Gertrud von le Fort
Imitatio Mariae
NIEMAND, der das Antlitz der heutigen Menschheit betrachtet, kann sich über die furchtbare Veränderung täuschen, die das letzte Jahrzehnt ihm aufgeprägt hat. Von welchem Lande, ja von welchem Erdteil aus wir dieses Antlitz auch betrachten, überall werden wir die Zeichen des Grauens und der tiefen Hülflosigkeit wahrnehmen, die der Mensch angesichts der furchtbaren Entstellung des Menschen empfindet. Niemals in der uns bekannten Geschichte unserer Erde haben Grausamkeit und Hass derartige Orgien gefeiert, niemals ist menschliches Leben und menschliches Glück so erbarmunslos zertretenworden, niemals hat sich der Mensch dem Menschen so unmenschlich gezeigt. Es erscheint fast wie Hohn, wenn eine hochentwickelte Technik heute den Verkehr der Einzelnen wie der Völker, ja der Erdteile in einer nie zuvor gekannten Vollkommenheit ermöglicht, denn während uns das Flugzeug mühelos von Land zu Land trägt, suchen wir umsonst nach dem geistigen Band, das die zerrissenen Familien vereinigt, die zerstörten Ehen wieder bindet, die einander misstrauenden Völker und Parteien zu brüderlicher Liebe und vertrauensvoller Gemeinschaft zusammenschliesst. Es ist als gäbe es kaum noch eine andere Einheit der Menschheit als die gemeinsamer Trauer und Friedlosigkeit, eine Einheit, die bereits abgelöst zu werden droht durch die Einheit des gemeinsamen Unterganges aller, dessen Möglichkeit sich deutlich genug am Horizont abzeichnet.
Was ist geschehen, um diese furchtbare Veränderung möglich zu machen? Man ist zunächst geneigt, an die Wirkungen des Krieges zu denken. Allein die Wirklichkeit alles äussern Geschehens is ja nur das Zu-tage-treten einer inneren Zustandes. Wir müssen um einige Stufen tiefer in das Geheimnis unserer Zeit hinabsteigen, wenn wir sie begreifen wollen.
Man hat zu Beginn dieses furchtbaren Jahrzehnts in dem Lande, von dem der Krieg ausging, unser Zeitalter als ‘das männliche Zeitalter’ bezeichnet. Mit dieser Bestimmung - nehmen wir zunächst einmal an, sie sei richtig - ist zweifellos eine gewisse Bedrohtheit der Welt ausgesagt. Ein ausschliesslich männliches Zeitalter kann weder fruchtbar noch schöpferisch sein, denn alles Sein - das natürliche sowohl wie das geistige - ist dem Gezet der polaren Kräftewirkung unterstellt. Es ist darum sehr begreiflich, wenn heute vielfach der Ruf ertönt, die Frau möge künftighin wieder mehr in Erscheinung treten. Aber täuschen wir uns nicht, die Frau in ihrer empirischen Gestalt, wie sie uns weithin entgegen tritt, wird die Welt schwerlich retten, denn das sogenannte