwandt an, mit einer stumpfen Neugier, wie es mir anfangs vorkam. Ich sass da, sah sie an und rührte mich nicht. Da spürte ich wieder Hass. Aber ich merkte sehr bald, dass sie mich gar nicht furchtete, höchstwahrscheinlich war es das Fieber. Aber es war auch kein Fieber. Sie fing plötzlich an, mir sehr schnell mit dem Kopfe zuzunicken, wie es naive Menschen ohne Manieren zu tun pflegen, wenn sie jemand etwas vorwerfen; plötzlich erhob sie gegen mich ihre kleine Faust und begann mir, ohne naher zu kommen, zu drohen. Im er-sten Augenblick erschien mir diese Bewegung komisch, aber dann konnte ich sie nicht ertragen. Ihr Gesicht drückte solche Verzweiflung aus, wie man sie im Gesicht eines Kindes unmöglich sehen kann. Sie schwang immer ihre kleine Faust drohend gegen mich und nickte vorwurfsyoll mit den Kopf. Ich stand auf, rückte erschrocken zu ihr heran und begann vorsichtig, freundlich und nicht allzu laut zu sprechen, merkte aber, dass sie mich nicht verstehen würde. Dann bedeckte sie plötzlich das Gesicht genau wie damals schnell mit beiden Handen, ging weg und steilte sich ans Fenster mit dem Rücken zu mir. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und setzte mich ebenfalls ans Fenster. Ich kann unmöglich begreifen, warum ich damals nicht weggegangen sondernge-blieben bin, als wartete ich auf etwas..
Bald hörte ich wieder ihre schnellen Schritte: sie trat durch die Tür auf die hölzerne Galerie, von der die Treppe hinunterführte, ich aber lief sofort zu meiner Türe, machte sie etwas auf
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und konnte noch sehen, wie Matrjoscha in die winzige Kammer ging, die an einen Hühnerstall erinnerte und sich neben einem anderen Ort befand. Ein interessanter Gedanke ging mir plötzlich durch den Sinn. Ich kann auch heute nicht begreifen, warum er mir zuerst in den Sinn kam; folglich ging alles darauf hinaus. Ich schloss die Türe und setzte mich wieder ans Fenster. Natürlich dürfte ich dem Gedanken, der mich durchzuckte, noch nicht glauben; ‘aber immerhin’... (ich erinnere mich an alles, mein Herz klopfte sehr stark).
Nach einer Minute sah ich auf die Lïhr und merkte mir so genau als möglich die Zeit. Wozu ich diese Genauigkeit brauchte, weiss ich nicht, aber ich hatte die Kraft, es zu tun und wollte mir in jenem Augenblick überhaupt alles merken. So erinnere ich mich an alles, was ich mir gemerkt hatte, und sehe es deutlich vor Augen. Der Abend rückte heran. Lïeber mir summte eine Fliege, die sich mir immer wieder aufs Gesicht setzte. Ich fing sie ein, hielt sie eine Weile in den Fingern und liess sie dann zum Fenster hinaus. Linten fuhr gerauschvoll ein Wagen in den Hof. Sehr laut (und zwar schon seit langem) sang ein Handwerker, ein Schneider, im Fenster in einem Winkel des Hof es sein Lied. Er sass bei der Arbeit, und ich konnte ihn sehen. Es fiel mir ein, dass, da mich niemand gesehen hatte, als ich ins Tor einge-treten und die Treppe hinauf gegangen war, - es auch natürlich gar nicht nötig sei, dass mir jemand begegne, wenn ich hinuntergehn würde; so rückte ich meinem Stuhl vorsichtig vom Fenster weg, damit mich die Hausbewohner nicht sehen. Ich griff nach einem Buch, legte es aber weg und fing an, eine winzige rote Spinne auf einem Geranienblatt zu beobachten; darin fand ich Vergessen. Ich erinnere mich an alles bis zum letzten Augenblick. Plötzlich zog ich wieder die Lïhr aus der Tasche. Es
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waren genau zwanzig Minuten vergangen, seitdem sie das Zimmer verlassen hatte. Meine Hypothese erschien immer wahrscheinlicher. Aber ich entschloss mich, noch genau eine viertel Stunde zu warten. Mir kam auch der Gedanke, dass sie schon zurückgekehrt sei und ich es vielleicht überhört habe; aber es konnte nicht sein: es herrschte eine Grabesstille, und ich konnte das Summen jeder Fliege horen. Plötzlich klopfte mir wieder das Herz. Ich zog die Uhr: es fehlten noch drei Minuten; ich wartete sie ab, obwohl mein Herz so klopfte, dass es weh tat. Da erhob ich mich, setzte den Hut auf, knöpfte den Mantel zu und sah mich im Zimmer um, ob nicht irgendwelche Spuren meiner Anwesenheit geblie-ben seien. Ich steilte den Stuhl naher ans Fenster, wie er früher gestanden hatte. Schliesslich öffnete ich leise die Tür, schloss sie mit meinem Schlüssel ab und ging zu der Kammer. Die Tür war angelehnt, aber nicht ge-schlossen; ich wusste, dass sfe sich gar nicht absperren liess, wollte aber nicht öffnen, sondern steilte mich nur auf die Fussspitzen und blickte durch eine Ritze hinein. In dem Augenblick, als ich mich auf die Fussspitzen steilte, erinnerte ich mich, dass ich, als ich am Fenster gesessen und die kleine rote Spinne beobachtet, schon daran gedacht hatte, wie ich mich auf die Fussspitzen stellen und mein Auge an die Ritze drücken werde. In-dem ich hier dieses kleine Detail eintrage, will ich unbe-dingt beweisen, bis zu welchem Grade ich meiner geistigen Fahigkeiten machtig war und dass ich alles verantworte. Ich sah lange durch die Ritze, denn es war darin sehr dunkel, aber doch nicht ganz dunkel, so dass ich schliesslich das sah, was ich wollte...
Endlich entschloss ich mich fortzugehen. Auf derTrep-pe traf ich niemand. Nach etwa drei Stunden saszen wir alle ohne Röcke in der Pension beisammen, tranken Tee und spielten mit alten Karten; Lebjadkin las Verse vor.
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Man erzählte sehr viel; zufällig waren es lauter gelun-gene und komische Erzählungen und nicht so dumme wie immer. Auch Kirillow war damals da. Niemand trank, obwohl eine Flasche Rum auf dem Tische stand; nur Lebjadkin allein machte von ihr Gebrauch.
Prochor Malow bemerkte, dass ‘wenn Nikolai Wse-wolodowitsch zufrieden sei und keine Grillen fange, auch alle andern lustig seien und klug sprechen’. Ich merkte mir dies schon damals, folglich war ich damals lustig, zufrieden und fing keine Grillen. Das war aber nur ausserlich so. Aber ich erinnere mich gewusst zu haben, dass ich ein niedriger und gemeiner Feigling bin, weil ich mich so über meine Befreiung freute, und niemals mehr edel sein werde.
Aber schon gegen elf kam die kleine des Hausknechtes aus der Gorochowaja zu mir mit der Nachricht von der Wirtin gelaufen, dass Matrjoscha sich erhängt habe. Ich ging mit der Kleinen mit und sah, dass die Wirtin selbst nicht wusste, weshalb sie nach mir geschickt hatte. Sie schrie und warf sich hin und her, es war eine Menge Leute da, auch die Polizei. Ich blieb eine Weile und ging dann weg.
Man belästigte mich wahrend der ganzen Zeit fast gar nicht und steilte an mich nur die notwendigsten Fragen. Aber ausser dem, dass das Kind krank gewesen sei und phantasiert habe, so dass ich vorgeschlagen hatte, auf meine Kosten einen Arzt zu holen, sagte ich nichts aus. Man fragte auch etwas wegen des Federmessers; ich sagte, die Wirtin hatte sie deswegen mit Ruten gezüch-tigt, aber das habe nichts auf sich. Dass ich am Abend dagewesen war, wusste niemand.
Acht Tage lang ging ich nicht hin. Ich kam wieder vor-bei, als man sie schon längst beerdigt hatte, um die Wohnung zu kündigen. Die Wirtin weinte noch immer, machte sich aber schon wieder wie früher mit ihren
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Lumpen und der Näharbeit zu schaffen. ‘Ich habe sie damals wegen Ihres Messers so gekränkt,’ sagte sie mir, aber ohne grossen Vorwurf. Ich rechnete mit ihr ab unter dem Vorwande, dass ich doch in dieser Wohnung nicht länger bleiben könne, um Nina Ssawel-jewna zu empfangen. Zum Abschied lobte sie die Nina Ssaweljewna noch einmal. Ich schenkte ihr fünf Rubel ausser dem, was ich für die Wohnung schuldete.
Vor allen Dingen langweilte mich das Leben zum Ver-rücktwerden. Den Vorfall in der Gorochowaja hatte ich, nachdem die Gefahr vorüber war, gänzlich ver-gessen, ebenso wie alle anderen Erlebnisse jener Zeit, wenn ich mich nicht nach einiger Zeit mit Wut daran erinnerte, wie feige ich damals war.
Ich liess meine Wut an jedem aus, an dem ich nur konnte. Um jene Zeit kam mir, aber nicht aus irgend-einem bestimmten Grunde, der Gedanke, mein Leben irgendwie zu verunstalten, und zwar möglichst abscheu-lich. Schon vor einem Jahre hatte ich mich einmal er-schiessen wollen; nun bot sich mir etwas Besseres.
Als mein Bliek einmal auf die lahme Mar ja Timofejewna Lebjadkina nel, die uns in unseren Zimmern manchmal bediente und die damals noch nicht verrückt, sondern bloss eine begeisterte Idiotin war, heimlich in mich ver-liebt (wie es die unsrigen ausgekundschaftet hatten), fasste ich den plötzlichen Entschluss, sie zu heiraten. Der Gedanke an die Verheiratung Stawrogins mit die-sem letzten aller Geschöpfe reizte meine Nerven. Etwas Hasslichereswar nicht auszudenken. Jedenfallsheiratete ich sie nicht nur ‘wegen einer Wette nach einem Trink-gelage’. Der Trauung wohnten Kirillow und Pjotr Werchowensky bei, der zufallig in Petersburg war; dann auch Lebjadkin selbst und Prochor Malow (jetzt ist er tot). Sonst erfuhr niemand etwas davon, diese gaben wir aber das Wort zu schweigen. Dieses Schwei- | |
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gen kam mir immer als eine Gemeinheit vor, aber es ist bis heute noch nicht verletzt, obwohl ich die Möglichkeit hatte, es publik zu machen; jetzt gebe ich es mit allem anderen bekannt.
Nach der Trauung fuhr ich in die Provinz zu meiner Mutter. Ich fuhr zur Zerstreuung. In unserer Stadt liess ich den Eindruck zurück, dass ich verrückt sei, einen Eindruck, der auch heute noch besteht und mir zweifellos schadet, was ich weiter erklären werde. Dann fuhr ich ins Ausland und blieb dort vier Jahre.
Ich war im Orient, auf dem Berge Athos, wo ich Abend-gottesdiensten von acht Stunden Dauer stehend beiwohnte, in Aegypten, hielt mich in der Schweiz auf, war sogar auf Island; und absolvierte ein ganzes Jahr in Göttingen. Im letzten Jahr befreundete ich mich mit einer vornehmen russischen Familie in Paris und mit zwei russischen jungen Mädchen in der Schweiz. Vor zwei Jahren ging ich einmal in Frankfurt an einer Schreibwarenhandlung vorbei und sah zwischen den zum Verkauf ausgestellten Photographien das Bild eines hübsch gekleideten kleinen Mädchens, das aber grosse Aehnlichkeit mit Matrjoscha hatte. Ich kaufte mir sofort das Bild und legte es, ins Hotel zurückgekehrt, auf den Kaminsims. Hier blieb es an die acht Tage unberührt liegen, ich sah es kein einziges Mal an, und als ich Frank-furt verliess, vergass ich es mitzunehmen.
Ich trage dies ein, um zu zeigen, in welchem Masse ich Gewalt über meine Erinnerungen hatte und wie gefühl-los ich gegen sie geworden war. Ich wies sie alle als ganze Masse zurück, und die ganze Masse verschwand gehorsam, sobald ich es nur wollte. Es war mir immer langweilig, an das Vergangene zu denken, und ich konnte auch niemals vom Vergangenen sprechen, wie es fast alle Menschen tun, umsomehr als es mir, wie alles, was mit mir zusammenhing, verhasst war. Was
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aber Matrjoscha betrifft, so habe ich sogar ihr Bild auf dem Kaminsims vergessen. Als ich im vorigen Jahre, im Frühling durch Deutschland reiste,. verpasste ich aus Zerstreutheit eine Station, auf der ich umsteigen musste, um mein Reiseziel zu erreichen, und kam so auf eine andere Strecke. Man setzte mich auf der folgenden Station aus dem Zuge; es war die dritte Nachmittags-stunde, der Tag war heiter. Es war ein kleines deutsches Stadtchen. Man zeigte mir einen Gasthof. Ich musste warten. Der nächste Zug ging erst um elf Uhr abends. Ich freute mich sogar über das Abenteuer, denn ich hatte keine Eile. Der Gasthof war klein und schlecht, lag aber ganz im Grünen und von Blumenbeeten umge-ben. Ich bekam ein enges Zimmerchen. Ich ass gut zu Mittag und schlief, da ich die ganze Nacht unterwegs gewesen war, um vier Uhr nachmittags prachtvoll ein. Ich hatte einen für mich durchaus unerwarteten Traum, dergleichen hatte ich noch nie geträumt. In der Dresdner Galerie hängt ein Bild von Claude Lorrain, das nach dem Katalog, glaube ich, ‘Acis und Galatea’ heiszt; ich pflegte es aber, ich weiss selbst nicht warum, ‘Goldenes Zeitalter’ zu nennen. Ich hatte es auch schon früher gesehen und es mir vor drei Tagen, als ich durch Dresden kam, wieder gemerkt. Ich war sogar eigens zu diesem Zweck in die Galerie gegangen um es zu sehen; vielleicht hatte ich auch nur wegen dieses Bildes den Abstecher nach Dresden gemacht. Dieses Bild sah ich nun im Traume, aber nicht als ein Gemälde, sondern als eine Wirklichkeit.
Es war ein Winkel der griechischen Archipel; freund-liche, blaue Wellen, Insein und Felsen, ein blühender Strand, ein zauberhaftes Panorama in der Ferne, eine untergehende lockende Sonne - mit Worten kann man es gar nicht wiedergeben. Hier hat sich die euro-paische Menschheit ihre Wiege gedacht, hierher ver- | |
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setzte sie die ersten Szenen der Mythologie, hier war ihr irdisches Paradies... Hier lebten herrliche Menschen. Beim Erw,achen und Einschlafen waren sie gleich glücklich und unschuldig; die Gehölze wieder-hallten von ihren freudigen Liedern, der grosse lieber-fluss unverbrauchter Kräfte wandelte sich in Liebe und einfaltige Freude. Die Sonne übergoss mit ihren Strah-len diese Insein und das Meer und freute sich über ihre schonen Kinder. Ein herrlicher Traum, eine erhabene Tauschung! Ein Traum, unwahrscheinlicher als alle, die die Menschheit je gehabt, dem sie aber ihr ganzes Leben lang alle ihre Kräfte hingab, dem sie alles opferte, dem zuliebe ihre Propheten an Kreuzen starben und getötet wurden, ohne den die Völker nicht leben wollen werden und selbst nicht sterben können. Diese ganze Empfin-dung durchkostete ich gleichsam in diesem Traume; ich weiss nicht genau, was ich alles träumte, aber die Felsen und das Meer und die schrägen Strahlen der unter-gehenden Sonne glaubte ich auch dann noch zu sehen, als ich erwachte und die Augen öffnete, die zum ersten Male' in meinem Leben voller Tränen waren. Das Gefühl einer mir noch unbekannten Freude durchdrang mein Herz so, dass es sogar weh tat.
Es war schon Abend; ins Fenster meines kleinen Zimmers drang durch das Grün der auf dem Fensterbrett stehenden Blumen-stöcke eine ganze Garbe greller, schrager Strahlen der untergehenden Sonne, die mich mit ihrem Lichte über-flutete. Ich beeilte mich, die Augen wieder zu schliessen, als wollte ich den entschwundenen Traum zurückrufen, aber inmitten des unsagbar grellen Lichtes sah ich plötzlich einen winzigen Punkt. Dieser Punkt fing plötzlich an, Gestalt anzunehmen, und plötzlich sah ich vor mir eine winzige rote Spinne. Ich erinnerte mich ihrer sofort, wie sie auf dem Geraniumblatt gesessen, als die Strahlen der untergehenden Sonne ebensohereinfluteten. Etwas
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bohrte sich in mich, ich erhob mich und setzte mich aufs Bett...
(Das ist alles, wie es damals geschah!)
Ich sah vor mir - (oh, nicht im Wachen! wenn es doch eine wirkliche Vision gewesen ware!) - ich sah Ma-trjoscha, abgemagert, mit fiebernden Augen, genau so wie damals, als sie bei mir auf der Schwelle stand, mir zunickte und ihr kleines Fäustchen gegen mich erhob. Mir ist noch nichts so qualvoll erschienen! Die elende Verzweiflung eines hilflosen Geschöpfs mit noch unfer-tigem Verstand, das mir drohte (womït? was hatte es mir tun können? mein Gott!), das aber natürlich nur sich allein anklagte! Dergleichen hatte ich noch nie erlebt. Ich sass bis zum spaten Abend da, ohne mich zu ruhren und dachte nicht an die Zeit. Ob man das Ge-wissensbisse oder Reue nennt, weiss ich nicht und könnte es auch jetzt nicht sagen. Unerträglich ist mir aber nur dieses eine Bild, wie sie an der Schwelle mit der erhobenen und drohenden kleinen Faust gestanden hatte, nur ihr damaliges Aussehen, nur jener Augenblick, nur das Nicken mit dem Kopfe. Das ist es, was ich nicht ertragen kann, denn es erscheint mir auch jetzt noch jeden Tag. Es erscheint nicht von selbst, sondern ich rufe es selbst, und es ist mir unmöglich, es nicht zu rufen, obwohl ich damit nicht leben kann. Oh, wenn ich sie doch nur einmal im Wachen sehen könnte, und sei es auch nur in einer Halluzination!
Warum erregt keine der anderen Erinnerungen meines Lebens in mir etwas Aehnliches? - ich hatte aber ihrer viele, die vor dem Gerichtsstuhle der Menschen noch schlimmer erscheinen mögen. Höchstens den Hass, der aber von meiner jetzigen Lage hervorgerufen ist; früher konnte ich ihn aber kaltblütig vergessen und von mir weisen.
Nachher trieb ich mich fast ein ganzes Jahr herum und
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bemühte mich, eine Beschäftigung zu finden. Ich weiss, dass ich Matrjoscha auch jetzt von mir weisen könnte, wenn ich es wollte. Ich bin noch immer vollstöndig Herr meines Willens, genau wie früher. Das ist aber die Sache, dass ich es niemals habe tun wollen, es selbst nicht will und auch nicht wollen werde. So wird es bleiben, bis ich wahnsinnig werde.
Zwei Monate später, in der Schweiz, überkam mich wieder solch ein Anfall von Leidenschaft, wie ich sie nur einst, in der ersten Zeit erfahren hatte. Ich fühlte eine schreckliche Versuchung zu einem neuen Ver-brechen, und zwar zu Bigamie (denn ich bin schon ver-heiratet); aber ich floh davon auf Rat eines anderen Mädchens, dem ich alles eröffnet und sogar gestanden hatte, dass ich jene, die ich so begehrte, gar nicht liebte und auch niemals lieben können würde. - Dieses neue Verbrechen würde mich ausserdem niemals von Matr-joscha erlösen.
So entschloss ich mich denn, diese Blätter drucken zu lassen und in dreihundert Exemplaren nach Russland einzuführen; wenn die Zeit kommt, schicke ich sie der Polizei und den lokalen Behörden; gleichzeitig schicke ich sie an die Redaktionen aller Zeitungen mit der Bitte um Veröffentlichung und an die vielen Leute in Peters-burg und ganz Russland, die mich kennen. Gleichzeitig wird es im Auslande in Uebersetzung erscheinen. Ich weiss, dass man mich juristisch vielleicht nicht behelli-gen wird, jedenfalls nicht fühlbar; ich klage mich selbst an und habe keinen anderen Ankläger; ausserdem gibt es gar keine oder nur sehr wenige Beweise. Schliesslich hat sich überall die Ansicht festgesetzt, dass ich geistes-gestört sei, und meine Verwandten werden sich das zunutze machen und jede für mich gefährliche juristische Verfolgung im Keime ersticken. Das erkläre ich u. A., um zu zeigen, dass ich jetzt bei vollem Verstand bin und
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meine Lage wohl begreife. Mir bleiben aber diejenigen, die alles wissen werden; sie werden auf mich sehen, und ich auf sie. Ich will, dass alle auf mich sehen. Ob es mich erleichtern wird, weiss ich nicht. Ich greife danach als nach dem letzten Mittel.
Noch einmal: wenn man bei der Petersburger Polizei orden tlich nachfor sehen wollte, so könntemanvielleicht alles finden. Die-Kleinburger können auch jetzt noch in Petersburg leben. Auf das Haus wird man sich natürlich besinnen. Es war hellblau. Ich aber werde nirgends ver-reisen und mich einige Zeit (ein Jahr oder zwei) ständig in Skworeschniki, dem Gute meiner Mutter aufhalten. Wenn man mich aber ruft, will ich überall erscheinen.
nikolai stawrogin
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Neuntes kapitel
Das Lesen dauerte etwa eine Stunde. Tichon las lang-sam und überflog vielleicht einige Stellen zweimal. Staw-rogin sass die ganze Zeit schweigend und unbeweglich. Seltsam: der Ausdruck von Ungeduld, Zerstreutheitund einer Art Delirium, den sein Gesicht diesen ganzen Mor-gen gezeigt hatte, war fast ganz verschwunden und hatte dem Ausdruck von Ruhe und einer Art Aufrichtig-keit Platz gemacht, was ihm ein fast würdiges Aussehen verlieh. Tichon nahm die Brille ab, wartete eine Weile, richtete schliesslich auf ihn seinen Bliek und begann als erster mit einiger Vorsicht:
‘Könnte man nicht in diesem Dokument einiges korri-gieren?
Wozu? Ich habe es aufrichtig geschrieben,’ antwortete Stawrogin.
‘Ein wenig den Stil...’
‘Ich vergass Sie darauf aufmerksam zu machen,’ sagte
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er schnell und scharf, sich mit dem ganzen Rumpf ver-heugend, ‘dass alle Ihre Worte vergebens sein werden; ich werde meine Absicht nicht aufgeben; bemühen Sie sich nicht, sie mir auszureden. Ich werde es veröffent-lichen.’
‘Sie haben nicht versaumt, mir es schon vorher, vor dem Lesen zu sagen.’
‘Ganz gleich,’ unterbrach ihn Stawrogin scharf, ‘ich wiederhole noch einmal: wie gross auch die Kraft Ihrer Einwande sein mag, ich werde meine Absicht nicht aufgeben. Merken Sie sich auch, dass ich Sie mit dieser ungeschickten oder geschickten Wendung - denken Sie sich, was Sie wollen - provozieren will, damit Sie schneller mit Ihren Einwanden und Bitten kommen’.
‘Ich könnte Ihnen gar nichts einwenden und noch viel weniger Sie bitten, dass Sie Ihre Absichten aufgeben. Diese Idee ist gross, und der christliche Gedanke kann gar nicht vollstandiger zum Ausdruck kommen. Die Reue kann gar nicht weiter als zu der wunderbaren Tat, die Sie planen, gehen, wenn es nur...’
‘Wenn was?’
‘Wenn es nur wirklich Reue und ein christlicher Gedanke ware.’
‘Ich habe es aufrichtig geschrieben.’
‘Sie wollen anscheinend sich selbst mit Absicht roher hinstellen, als es Ihr Herz möchte....’, fuhr Tichon immer kühner fort. Das ‘Dokument’ hatte auf ihn wohl einen starken Eindruck gemacht.
‘Mich hinstellen? - Ich wiederhole: ich will mich als nichts “hinstellen” und am allerwenigsten Komödie spielen.’
Tichon senkte schnell den Bliek.
‘Dieses Dokument kommt direkt aus dem Bedürfnis eines tötlich verwundeten Herzens, - ich verstehe Sie
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doch richtig?’ sagte er eindringlich mit ungewöhn-lichem Feuer. ‘Ja, es ist die Reue und das natürliche Bedürfnis nach Reue, das Sie besiegt hat, und Sie haben einen grossen Weg betreten, einen unerhörten Weg. Aber Sie scheinen schon im Voraus alle zu hassen und zu verachten, die das hier Beschriebene lesen werden, und sie zum Kampfe herauszufordern. Wenn Sie sich nicht schamen, das Verbrechen zu gestehen, warum schamen Sie sich dann der Reue?’
‘Ich schame mich?’
‘Sie schamen sich und fürchten.’
‘Ich fürchte mich?’
‘Bis zur Todesangst. Sollen sie nur auf mich sehen, sagen Sie; nun, und Sie selbst, wie werden Sie auf sie sehen? Gewisse Stellen Ihrer Schilderung sind durch den Stil unterstrichen; Sie scheinen Ihre Psychologie zu bewundern, und klammern sich an jede Kleinigkeit, nur um den Leser durch die Gefühllosigkeit in Erstau-nen zu setzen, die Ihnen gar nicht eigen ist. Was ist es denn, wenn nicht eine hochmütige Herausforderung des Schuldigen an den Richter?’
‘ Wo ist denn die Herausforderung? Ich habe ja alle persönlichen Betrachtungen ausgeschaltet.’
Tichon sagte nichts. Seine blassen Wangen röteten sich sogar.
‘Lassen wir das,’ brach Stawrogin scharf ab. ‘Ge-statten Sie auch mir, eine Frage zu stellen: wir sprechen schon fünf Minuten darüber (er wies mit einer Kopfbe-wegung auf die Blatter), und ich sehe an Ihnen keinerlei Ausdruck von Abscheu oder Scham.... Sie scheinen nicht heikel zu sein....’
Er kam nicht wetter.
‘Ich will vor Ihnen nichts verheimlichen: ich entsetzte mich vor der grossen müssigen Kraft, die mit Absicht zu Gemeinheiten verschwendet worden ist. Und was
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das Verbrechen selbst betrifft, so begehen viele dieselbe Sünde, leben aber in Frieden mit ihrem Gewissen und in Ruhe und sehen es sogar als unvermeidliche Ver-gehen der Jugend an. Es gibt auch Greise, die ebenso sündigen, sogar mit Genuss. Die ganze Welt ist voll solcher Schrecken. Sie haben aber die ganze Tiefe erkannt, was in diesem Masse sehr selten vorkommt.’
‘Haben Sie mich vielleicht nach dieser Lektüre zu achten angefangen?’ fragte Stawrogin mit einem schiefen Lacheln.
‘Darauf gebe ich keine direkte Antwort. Aber ein grösseres und schrecklicheres Verbrechen als Ihre Tat an der Kleinen ist natürlich unmöglich.’
‘Wir wollen nicht mit Ellen messen. Vielleicht leide ich wirklich nicht so sehr, wie ich es hier beschrieben habe, vielleicht habe ich auch Vieles über mich erlogen,’ fügte er ganz unerwartet hinzu.
Tichon sagte darauf wieder nichts.
‘Und das junge Madchen,’ fing Tichon von neuem an, ‘mit dem Sie in der Schweiz gebrochen haben, wo befindet sie sich jetzt, wenn ich fragen darf... in diesem Augenblick?’
‘Hier.’
Er sagte wieder nichts.
‘Vielleicht habe ich über mich sehr viel gelogen,’ wiederholte Stawrogin eindringlich. ‘Was macht es übrigens, dass ich die Leute durch die Rohheit meiner Beichte herausfordere, wenn Sie die Herausforderung bereits bemerkt haben?! Ich werde sie zwingen, mich noch mehr zu hassen, das ist alles. Aber da von würde es mir nur leichter werden.’
‘Das heisst, der Hass gegen Sie wird in Ihnen einen Gegenhass wecken, und wenn Sie hassen, wird es Ihnen leichter sein, als wenn Sie ihr Mideid annehmen.’
‘Sie haben recht. Wissen Sie,’ sagte er plötzlich
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lachend: ‘man wird mich nach diesem Dokument viel-leicht einen Jesuiten und einen frommen Heuchler nen-nen, ha ha ha! Nicht wahr?’
‘Es wird unbedingt auch diese Ansicht geben. Hoffen Sie diese Absicht bald auszuführen?’
‘Heute, morgen, übermorgen, wohersoll ich es wissen? Aber sehr bald. Sie haben recht, es wird gerade so kommen, dass ich es ganz plötzlich veröffentliche und zwar gerade in einem Augenblick von Hass und Rache-durst, wo ich sie am meisten hassen werde.’
‘Beantworten Sie mir eine Frage, aber aufrichtig, nur mir allein,’ sagte Tichon mit einer ganz anderen Stimme: ‘Wenn Ihnen jemand beim Lesen Ihrer schrecklichen Beichte dies da (Tichon zeigte auf die Blatter) vergeben würde, und zwar nicht einer von denen, die Sie achten oder fürchten, sondern ein Frem-der, ein Mensch, den Sie niemals kennen lemen werden, stumm vor sich hin, - würde Ihnen bei diesem Gedanken leichter werden, oder ware es Ihnen ganz gleich?’
‘Es ware mir wohl leichter,’ antwortete Stawrogin halblaut. ‘Wenn Sie mir verziehen, so ware mir viel leichter,’ fügte er hinzu, die Augen senkend.
‘Auf dass auch Sie mir ebenso verzeihen,’ versetzte Tichon mit bewegter Stimme.
‘Es ist eine üble Demut. Wissen Sie, diese mönchischen Formeln sind sogar nicht hübsch. Ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen: ich möchte, dass Sie mir ver-zeihen. Zugleich mit Ihnen auch ein anderer, ein dritter, aber alle zusammen sollen mich lieber hassen. Das möchte ich, um es mit Demut zu tragen...’
‘Das allgemeine Mitleid würden Sie aber nicht mit Demut tragen können?’
‘Vielleicht könnte ich es nicht. Warum...?’
‘Ich fühle den Grad Ihrer Aufrichtigkeit, und est ist
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natürlich meine grosse Schuld, dass ich an die Menschen nicht richtig heranzutreten verstehe. Ich habe es immer als einen Mangel empfunden,’ sagte Tichon aufrichtig und aus tiefem Herzen, Stawrogin gerade in die Augen blickend. ‘Ich sagte das nur, weil ich für Sie fürchte,’ fügte er hinzu: ‘Vor Ihnen gahnt ein fast unüberbrück-barer Abgrund.’
‘Ich werde es nicht aushalten? Ich werde ihren Hass nicht ertragen können?’ fuhr Stawrogin auf.
‘Nicht den Hass allein.’
‘Was denn noch?’
‘Auch ihr Lachen,’ brachte Tichon mühevoll im Flü-sterton hervor.
Stawrogin wurde verlegen; sein Gesicht zeigte Unruhe. ‘Ich habe es vorausgeahnt,’ sagte er. ‘Folglich erscheine ich Ihnen nach der Lektüre meines, Dokuments' als eine sehr komische Figur. Seien Sie unbesorgt und genieren Sie sich nicht, ich habe es erwartet.’
‘Das Entsetzen wird allgemein und natürlich mehr ge-heuchelt als aufrichtig sein. Die Menschen entsetzen sich nur vor dem, was ihre persönlichen Interessen direkt bedroht. Ich spreche nicht von den reinen Seelen: diese werden nur innerlich erschaudern und sich selbst anklagen; da sie aber schweigen werden, wird man sie nicht merken. Das Lachen wird aber allgemein sein.’
‘Ich muss mich wundern, dass Sie so schlecht und mit solchem Abscheu von den Menschen denken,’ sagte Stawrogin mit einiger Gehassigkeit.
‘Glauben Sie mir: ich habe eben nur am mich selbst gedacht und nicht an die Menschen!’ rief Tichon aus.
‘ Wirklich? Ist denn auch in Ihrer Seele etwas, was Sie sich an meinem Unglück belustigt?’
‘Wer weiss, vielleicht ist so etwas in ihr. Vielleicht ist es wirklich so!’
‘Genug. Zeigen Sie mir nun, wo ich in meinem Manu- | |
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skript lacherlich bin! Ich weiss selbst, wo ich es bin, aber ich will, dass Sie es mir mit Ihrem Finger zeigen. Und erklaren Sie es mir möglichst cynisch, mit der ganzen Aufrichtigkeit, zu der Sie fahig sind. Ich aber sage Ihnen noch einmal, dass Sie ein merkwürdiger Kauz sind.’
‘Schon in der Form Ihrer grossen Beichte selbst ist et-was Lacherliches enthalten. Glauben Sie nur nicht, dass Sie nicht siegen werden!’ rief er plötzlich beinahe begeistert. ‘Selbst diese Form (er zeigte auf die Blatter) wird siegen, wenn Sie sich nur aufrichtig ins Gesicht schlagen und anspeien lassen. Alles hat immer damit geendet, dass das schandlichste Kreuz zu einem grossen Ruhme und einer grossen Kraft wurde, wenn die Demut der Tat wirklich aufrichtig gewesen ist. Vielleicht werden Sie schon bei Ihren Lebzeiten getröstet sein!...’
‘Sie finden also vielleicht nur in der Form allein etwas Lacherliches?’ drang Stawrogin in ihn ein.
‘Und im Wesen selbst. Die Hasslichkeit wird Sie morden,’ flüsterte Tichon, die Augen senkend.
‘Die Hasslichkeit! Was für eine Hasslichkeit?’
‘Des Verbrechens. Es gibt wahrhaft hassliche Ver-brechen. Jedes Verbrechen, wie es auch sein mag, ist umso eindrucksvoller und sozusagen malerischer, je mehr Blut und Schrecken dabei ist; aber es gibt, abge-sehen von jedem Schrecken, auch beschamende, schmahliche, sogar allzu unschöne Verbrechen...’
Tichon sprach den Satz nicht zu Ende.
‘Das heisst,’ fiel ihm Stawrogin erregt ins Wort, ‘Sie finden also, dass ich höchst lacherlich war, als ich dem schmierigen Madel die Hande küsste... Ich verstehe Sie vollkommen, und Sie verzweifeln an mir nur des-halb, weil es unschön und ekelhaft, nein, nicht ekelhaft, sondern beschamend und lacherlich war, und glauben, dass ich gerade dies am wenigsten ertragen werde.’
Tichon sagte nichts.
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‘Ich verstehe, warum Sie sich nach dem Fraulein aus der Schweiz erkundigt haben, ob sie hier ist.’
‘Sie sind nicht vorbereitet, Sie sind nicht abgehartet,’ flüsterte Tichon schüchtern, die Augen senkend: ‘Sie sind vom Boden losgerissen, Sie glauben nicht.’
‘Horen Sie, P. Tichon: ich will mir selbst verzeihen, und das ist mein Hauptziel, mein einziges Ziel!’ sagte plötzlich Stawrogin mit einem düsteren Entzücken im Bliek. ‘Ich weiss, dass die Vision nur dann verschwin-den wird. Darum suche ich auch das masslose Leid, darum suche ich es selbst. Erschrecken Sie nicht, sonst gehe ich in Bosheit zugrunde’.
Diese Aufrichtigkeit war so unerwartet, dass Tichon sich erhob.
‘Wenn Sie glauben, dass Sie sich selbst verzeihen und diese Selbstverzeihung in dieser Welt durch Leid erlangen können, wenn Sie sich dieses Ziel glaubig setzen, so glauben Sie schon an alles!’ rief Tichon begeistert. ‘Wie können Sie nur sagen, dass Sie nicht an Gott glauben?’
Stawrogin gab keine Antwort.
‘Gott wird Ihnen Ihren Unglauben verzeihen, denn Sie verehren den Heiligen Geist, ohne ihn zu kennen’.
‘Wird mir übrigens Christus verzeihen?’ fragte Stawrogin mit einem schiefen Lacheln und in einem veränderten Ton, in dem etwas wie Ironie lag.
‘Es steht in der Schrift: “Wer aber ergert dieser Ge-ringsten einen”, Sie erinnern sich doch. Nach dem Evangelium gibt es kein grösseres Verbrechen...’
‘Sie wollen einfach keinen Skandal und stellen mir eine Falie, mein guter P. Tichon’, sagte Stawrogin weg-werfend und argerlich durch die Zahne und wollte schon aufstehen. ‘Kurz, Sie wollen, dass ich solid werde, vielleicht auch heirate, mein Leben als Mitglied des hiesigen Klubs beschliesse und an jedem Feiertag Ihr
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Kloster besuche. Sie werden mir höchstens eine Kir-chenbusse auferlegen! Nicht wahr?! Vielleicht ahnen Sie als Herzenskenner schon voraus, dass es zweifel-los gerade so kommen wird, und es bleibt nur noch, mich jetzt, des Anstandes halber, ordentlich zu bitten, da ich doch selbst nur nach diesem lechze, nicht wahr?!’ Er lachelte unnatürlich.
‘Nein, es ist nicht diese Kirchenbusse, ich habe für Sie eine andere bereit!’ fuhr Tichon mit Feuer fort, ohne dem Lachen und der Bemerkung Stawrogins auch die geringste Beobachtung zu schenken.
‘Ich kenne einen Starez, nicht hier, aber nicht weit von hier, einen Einsiedler und Asketen von so tiefer christ-licher Weisheit, wie wir beide sie nicht begreifen werden. Er wird auf meine Bitten horen. Ich werde ihm alles von Ihnen sagen. Gehen Sie zu ihm, unterwerfen Sie sich seiner Leitung für fünf oder sieben Jahre, soviel Sie in der Zukunft selbst als nötig erachten werden. Leisten Sie ein Gelubde, und mit diesem grossen Opfer werden Sie alles erkaufen, wonach Sie lechzen und selbst was Sie nicht erwarten, denn Sie können jetzt gar nicht begreifen, was Sie gewinnen werden.’
Stawrogin hörte ihn mit ernster Miene an.
‘Sie schlagen mir vor, in jenes Kloster als Mönch ein-zutreten?’
‘Sie brauchen gar nicht im Kloster zu sein und die Mönchsweihen zu empfangen; werden Sie bloss heim-licher, kein offizeller Novize; Sie können dabei auch ganz in der Welt leben...’
‘Lassen Sie das, P. Tichon,’ unterbrach ihn Stawrogin angeekelt und erhob sich von seinem Stuhl. Auch Tichon stand auf.
‘Was ist mit Ihnen?’ schrie er plötzlich auf, Tichon fast erschrocken ansehend. Jener stand vor ihm, die Hande wie im Gebet gefaltet, un ein krankhafter, wie
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vom höchsten Entsetzen hervorgerufener Krampf durchzuckte sein Gesicht.
‘Was ist mit Ihnen? Was ist mit Ihnen?’ wiederholte Stawrogin, sich zu ihm stürzend, um ihn zu stützen. Er glaubte, dass jener umfallen würde.
‘Ich sehe... ich sehe ganz deutlich,’ rief Tichon mit einer herzdurchdringenden Stimme und mit dem Aus-druck der tiefsten Trauer, ‘dass Sie, armer, verlorener jüngling einem neuen, noch grosseren Verbrechen noch nie so nahe gewesen sind wie in diesem Augenblick.’
‘Beruhigen Sie sich!’ beschwichtigte ihn Stawrogin, der um ihn aufrichtig besorgt war. ‘Vielleicht werde ich es noch aufschieben... Sie haben recht...’
‘Nein, nicht nach der Veröffentlichung, sondern vorher, einen Tag, vielleicht eine Stunde vor dem grossen Schritt werden Sie sich in ein neues Verbrechen stürzen, werden danach als nach einem Ausweg greifen und werden es einzig zu dem Zweck verüben, um die Veröffentlichung dieser Blätter zu vermeiden.’
Stawrogin erbebte sogar vor Wut und fast vor Schreck. ‘Verfluchter Psycholog!’ rief er plötzlich wie rasend und ging, ohne sich umzusehen, aus der Zelle.
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