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Der Sinn des Lebens
Von Emil Lucka (Wien)
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Ich will nicht mit profetischer Geste einen neuen Sinn des Lebens verkündigen und als den wahren, den einzigen, der Glück und getrostes Leben schenkt, aufstellen. Wer selbst überzeugt ist, wird leicht Gläubige finden, mag er nun die Menschenliebe oder die Pflicht, die Arbeit oder die Weisheit oder sonst eine schone Sache predigen. Aber ich will nicht predigen sondern betrachten, bescheiden fragen, was es überhaupt heissen kann, sein Leben als sinnvoll zu empfinden, seinem Leben einen Sinn zu setzen, und welche Möglichkeiten für solche Sinnschöpfung es gibt.
Der einfachste, selbstverständlichste und naivste Trieb der Menschen ist, in der Steigerung und Verstärkung einzelner, möglichst vieler Augenblicke Befriedigung zu finden. Wenn man von den wechselnden Inhalten absieht und nur das betrachtet, was solche Stundeh von anderen scheidet, so wird man erkennen, dass sie dichter sind als jene, intensiver mit Leben erfüllt. Jede Stunde, jeder Augenblick unseres persönlichen Lebens hat verschiedene Dichtigkeit, der instinkthafte Wille der Menschen ist darauf gerichtet, öde und leere Strecken zu meiden, Verdichtungzu suchen. Wenn der Sinn des Lebens - und dies ist das weitaus häufigste - im Genuss gefunden wird, in den sinnlichen Genüssen oder
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im Genuss der Machtbegierde und der Eitelkeit, so handelt es sich immer um ein intensives Auskosten möglichst vieler Stunden. Man kargt Wochen lang mit der Aussicht auf einen Tag reichen Daseinsgefühles. Zwei Arten, sein Leben zu verdichten, sind vor allem bedeutungsvoll, und, obgleich sie einander scheinbar bekämpfen und ausschliessen, doch in ihrer Zusammengehörigkeit zu verstehen. Das Aussergewöhnliche, das Nicht-Alltägliche, das Wagnis, das Abenteuer - das bedeutet für viele Menschen den einzigen und wahren Sinn, den das Leben zu bieten hat. Menschen, die von Tag zu Tag hinvegetieren, raffen alle ihre Kräfte zusammen, um einmal eine schwierige Bergpartie zu unternehmen, sammeln sich ganz in diesen Stunden intensivsten Daseins, die über eine lange leere Zeit hinweghelfen, dafür entschädigen. Sie setzen sogar ihr Leben aufs Spiel, um der Konzentration solcher Stunden teilhaft zu werden. Nicht nur das unmittelbar pulsende Dasein wird in der Gefahr stärker empfunden, auch das ästhetische Moment der Schönheit der Natur verdichtet sich; der Bliek vom Gipfel bedeutet unvergleichlich mehr als der Blick von der Strasse. Die erste aufflammende Kriegsbegeisterung, die wir erlebt haben, ist derselben Wurzel entsprungen: der Sehnsucht, einmal aus der Trivialität des bürgerlichen Alltags herauszukommen, sich ins Neue, ins Andere, ins Abenteuer, ins intensive Leben hineinzustürzen, vielleicht darin unterzugehen. Sehr häuftig zeigt sich der Abenteurer als Spieler. Er möchte seine ganze Existenz in den Rausch einer Nacht, einer Stunde hineinpressen, er fragt in dieser Zeitspanne nicht nach vorher oder nach nachher, er vergisst alles im Wirbel des Spieles, der Stunde. Er spielt nicht, um zu gewinnen, und nicht um die Lust des Sieges zu geniessen - er spielt nur,
um spielend in höchster Verdichtung sein Leben zu geniessen.
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Von hier aus verstehen wir restlos das Wesen des Festes: es ist die von der Gesellschaft gebilligte, die unschädlich gewordene und doch immer noch lockende Aufhebung des Alltäglichen, das Abenteuer einer wohl-geordneten, durchaus nicht abenteuerlichen Gesellschaft, aus dem man unfehlbar in den lieb gewordenen Alltag zurückkehrt. Kindern und unerfahrenen Menschen begegnet viel mehr Abenteuerliches als Erwachsenen und Erfahrenen, denn ihnen bringt jeder Tag, jede Situation, jedes Buch etwas Neues, Aufregendes, Verlockendes. Je mehr man erlebt hat, desto gründlicher hat man sich ja schon mit allen Situationen vertraut gemacht, man erinnert sich an Aehnliches, findet schliesslich wie jener resignierte Rabbi nichts mehr neu, beachtenswert oder gar abenteuerlich - ‘es ist schon alles da gewesen!’ Das ist das Gefühl des Gesättigten, des Alternden und Mutlosen, der im Grunde nicht will, dass irgend etwas neu werde, der am liebsten im Bekannten und Gewohnten verharrt und alles fürchtet, was seine Bequemlichkeit im Leben und im Denken zu stören versucht. Nicht dass das Neue schlechter sein könnte als das Alte, schreckt ihn, sondern nur, dass es neu ist, dass er zu einer gewissen geistigen und seelischen Anstrengung oder gar zu einer Veränderung seines Handelns gezwungen werden soll.
Doch nicht minder als das Neue und Abenteuerliche ist auch das ihm Entgegengesetzte, das Vertraute und Heimische ein ganz wesentlicher und unmittelbarer Wert für den Menschen. Was wir gewohnt sind, das fehlt uns, wenn es ausbleibt, auch wenn wir es gar nicht als etwas Erfreuliches geschatzt haben, solang es da gewesen ist. Gegenüber dem neuen Erleben empfinden wir das wiederholte Erleben als vertraut und lieb, wir sehen einen Wert im Wiedererkennen des Bekannten. Gerade weil etwas jeden Tag um dieselbe Stunde eintritt, wirdes
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sinnvoll für uns, auch wenn es an sich wenig bedeutet. Wiederholung ist Verdichtung, ebenso wie Neuerleben Verdichtung ist. Wird im Abenteuer Vieles und mit seelischer Wucht Beschwertes in eine kurze Zeitspanne zusammengepresst, so verdichten sich durch oftmalige Wiederholung manche an sich nicht sehr konzentrierte Elemente. Bei einer täglich wiederkehrenden Handlung treten ihre vielen Erlebnis-Bestandteile immer wieder zu einander, oft mit kleinen Abweichungen, und der Erlebniskern, der in alledem liegt, empfängt durch diese oftmalige Wiederholung Zusammenhalt und Dichtigkeit. Goethes Egmont spricht sterbend diese Wertung des' Lebens aus, wenn er der schonen, freundlichen Gewohnheit des Daseins und Wirkens gedenkt, von der er nun scheiden soll.
So steht das Neue und Abenteuerliche mit dem Gewohnten und Vertrauten in einem gewissen Wettbewerb. Kein Mensch will ganz ohne neue Eindrücke sein und kein Mensch kann ganz ohne irgendetwas Heimisches und Gewohntes im verwirrend Neuen auskommen. Der stumpfsinnigste Rentner findet in seiner täglichen Zeitung oder im Kartenspiel den Reiz des Neuen, sogar mit jener Färbung des Selbsterlebten, die eben das Abenteuerliche charakterisiert. Und der tollste Strudelkopf wird gewisse Neigungen haben, die sich gleich bleiben - und seien es nur Lieblingsgerichte.
Die Gegensätze des Neuen, Abenteuerlichen und des Wohlbekannten, Heimischen spielen eine bedeutende Rolle im Liebesleben. Die Sehnsucht nach immer neuen Erlebnissen ist in den meisten Menschen lebendig, wenn sie auch nicht immer zutage tritt. Der Ehemann träumt davon, einmal das Gewohnte zu verlassen, sich in ein Fremdes, Lockendes hineinzustürzen, das er an und für sich gar nicht so hoch bewertet, das aber den Charakter des Abenteuerlichen und was damit zusam- | |
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menhängt, des Verbotenen und daher Gefährlichen zeigt. Dagegen steht aber der sehr hoch eingeschätzte Wert des Altvertrauten, das mit der dauernden Wiederholung und Gewöhnung immer noch vertrauter und wertvoller wird. In der Regel sind beide Tendenzen, besonders beim Manne, gleichzeitig vorhanden und bekämpfen einander. Ein grosser Teil der tragischen Konflikte auf dem Gebiet des Liebeslebens entspringt hier.
Wir haben die Einsicht gewonnen, dass ein Weg, seinem Leben einen Sinn zu schenken, in der Verdichtung der Lebenselemente liegt. Dies ist nun weiter zu verfolgen. Der Wille zur Verdichtung hat sich nämlich bisher nur auf gewisse bevorzugte Inhalte erstreckt, die nun wie in einer Glorie stehen. Da sind Augenblicke lang herbeigesehnt worden und noch lang nachher werden sie als Gipfel- und Sinnpunkte des Lebens empfunden. Aber die Verdichtung muss nicht so sehr in Ausnahme-Gegenstände und in Ausnahme-Momente als ins Dauernde, in den Alltag gesetzt werden. Immer entschiedener kann der Alltag aus einem blossen Verlauf der Ereignisse, denen der Mensch mehr oder weniger passiv erliegt, in einen sinnvollen Ablauf gewandelt werden. Die Konzentration bezieht sich jetzt nicht nur auf einige feiertägliche Punkte, sondern auf viele und scheinbar unbedeutende Elemente; ihnen wird eine Bedeutung aus eigener Kraft verliehen.
Wir stehen hier vor der ersten grossen prinzipiellen Möglichkeit, dem Leben einen Sinn zu finden. Immer mehr Elemente werden als wesenhaft, als belangvoll und wichtig aufgenommen, bis schliesslich wenige oder gar keine wertlos zurückbleiben. Das Leben wird als solches unmittelbar und ohne inhaltliche Veränderung empfangen und zur grössten möglichen Verdichtung gebracht, zum Erlebnis gesteigert und gewandelt. Diese
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Verdichtung ist aber erst die Vorarbeit, die Reinigung, die Forderung der menschlichen Kraft an das Leben, wesentlich zu werden. Ein prinzipieller Sinn des Lebens kann erst hervortreten, wenn alles einzelne auf das Ganze eines Lebens, auf das eigene Leben als eine Einheit bezogen wird. Von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus - nicht von einem Programm, sondern aus einem Grundgefühl - wird eine Seinsreihe erschaffen. Das ordnungslos Vorgefallene, Erlittene und Getane wird als zusammenhängend gedeutet, durch eine Einheit geschaut, alle einzelnen Elemente des Lebens werden aus blossem Geschehen und Hinnehmen zu echten Erlebnissen, das heisst zu einem Mittleren aus Empfangen und gestaltend Umdeuten, einem Produkt aus Welt und Menschenkraft. Etwas wirklich erleben, heisst ja, die Elemente des Lebens in eine organische Beziehung mit der gestaltenden, in einer bestimmten Richtung wirksamen Kraft der Seele bringen, so dass sie nicht wie ein Zufälliges vorüberhuschen und wieder spurlos versinken, sondern durch den Mittelpunkt hindurchgehen und von der inneren Formungs-kraft, der Entelechie, mit Goethe zu sprechen, verwandelt, unmittelbar aus der Seele hervorzutreten scheinen. Das Geschehen wird zum Schicksal.
Dies ist die eine grosse Möglichkeit, dem Leben einen Sinn, inneren Zusammenhang und Einheit zu geben: Die Umwandlung möglichst vieler, möglichst aller eintretender Geschehnisse in Erlebnisse, die Vertiefung und Verklärung dessen, was an uns herantritt und uns oft wehrlos überfällt, in echtes Schicksal. Schicksal ist die organische Einheit aus Geschehen und Formkraft der Seele, ist nicht äusseres Geschehen allein, aber auch nicht unmittelbar sich aussprechendes Mysterium der Seele, sondern ein Mittleres, die Bewährung der einmaligen persönlichen Kraft am Material des Lebens.
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Die Funktion, die aus blossem Geschehen einheitlich gerichtetes, sinnvolles Erleben formt, wirkt in allem, was Menschen begegnen kann, an Freude und Leid, an Entschluss und Handlung, macht alles zum Eigentum des Menschen. Aus den innerlichen wertschaffenden Akten entsteht so eine Reihe, die nun das eigentliche, sinnerfüllte Leben eines Menschen darstellt. Wenn jedes Element aus sich selbst heraus wertvoll geworden wäre - nicht etwa durch die Beziehung auf eine objektive Wertidee, sondern nur aus sich selbst - so hätte ein solcher Mensch seinem Leben einen absoluten Sinn verliehen, sein Leben wäre nicht mehr eine Folge von Ereignissen und Handlungen, sondern ein Organismus von sinnvoll gegliedertem Erleben, von innerlich gedeutetem und einheitlich gerichtetem Sein. Einen Menschen, der diesem Ideal nahe kommt, pflegen wir in der höchsten Bedeutung eine Persönlichkeit zu nennen. In welcher Richtung sie ihr Leben sinnvoll gestaltet, das ist so mannigfach wie die menschlichen Charaktere. Oft sind es ganz unscheinbare Menschen, die keiner kennt, manchmal strahlende Vorbilder. Ich will auf nichts einzelnes eingehen.
Die eine grosse Möglichkeit, dem Leben einen Sinn zu verleihen, leuchtet ein: Das Leben selbst wird, wie es herankommt, erfasst, von innen heraus in einen Weg gewiesen, das blosse Geschehen wird einheitlich gerichteter, sinnvoller Zusammenhang. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit: Nicht das Leben selbst wird Träger eines Sinnvollen, sondern aus dem Leben heraus, über das Leben hinaus wird ein neuer, ein sachlich-gegenständlicher Sinn gefunden. Auch hier wird der Stoff, der an den Menschen herankommt, erfasst und verarbeitet, behält aber nicht seine unmittelbare Erlebnisform bei, sondern wird aus dem Erlebnis heraus umgestaltet, einem objektiven Zusammenhang angenähert. Nicht in der
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Begründung einer Seinsreihe, sondern in der Begründung einer Sachreihe liegt nun der Sinn des Lebens. Er wird nicht mehr im unmittelbaren, konzentrierten und vereinheitlichten Leben selbst gefunden, sondern in der Verwandlung des Lebens, die das Geheimnis des Menschen ist und die aus dem Material persönlicher Begegnungen, Ereignisse, Leiden und Taten objektiv wertvolle Gebilde schafft. Die Reihe, die so entsteht, ist trivial gesprochen, nicht eine Lebensgeschichte, sondern eine Sammlung von Werken, die den persönlichen Zufällen des Hier und des Jetzt enthoben ist, frei über dem Leben schwebt und anderen das Erlebnis des Wertes vermittelnkann, dem sie entstammt. Ein solcher Mensch findet, in irgendeine objektive Tätigkeit versenkt, als Techniker, als Wissenschaftier, als Staatsmann, als Organisator, als Denker, als Künstler den Sinn seines Lebens nicht in der Konzentration des Lebensstoffes um einen Mittelpunkt und durch einen Mittelpunkt, nicht in der Vertiefung des eigenen Seins, sondern in der Objektivierung, in der Umwandlung aller seiner Kraft und seines Gehaltes zum Gegenständlichen. Die Tendenz zur Verewigung ist hier wie da gegeben, dort aber unmittelbar und nur für das eigene Ich gültig - man kann sagen, mit Selbstgenugsamkeit oder anders gewendet, mit Selbstsucht wirkend - hier dem Reich der objektiven Werte, der Kultur hingegeben.
Es ist sehr beachtenswert, dass ein Philosoph, der das Leben und nur das Leben zu suchen glaubte, der über Wissenschaft, Philosophie und Religion spottete, dass Friedrich Nietzsche in den Einleitungsworten zu seiner Selbstbiographie Ecce homo nichts als allein den geistigen Ertrag seines Lebens gelten lässt, das Leben selbst missachtet, -’ Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich durfte es begraben - was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich. Das
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erste Buch der Umwertung aller Werte, die Lieder Zarathustras, die Götzendämmerung, mein Versuch, mit dem Hammer zu philosophieren - alles Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs! Wie sollte ich nicht meinen ganzen Leben dankbar sein?’- Man kann nicht schroffer aussprechen, dass man den Sinn seines Lebens im Ueberbau, im geistigen Ertrag, im Werk gefunden hat - nicht im Leben selbst. Nietzsche hat sich in langer schmerzhafter Krankheit fortwährend zur Arbeit gezwungen, hat sein Leben durch strenge leibliche und geistige Diät asketisch ganz darauf eingerichtet, ihm einen möglichst reichen Ertrag an Werken abzuringen. So ist dieser angebliche Lehrer des wirklichen Lebens eines der schönsten Beispiele für einen Menschen, der sein ganzes Dasein nur als ein traurigschmerzhaftes Instrument für Gedanken, für sachliche Werte versteht und ausbeutet.
Die beiden Möglichkeiten der Sinngebung fallen gut sichtbar auseinander, wenn ein Mensch vor einem grossen Leide steht. Die Menschen der ersten Art wissen sich oft nicht damit abzufinden, der Schmerz bricht wie ein Dunkles, Entsetzliches über sie herein, bleibt unbewältigt liegen, sie werden niemals mit ihm fertig. Sind sie tief er veranlagt, so gelingt es ihnen wohl, das schwere wirklich zu bewältigen, im Schmerz zu lernen, wie man das Leben fassen muss, Schmerz nicht in Verzweiflung ausarten zu lassen, sondern in Trauer zu wandeln, die nun allen Inhalten des Lebens ihren Klang gibt, sie still macht und verzaubert. Solche Menschen werden dann oft wohltätig oder widmen sich ganz einer höheren Idee - und finden so instinktiv den Weg zur sachlichen Reihe, um in einer Arbeit sich selbst und ihren Schmerz zu vergessen. So vollzieht sich manchmal der Uebergang vom ersten zum zweiten Typus. Dem gegenüber pflegen Menschen, die vom Beginne ganzauf eine Arbeit
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eingestellt sind, persönlichen Schmerz nicht so tief zu fühlen, ihr Zentrum liegt garnicht im persönlichen Leben, sondern in der sachlichen Welt. Und über sie hinaus besitzt der Künstler sogar die Möglichkeit, aus seinem Schmerz Nahrung für sein Werk zu ziehen, nicht indem er davon wegsieht, sondern dadurch dass er den Schmerz auflöst und innerlich zur Werkreihe hin umgestaltet. Geht also bei dem tieferen Menschen des subjektiven Lebens ein schweres Leid unmittelbar ins Leben ein, um es zu verinnerlichen, so kann der Mensch der Sachreihe höchstenfalls seinen Schmerz in die objektive Region umbildend hinübertragen. Wir bemerken schon hier, dass die beiden Möglichkeiten der Sinngebung mit einander in Verbindung stehen, dass gerade die Heroen der Werkreihe auch einen tiefen und rein persönlichen Sinn des Lebens kennen. Dieser Zusammenhang wird uns noch beschäftigen.
Den Frauen entspricht mehr die erste Art, sich dem Leben gegenüberzustellen, den Männern die zweite. Es ist den Frauen überhaupt gemässer, im Leben selbst die letzte Erfüllung zu finden, bei den Männern bleibt oft ein Rest übrig, der sich nicht zufrieden geben will. Die Mutter, die ihr Kind gebiert, pflegt und aufzieht, empfindet vielleicht am allertiefsten den erfüllten Sinn des Lebens, der im Leben selbst liegt. Hier ist im Wurzelhaft-Organischen der Sinn des Lebens und alle seine Freude so restlos gefunden, dass sich für jedes andere Bestreben ein Lächeln stiller Ueberlegenheit einstellen kann.
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II
Von einen Sinn des Lebens kann nur dort mit Berechtigung gesprochen werden, wo der Sinn im wirklich erlebten Leben gefunden, nicht anderswohin gelegt wird. Es klingt paradox, aber es ist wahr: Der Sinn des Le- | |
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bens muss gefunden werden, ohne gesucht worden zu sein. Wer seinem Leben einen Sinn sucht, der hat eigentfich schon bekannt, dass es in sich selbst keinen wirklichen Sinn hat, dass er sich erst umsehen muss, wo etwas dergleichen zu entdecken sein könnte. Das Gefühl: dies ist gut, schön, höchsten Sinnes voll, muss sich ganz unmittelbar einstellen. Die meisten Menschen erleben es in der ersten Liebe: Das Leben hat mir seinen Sinn offenbart, ich weiss, was es wert ist; und vielleicht darf man das Gefühl der Liebe überhaupt als Beispiel und Schema sinnerfüllten Daseins verstehen. Lieben heisst, seinem Leben einen Sinn gefunden haben, Suchen nach Liebe ist Suchen nach Sinn und Erfüllung - ist schon Mangel und Armut.
Betrachten wir aber das Wünschen und Hoffen der Menschen, so werden wir erkennen, dass den meisten der Gedanke, ihr ganzes Leben könnte einen Sinn haben, gar nicht kommt, dass sie nicht ihr Leben als eine Einheit, sondern nur einen gewissen, ganz bestimmten Zeitabschnitt ins Auge fassen, der nun eine Bedeutung gewinnen soll. Sie suchen nicht einen gültigen Sinn, sondern nur ein Surrogat des Sinnes für das nächste Jahr, für eine Woche, für einen Tag. Viele ertragen den unangenehmen und jedes Sinnes baren Arbeitstag, weil ihnen der Abend etwas wie einen Sinn verheisst, oder sie sehen den Sinn einer lästigen Woche im Sonntag. Andere schieben den eigentlichen Sinn des Lebens weiter hinaus. Der kleine Kaufmann sammelt freudlos ein Vermögen, mit der Hoffnung, einmal ohne Plackerei von seinen Renten leben zu können, der Beamte träumt von Pensionierung. Sie erwarten, dass jene ferne, bessere Zeit ihrem Leben einen Sinn geben müsse; dann werden sie nur tun, was ihnen behagt, werden nicht gehorchen, sondern selbst Herr sein, kurz ‘ihr Leben geniessen,’ und damit dies Sinnvolle einmal komme, neh- | |
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men sie jede Bürde der Gegenwart auf sich. In Wirklichkeit aber ist ihnen das Gefühl, dass ihr Leben einen Sinn habe, fremd, nicht anders als denen, die nur bis zur nächsten Mahlzeit denken und darin den Sinn ihres Tages finden, Sie alle begnügen sich mit Surrogaten. Der eigentliche Sinn des Lebens kann auch in eine noch fernere Zukunft hinausgeschoben werden, in ein besseres Jenseits, wo es weder lästige Pflichten noch peinigende Oede geben wird. Diese Seligkeit nach dem Tode ist aber nur die Formulierung der pesssimistischen Erkenntnis, dass man dem diesseitigen Leben keinen rechten Sinn abgewinnen kann, dass der Zustand der Zufriedenheit auf Erden nicht erreichbar ist.
So wird der eigentliche Sinn des Lebens über den Sonntag, über die Pensionierung, über das Leben selbst hinausgerückt und kann durch die Erfahrung nicht mehr widerlegt werden. Alle diese fernliegenden Ziele sind nicht nur Surrogate, sie sind meistens auch Selbsttäuschungen. Trifft nämlich die ersehnte Zeit, die dem Leben einen Sinn schenken soll, wirklich ein, so muss man mit Schreck erkennen, dass man einer Illusion zum Opfer gefallen ist (einer Illusion, die sich für manche Leute jeden Sonntag wiederholt). Von den erzwungenen Pflichten ist man allerdings befreit, aber das Gefühl der Leere, des unausgefüllten Lebens stellt sich noch viel quälender ein. Mit einem Mal tritt von aussen her keine Forderung mehr an diese Menschen heran und sie verfallen der Langeweile. Langeweile ist das Gefühl, dass das Leben ohne Inhalt und Sinn und ohne eigenes Zutun hinfliesst, dass es immer mehr dem leeren Zeitablauf gleichkommt, wie die Uhr ihn anzeigt. Der Gedanke an einen Sinn, der Jahre lang aufrecht erhalten wurde, erweist sich als Illusion, man hat ja den Sinn des Lebens nur darum in jene ferne Zeit hineinverlegt, weil die Gegenwart ihn nicht schenken konnte. Da kann wohl der Pessimismus sprechen:
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Wenn unser Leben Mühe und Arbeit gewesenist, dann ist es gut gewesen. - Aber diese Einsicht ist nur Resig-nation, denn in der Mühe und Arbeit wird ein wirklicher Sinn des Lebens nicht empfunden, nur ein notgedrunge-nes Surrogat dafür. Gewährt diese Resignation keine Beruhigung, so kann sich die Lange weile zur Verzweiflung steigern, die schaudernd erkennt, dass das Leben nicht nur leer jedes Sinnes, sondern sogar widersinnig ist, um schliesslich in dje radikalste Form des Selbst-mordes zu münden, in den Selbstmord des Nihilisten, der den Sinn des eigenen Lebens - und mit ihm alles Lebens - auf die entschiedenste Art verneint.
In diesen Zustand: Lange weile, Verzweiflung, Nihilis-mus versinken leicht die Menschen, deren Leben nur aus einzelnen zusammenhangslosen, durch gar keine Einheit gebundenen Splittern besteht. So wenig wie zur Einheit des eigenen Lebens haben sie eine Beziehung zu etwas Allgemeinem, Sachlichem, zu etwas an sich Sinn-vollem. Diese Menschen sind ganz irreligiös. Reli-g i o n ist ja nichtsanderesals die Begründungeines Sinnes für das Leben des einzelnen Menschen (und weiter für das Dasein der Menschheit und der ganzen Welt). Religion will Einheit und Zusammenhang stiften, will jedes einzelne Tun, jede Regung und jeden Gedanken in einen sinnvollen, organischen Zusammenhang mit dem einheitlich gefassten Leben - im Geist der Seinsreihe - oder mit Dauerndem, Ewigem - im Geist der Sachreihe - setzen, sie will das Endliche ins Ewige verankern, das Einzelne, Versprengte ganz und bedeutungsvoll machen, dem Zerstückelten einen Sinn geben, schliesslich das Leben des einzelnen in einen un-löslichen und sinnvollen Einklang mit dem Leben der Welt bringen. So ist Religion ganz und gar der Wille und die Kraft, dem Leben einen Sinn zu verleihen. Wer mit Ernst seinem Leben einen Sinn sucht - Gottsucher
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pflegt man solche Menschen zu nennen - will Religion, auch wenn er sie niemals besitzt. Wer dagegen den Ge-danken, dass das Leben überhaupt einen Sinn habe, leugnet und nicht dulden will, sondern die Zwecklosig-keit und Nichtigkeit des Lebens behauptet, der ist im wahren - nicht im dogmatischen - Sinn irreligiös. Wir können es jetzt auch verstehen, dass die Anhanger kirch-lich festgelegter Religionen die nach ihrer Aufassung ‘Gottlosen’ für unglücklich halten. Sie sind es wirklich, denn das sind diejenigen, die ohne Sinn leben, die den Gedanken einer echten Bedeutung ihres Daseins - rein verstandesmässig lässt sie sich ja niemals begründen - ablehnen und so am eigenen Leben verzweifeln. Mit Gott und anderen Glaubensartikeln hat Religion im echten Sinne nichts zu schaffen, man wollte denn Gott als die Einheit jedes möglichen Sinnes verstehen. Schliesslich sei noch bemerkt, dass fast jedes philoso-phische System eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zum Hauptinhalt hat, eine positive wie die europäischen Philosophien oder eine nihilistische wie der Buddhismus und Schopenhauer.
Weil aber die Menschen auch in diesen Dingen nicht folgerichtig sind, bleiben sie meistens auf halbem Wege stenen und erfinden sich irgendeine Sache, die zwar an sich sinnlos ist, auch zu ihrem persönlichen Leben keine Beziehung hat, die ihnen aber doch die Illusion eines Lebenszweckes schenken soll. Von den verhassten Pflichten des Alltags einerseits, von der Langeweile an-derseits bedrangt, greifen sie nach Surrogaten. Da stellen sich die sonderbarsten Dinge ein, die man sich so-lange vorsagt, bis man selbst an ihre Bedeutung glaubt. Mit Begeisterung widmet man sich einem Sport, strebt nach Höchstleistungen, beginnt eine Sammlung irgend-welcher Dinge, oder man stürzt sich in ein Arbeiten, dessen Ende nicht abzusehen ist, das daher niemals ent- | |
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tauscht und die Illusion sinnvollen Tuns geben kann. Solche Illusionen werden umso leichter geweckt und umso sicherer berestigt, je mehr Menschen das Gleiche beginnen, einer findet am andern moralische Stützung. Am beliebtesten ist das besinnungslose Zusammentra-gen von Geld, ohne eine Vorstellung, wozu es eigent-lich dienen soll. Einer lässt sich vom andern überzeugen, dass dies das Wahre ist, sie gründen einen heimli-chen Bund, dessen einziger Glaubenssatz darin besteht, nur das Reichwerden sei der Sinn des Lebens.
Wie im Reichwerden suchen viele den Sinn ihres Lebens in der Befriedigung der Eitelkeit und der Macht-begierde. Die Absicht, einen Sinn zu finden, ist hier ge-wissermassen selbst Sinn geworden, denn Macht gewinnen heisst ihnen ja Sinn gewinnen. Und da der Machtwille niemals befriedigt werden kann, sondern immer neue Gebiete ergreift, sind solche Illusionen ge-eignet, ein ganzes Leben zu erfüllen. Je leerer an Inhalt und wirklichem Sinn ein Mensch ist, einen desto grosseren Raum pfiegen diese Surrogate des Sinnes in ihm einzunehmen, der Sinn des Lebens wird schliesslich nur noch im bestendigen ruhelosen Weiterwollen, im Stre-ben nach Macht und Besitz gefunden. Und doch ist jede solche ins Grenzenlose gerichtete an sich sinnlose Be-tatigung eine Verneinung des Sinnes des Lebens. Diese Menschen wollen arbeitend, erwerbend,strebend ihr Leben durch ruheloses Tun sozusagen von sich weg scheuchen. Es ist ein langsamer Mord am Leben, nur weniger aufrichtig und feiger als der Selbstmord, der die wirkliche, entschlossene Verneinung alles Sinnes verkündet.
Es wäre nicht ohne Interesse, zu fragen, welche Menschen es sind, die den einen Genuss dem andern vor-ziehen, welche den Genuss der Gegenwart zum Opfer bringen, um sich den Genuss einer spateren Zeit zu er- | |
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kaufen, oder welche dieZukunftindenWindschlagen, wenn nur die Gegenwart schön ist. Als die eigentliche Weisheit des ‘Lebenskünstlers’ hat es immer gegolten, die Genüsse des Daseins in ein richtiges Verhaltnis zu bringen, nicht in Uebermass zu verfallen und so Gesund-heit und Genussfähigkeit zu beeinträchtigen. Wer vor allem anderen ein faules und bequemes Leben schätzt, wessen Ideal das Landhaus mit der wohlbestellten Küche ist, der lächelt nachsichtig - wie der klug ge-wordene Erwachsene über das Kind lächelt - wenn er sieht, dass ein anderer im Jagen nach Ehre und Macht sein Leben aufzehrt oder es gar mit waghalsigen sport-lichen Leistungen, mit phantastischen Unternehmungen in Gefahr bringt. Der Tätige verachtet wieder den Trägen. Von allen diesen Einzelheiten will ich absehen, ich stelle nur fest, dass es ein echter Sinn des Lebens sein kann, wenn jemand systematisch Leben in Geniessen zu verwandein weiss. Der Genuss der unmittelbar erlebten Gegenwart ist ein wirkliches Ausschöpfen des Lebens nach einer Richtung, ist Vereinheitlichung zur Seinsreihe, nicht eine Illusion wie das Jagen nach Macht, nach Besitz, nach Freude im Jenseits. Der geniessende scheucht das Leben nicht von sich fort wie der ruhelos Geschaltige, er zieht es vielmehr an sein Herz. Auch von anderen Zwecksetzungen ist das Element der Lust nicht auszuschliessen, jede Art, sein Leben wirklich zu ver-tiefen und zu verewigen, verbindet sich mit Lust, oder wir sagen vielleicht besser mit Freude und Befriedigung. Wir haben bisher von den Illusionen der Seinsreihe ge-sprochen, aber die
Illusionen der Werkreihe sind noch verbreiteter und noch trügender,
An viele Menschen und gerade an solche, die das Leben ernst nehmen, tritt einmal die qualende Frage heran: Warum das alles? Was tue ich? Was will ich? - Sie suchen nach einem Sinn für ihr Leben, für das Leben
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überhaupt, manche sind sogar bestendig darauf aus, ihrem Leben einen Sinn zu finden. Sie greifen nach allem, was ihnen etwas zu verheissen scheint, werden aber schnell wieder enttauscht. Sie hoffen immer das Wahre, das Eigentliche müsse sich doch einmal finden lassen, das Leben müsse einen Sinn haben und ihn offenbaren. Nicht selten werden diese peinigenden Fragen durch einen Machtspruch zum Verstummen gebracht, ein Pro-gramm wird aufgestellt, eine Heilslehre für das eigene Leben und das aller anderen wird verkündet. Wer nach dieser Lehre lebt, der lebt recht, der hat den Sinn des Lebens gefunden.
Solche Programme werden in der Regel von aussen her, von der Umgebung, von einer anerkannten Autorität empfangen und sollen nun die quälenden Fragen beant-worten, die innere Ruhelosigkeit beschwichtigen. Man übernimmt gläubig eine Lehre, dass irgendetwas das Höchste auf Erden sei, dass man alle seine Kräfte ein-setzen müsse, es zu erreichen; erst dieses Ideal mache das Leben lebenswert. Man kann beobachten, dass sich die Menschen, von innerer Ratlosigkeit bedrangt, auf ein neues Schlagwort stürzen, das unter sie geworfen wird. Sie treten begeistert für etwas ein, was ihnen vor kurzem noch nicht einmal bekannt gewesen ist, haben den wahren Sinn ihres Lebens entdeckt. Viele sind zum Beispiel des festen Glaubens, dass es der Sinn des Lebens ist, die Gerechtigkeit oder den Völkerfrieden oder die Gleichheit des Besitzes oder sonst eine schone Sache zu verwirklichen, und dass der Sinn des Lebens ganz erfüllt wäre, wenn der erwünschte Zustand einträte. Am stärk-sten wirken solche plötzlich auftauchende Ideen auf Menschen, die Schiffbruch gelitten haben, deren natür-liches, instinkthaftes Wertgefühl enttauscht und ge-schadigt worden ist; sie können nur noch weiter leben, wenn sie sich mit aller ihrer Kraft in etwas Fremdes,
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Allgemeines klammern, werden Anhänger und Verkün-der einer Heilslehre. Wenn wir die Geschichte oder unsere Gegenwart betrachten, so werden wir zugeben mussen, dass dergleichen Ideen vielen Menschen einen Halt in den Verwirrungen ihres Daseins bieten, man kann ihnen daher einen sozialen oder wie man heute sagt pragmatischen Wert zubilligen. Fast immer ist aber solch eine Idee, die einen Menschen ganz erfüllt, eine Beruhigung, ein Narkotikum, das die innere Sinnlosig-keit seines Lebens verdrängen soll.
Die meisten kennen ihre höchsten persönlichen Werte nur sehr mangelhaft, sie tauschen sich darüber, was ihnen wesentlich und wichtig ist, wofür sie echte Opfer zu bringen vermochten, sie stehen unter der Suggestion irgendeines Gedankens oder einer Lieblingsmeinung. Ein Mann glaubt sein Leben lang einer Idee zu dienen und will doch eigentlich mit seinem Kampfen und Siegen Eindruck auf eine Frau machen; eine Frau bringt Opfer an Glück und Gesundheit, um irgendein sachliches Ziel zu erreichen, und alles soll doch nur die innere Leere ihres Daseins verhüllen.
(Slot volgt).
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