De Stem. Jaargang 1
(1921)– [tijdschrift] Stem, De– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Graf Hermann Keyserlings Reisetagebuch
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keit treibt das feucht tropische Klima Ceylons seinen Pflanzenwuchs hervor, ein unentwirrbares Geflecht steigt aus dem Erdboden, aber kein einzelnes pflanzliches Individuum kann sich ganz vollenden, eines wuchert über das andere hin, der Wald besteht nicht aus Bäumen, Individuen, wie bei uns, er ist ein nicht aufzulösendes, wildes, brünstiges Gewoge der Vegetation. Und von diesem zügellosen Wachsen her versteht Keyserling das Wesen des südlichen Buddhismus tief und einleuchtender, als es uns je ein noch so gelehrter Fachmann hat deuten können, in sich selbst findet er das völlig veränderte Bewusstsein des tropischen Menschen vor. Seele und Körper vegetieren selbstätig gleich der ruhenden Pflanzenwelt, Willenskraft und Entschlussfähigkeit sind geschwunden. ‘Als Seele wie als Leib empfinde ich mich als andauernd wuchernd, treibend, wachsend, knospend, blühend, als andauernd werdend und vergehend; ich habe das Gefühl, als werde ich rastlos fortgetrieben durch nicht enden wollende Geburten und Tode.’ Jenseits dieses Hinfliessenden aber gibt es nichts Festes, nichts Dauerndes mehr, alles Gefühl des Lebens geht in der wechselnden Gestaltung auf, für ein selbständiges, von allen diesen Vegetationsprozessen losgelöstes Ich-Bewusstsein ist kein Raum. Aus solchen Voraussetzungen erkennt Keyserling in der Lehre Buddhas die vollkommenste Beschreibung und Ausdeutung der tropischen Seelenverfassung, es gibt nur ein endloses, zielloses Weiterwachsen und -Werden und wie der äqua-torale Wald nicht individuelle umgrenzte Bildungen zeigt, so ist die Seele des tropischen Menschen keine Einheit, sondern ein Gewirr fantastischer Unbildungen. Sonst gibt es nichts, keine wahrhaft seiende Wesenheit, denn wo das Gefühl des Ich mangelt, kann Fortdauer des Ich nicht ersonnen werden, da ist kein Wille zur Unsterblichkeit. Das einzige, was über alles Vegetieren | |
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hinaus noch ersehnt werden kann, ist das endliche Auf-hören dieses Ruhelosen, das Nirwana, das Nichts. Die durch Buddha ausgesprochene Lehre von der Nicht-wirklichkeit des Ich, von der Welt ohne Mittelpunkt und metaphysische Wahrhaftigkeit birgt das den tropischen Menschen naturgemäsze Welt- und Lebensgefühl. Dieser Menschheit steht als ganz Entgegengesetztes der Mensch dergemäszigten Zone, derEuropäer gegenüber, der in unendlicher Tätigkeit, aus eigener Kraft die Welt umzugestalten entschlossen ist. Von Asien kommend, spürt der Wanderer in Kalifornien die scharfe, vitalisierende Luft des Westländertums. Hier treibt der nicht weniger fruchtbare Boden keinen Dschungel hervor, keinGestrüpp von Gewächsen, sondern einzelne Baum-riesen, alles drängt nach Individualisierung. Und Keyserling fühlt sich auf dem Boden Amerikas, desSchöszlings Europas, nach seiner unendlich impressionabeln Art wieder vom begeisterten Jünger Asiens wieder zum Westländer werden. Er vermag nicht mehr, was er doch in Asien vermocht, sein Ich ganz an die groszartige Naturhinzugeben, sein Selbstgefühl sammelt sich wieder in den Grenzen seiner menschlichen Person, ist gestarkt und gesteigert. Felsen und Wald sind ihm jetzt nicht mehr ein ‘Ich’ sondern ein ‘Du’, er versteht wieder mit Sympathie den bisher gehassten Ausbreitungstrieb des europïischen Menschen am Hintergrund des asiatischen All-Eins-Gefühles. Die ungeheure Kraft, die sein Ich durchdringt, möchte alles bewältigen, alles an sich reissen. ‘Warum sollte ich den Himmel nicht erstürmen, den Erdkreis nicht einnehmen? Mir ist, als vermochte ich Alles, was ich nur will.’ - Er fühlt dasselbe, was der andere sozusagen absolut lösen möchte. Eins werden mit allem Dasein über Raum und Zeit hinaus, aber jetzt fühlt er Proteus als Europäer: Trieb zur Eroberung, zur Erkenntnis von den äuszeren Formen | |
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her (nicht aus der Tiefe des Daseins), drangzum Erwerb. Der Sinn - Zusammenhang des Einzelnen mit allem Daseienden - ist der gleiche. Mit Staunenund Verehrung, aber doch mit einer gewissen Beklemmung hat man die Welt Asiens vor sich auferstehen geschaut, jetzt atmet man erleichtert-man ist nun einmalkein Inder!-, das westliche Menschenleben hat vom Geist des Führers wieder Besitz ergriffen. Keyserling erkennt, dassdas Christentum dem Indertum im tiefsten überlegen ist, - vorher hat er zum Gegenteil geneigt - zwar nicht an philosophischer Tiefe, aber in etwas Wesentlicherem: als die Religion der praktischen Tat, die es ist, die die Welt umzuwandeln vermag. Asien - nicht nur das buddhistische Asien - hat keinen Mut und keinen Willen zur Erneuerung, zur wertschaffenden Tat, es weiss zuviel, und das lähmt den Glauben an Menschenkraft, den heiligen Willen zum Sieg des Guten, der das Christentum beseelt. Die Inder sind wie die Philosophen, die inihrem Lehnstuhl sitzen, alles wissen, aber keinen Menschen besser machen und keinem helfen können, wir aber, wir europäischen Menschen, ‘wir sind Gottes Hande’. Zwar sind wir mehr materialistisch als spirituell gesinnt, weil wir aus der Periode des Wachstums noch nicht herausgekommen sind, wir sind Materialisten wie die Kinder, denen Ding und Spielzeug alles bedeutet, aber gerade weil unser Weg mitten in die Materie, ins Harte, ins Schwere hineinführt, gerade darum ist es ein Weg, der Erfüllung und Umgestaltung verheisst. ‘Unser weg zur Freiheit führt über die besiegte Natur.’ Die tiefe und prinzipielle Auseinandersetzung, die sich in der Seele Keyserlings zwischen Ost und West vollzieht, ist eine gewaltige Tragödie, ein Kampf der Reiche alles Menschentums. Keyserling erkennt, dass die Einsicht Indiens der tiefste Punkt ist, den Menschen zu erreichen vermögen. Höchstes Ziel alles Daseins ist: mit | |
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dem bewussten Leben im Grunde des Lebens Wurzel zu fassen, ganz Einheit, ganz Allheit zu werden, Atman. Aber die Inder haben nicht durchaus die rechten Folgerungen aus ihrer Weisheit gezogen. Sie haben als Höchstes hingestellt, dem Leben zu entrinnen, sich in die Gottheit zurückzuziehen, alles Daseiende verächtlich als Maya, als Trug, als Schein, als nicht wirklich zu begreifen. Wir aber können aus der nicht zu überbietenden Einsicht Indiens andere Weisungen fürs Leben gewinnen. Nicht durch Entsagung, sondern durch die Tat sollen wir dem Tiefsten in uns ans Licht helfen, wir sollen der Vollendung unser selbst und der Welt die Wege bahnen, durch Menschenkraft und -Arbeit. Jede unserer Handlungen soll die Weltseele spiegeln. Dann wäre jeder Unterschied zwischen Absolutem und Relativem hingeschwunden, dann wären wir nach dem Wort des deutschen Mystikers ganz wesenhaft geworden. Was Keyserling auf dem Umweg über Indien gewonnen hat, - ‘der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum’ ist sein Leitspruch - dem stimmen die tiefen Geister Europas, die groszen Philosophen, die groszen Mystiker bei. Alles Dasein ist eine Einheit, jedes seiner Elemente, jeder Mensch vor allem, ist ein Organ des Lebens. Doch gibt es Elemente von verschiedener Bedeutung in der groszen Symphonie, die Heiligen und die Weisen verkörpern die Grundtöne, in anderen erklingen mittlere und Obertöne, jeder kann sich nach seinem Wesensgesetz, nach seinem ‘Dharma’ vollenden. Keyserling setzt stolz hinzu: ‘Von hier aus scheint die alte Frage der absoluten Werte gelüst.’ Unendlich wandelbar, fast zu wandelbar ist die Seele des Philosophen gewesen, er hat es vermocht, die entgegen-gesetztesten Äuszerungen des Lebens und des Geistes ans Herz zu schliessen, Einheit im scheinbar ganz Verschiedenem zu fühlen und zu erkennen. ‘Der Metaphy- | |
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siker’ - für Keyserling der höchste Mensch - ‘darf in keiner Gestaltung aufgehen, er darf mit keiner sich identisch fühlen; sein Bewusstseinszentrum muss mit dem der Welt zusammenfallen, er muss jede einzelne Erscheinung vom Standpunkt Gottes aus sehen.’ Seine grosze Angst ist gewesen, als Persönlichkeit auszukris-tallisieren, nicht mehr Proteus, dem Ideal seiner jungen Tage, zu gleichen. Diese Sehnsucht, jede mögliche Gestaltung des Daseins-nicht des menschlichen allein, auch des pflanzlichen, und sogar des unorganischen - in sich zu erwecken, scheint mir wie eine heimliche Sehnsucht nach ganzer Künstlerschaft -der ewige Traum des Philosophen vom Schöpfer. Aber nun vollzieht sich vor unseren Augen die grosze Verwandlung des wandelbaren: wie das Schmetterlingswesen als Raupe und Puppe leben muss, um endlich Schmetterling zu sein, so wächst Keyserling zuletzt über die Verwandlungen hinaus, das eigene Wesen-der Philosoph Hermann Keyserling- bleibt als Dauerndes zurück, Individualität siegt über indische Mayalehre. Der ausgezogen ist, viele Seelen zu gewinnen, erkennt, heimgekehrt zu seiner Uberraschung, dass die scheinbare Enge seiner eigenen Person Freiheit vollkommener auszudrücken vermag, als die grosze Wandelbarkeit: ‘Ein Leben ist mehr als viele, weil im vollwillig übernommenen einen allein vollkommenes Erleben möglich ist.’- Man versteht, dass Keyserling es vorzog, eine ‘Schule der Weisheit’ (in Darmstadt) zubegründen, als den Ruf einer der gröszten deutschen Universitäten - dieser Ruf ehrt die Fakultät! - zu folgen und als Professor unter Professoren zu wirken. Wenn einer der mitlebenden Menschen, so darf Graf Keyserling den ehrenvollen Namen des Philosophen im ursprünglichen, im griechischen Sinn tragen, er istberufen, nicht Wissenschaft zu lehren, sondern Weisheit. |
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