Queeste. Tijdschrift over middeleeuwse letterkunde in de Nederlanden. Jaargang 1999
(1999)– [tijdschrift] Queeste– Auteursrechtelijk beschermdZum Stand der niederländischen Hagiographieforschung
| |
[pagina 198]
| |
Dem Charakter eines auch für ein interessiertes Laienpublikum verfaßten Bandes entsprechend referieren die meisten Beiträge in der Regel die bisherige Forschung, doch einige nutzen die Gelegenheit, um über Bekanntes hinauskommen. So entwirft Anneke B. Mulder-Bakker in ihrem Beitrag Gefascineerd door heiligen. Heiligenlevens en heiligenverering in de Nederlanden in de dertiende eeuw auf der Grundlage der niederländischen Legendenproduktion des 13. Jahrhunderts eine durchaus originelle Heiligentypologie: 1) ‘heilige van de kalender’, womit jene Heiligen gemeint sind, für die die Kirche einen Festtag vorgesehen hatte; 2) ‘lokale heiligen’, die (noch) nicht kanonisierten ‘Lokalheiligen’ mit nachgewiesenem Kult; 3) ‘levende heiligen’, die mystisch Begnadeten des 13. Jahrhunderts (etwa die mulieres sanctae); 4) ‘heiligen zonder historie..., de gefingeerde heiligen, zij die hun betekenis ontleenden aan een graf (heuvel) of sarcophaag’, d.h. Heilige, für die Legenden schlichtweg erfunden werden. Es fragt sich jedoch, inwieweit eine derartige Gliederung über das von Mulder-Bakker untersuchte Material hinaus sinnvoll ist. Zum einen entspricht sie nicht der mittelalterlichen Sicht, für die der Grad der Fiktionalität einer Legende seit jeher kaum von entscheidender Bedeutung war. Ich erinnere etwa an die spätantike Praxis, Kulte und Legenden für ‘Heilige’ zu schaffen, deren Namen man in den Katakomben Roms vorfand. Diese heiligen zonder historie gehörten bald zu den wichtigen heiligen van de kalender. Zum anderen ist auf die Frage nach der Perzeption von Heiligkeit bei Mystiker(innen) eine weitaus differenziertere Antwort vonnöten, als sie Mulder-Bakker anhand zweier Beispiele zu geben vermag. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche sog. ‘Gnadenviten’, die von besonderer göttlicher Begnadung - zumeist bei Frauen - berichten, in denen aber nur selten explizit ein Anspruch auf Kanonisationswürde erhoben wird. Hier müßte die Überlieferung genauer befragt werden. In der deutschen Überlieferung finden sich zum Beispiel Mystiker(innen)biographien nur sehr selten in Legendarhandschriften, sondern in der Regel in Sammelhandschriften mit anderen mystischen und mystagogischen Schriften zusammengestellt. Die mittelalterlichen Rezipienten trennten offenbar zwischen ‘heilige’ und ‘heiligmäßige’ Gestalten. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß manche Mystiker(innen)-Vita ursprünglich für einen - in der Regel erfolglosen - Kanonisationsprozeß vorgesehen war (etwa Margareta von Ungarn, Agnes Blannbekin, Dorothea von Montau). Soweit ich sehe, dürfte dieser Überlieferungsbefund auch auf die Mehrzahl der von Mulder-Bakker auf S. 14, Anm. 36, genannten Gestalten zutreffen. Mulder-Bakker führt in ihrem gründlich recherchierten Beitrag deutlich vor Augen, wie bedeutend die Verehrung von Lokalheiligen für das religiöse Leben im niederländischen Raum gewesen sein muß. Zwanzig ‘Heilige’ ohne jede historische Bezeugung werden vor dem 13. Jahrhundert geschaffen, etwa um als Stadtpatrone zu dienen, denen bei der urbanen Identitätsstiftung eine nicht zu unterschätzende Rolle zukam. Mulder-Bakker führt die Schaffung von Heiligen ‘zonder historie’ vor allem auf eine Strategie der Kirche zurück, für heilige Orte, ‘waar het kerkvolk heil zocht voor mens en dier, vruchtbaarheid voor akker en oogst,’ Gestalten und Legenden zu erfinden, um ‘die plaatsen in christelijke zin’ zu sanktionieren (S. 20). Mulder-Bakkers Beitrag sollte dazu anregen, mit erweitertem Blickfeld nach den Ursachen für das überaus große Bedürfnis nach Lokalheiligen in den Niederlanden zu fragen, und zwar auch im Vergleich zum deutschsprachigen Raum, wo dieses Bedürfnis - legt man die literarische Überlieferung zugrunde - nicht so stark ausgeprägt war wie dort. Selbstverständlich müßte hierbei die Patrozinienforschung mit einbezogen werden. Marijke Carasso-Kok stellt in ihrem Beitrag Een goed geordend verhaal. Jacobus de Voragine en de Legenda aurea die bedeutendste lateinische Legendensammlung des Mittelalters vor. Dank der verdienstvollen, wenn auch nicht unproblematischen Arbeit von Barbara FleithGa naar voetnoot1 läßt sich die für ein Legendar beispiellose Überlieferung nun endlich überblicken. Allerdings sind Fleiths Thesen zur Entstehungszeit und dem Urcorpus der Legenda aurea, die Carasso-Kok unkritisch übernimmt, mit großer Vorsicht zu genießen.Ga naar voetnoot2 Zu den wichtigsten Ergebnissen von Fleith gehört der Befund, daß die Legenda aurea | |
[pagina 199]
| |
keineswegs - wie bis heute immer wieder behauptet wird - vom gelehrten Klerus als unseriöses Werk gewertet, sondern sogar vom Predigerorden für den Unterricht vorgeschrieben wurde und im universitären Unterricht zu den Standardwerken gehörte, wie etwa pecia-Exemphre aus der Sorbonne belegen (worauf Carasso-Kok hinweist). Verdienstvoll ist Carasso-Koks Vorstellung der fünf erhalten gebliebenen Legenda aurea-Handschriften aus dem niederländischen Teil des Utrechter Bistums. Zweifellos ist ihr beizupflichten, daß dieses Überlieferungsbild nicht für die tatsächliche Verbreitung des Werks repräsentativ sein kann, sondern ist - wie bei der Überlieferung vieler geistlicher Werke im Utrechter Bistum - auf die großen Handschriftenverluste in der nachmittelalterlichen Zeit zurückzufuhren. Im Beitrag von Bernhard F. Scholz, De structuur van een legende. De Heilige Elisabeth als een voorbeeldige middelares wird die in Graesses Legenda aurea-Edition edierte Elisabeth- Legende genauer analysiert, die zwar höchstwahrscheinlich nicht zum Urcorpus der Legenda aurea gehörte, aber nach dem Vorbild der Legenden in diesem Legendar gestaltet ist (mit Namensetymologie usw). Scholz kommt zu dem Ergebnis: ‘Als gevolg van de gekozen verhaal- en vertelstrategieën krijgt het aardse leven van deze Elisabeth het karakter van een imitabile en verwerft de persoon van Elisabeth de status van intercessor’ (S. 59). Hans van Dijk befaßt sich mit der Karls-Legende, die ab 1480 allen niederländischen Druckauflagen der Zuidnederlandse Legenda aurea beigefügt wurde (Karel de Grote in het Passionael). In diesem Zusammenhang stellt er beide niederländischen Übersetzungen der Legenda aurea vor und vermutet die Karls-Legende im Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais als Vorlage für die niederländische Version. Vinzenz' Text lag übrigens auch der Karls-Legende im bedeutendsten deutschen Legendar, ‘Der Heiligen Leben’ zugrunde.Ga naar voetnoot3 Die eher schmale Verbreitung der Karls-Vita, vor allem in volkssprachlichen Legendaren des deutschen und niederländischen Raums, deutet eher darauf hin, daß er dort nicht als ‘een echte volksheilige’ (S. 69) verehrt wurde. Koen Goudriaans Beitrag, Het Passionael op de drukpers, greift ein Thema auf, das in meiner Untersuchung (Anm. 3, S. 185-187) eindeutig zu kurz gekommen war. Hier wird vor allem der Frage nachgegangen, wer denn als Publikum für die zwölf niederländischen Druckauflagen der Zuidnederlandse Legenda aurea in Frage kommt. Während in der handschriftlichen Überlieferung nur sehr wenige Laien als Besitzer nachzuweisen sind, vermag Goudriaan zahlreiche laikale Besitzer von Drucken zu identifizieren. Dieser Nachweis wird aber nicht zum Selbstzweck unternommen, sondern ist Teil einer Auseinandersetzung mit Pleijs Versuch, die besondere Bedeutung von Holland für den frühen Buchdruck an einer postulierten Rückständigkeit dieses Gebiets im Verhältnis zum Süden - ‘zowel op cultureel als op economisch gebied’ (S. 76) - festzumachen. Sowohl im Blick auf die Verbreitung und Besitzer der Drucke kann Goudriaan diese Hypothese weitgehend entkräften. Irritierend ist allerdings - und zwar nicht nur in diesem Beitrag - der durchgehende Gebrauch des Titels Passionael für die Südmittelniederlandische Legenda aurea, obwohl sich in der Niederlandistik schon längst der Titel Zuidnederlandse Legenda aurea eingebürgert hat. Bei Nichteingeweihten stiftet dies nur unnötige Verwirrung. Der Beitrag Peter van Daels, De Legenda aurea in de beeldende kunst, faßt im wesentlichen Bekanntes zusammen, ist aber wohl als eine allgemeine Einführung für Laien gedacht. Zwar werden solch bedeutende Rezeptionszeugnisse wie Les Belles Heures de Jean de Berry aufgeführt, aber die Vorstellung der illustrierten Legenda aurea-Handschriften, die sicher für die Heiligenikonographie von besonderer Bedeutung sind, werden nur kurz in Betracht gezogen. Übrigens ist Der Heiligen Leben keine Übersetzung der Legenda aurea (S. 105); die jüngste van Dael bekannte Arbeit zu diesem Werk ist die popularisierende Ausgabe von Severin Ruettgers aus dem Jahre 1922, die zudem Holzschnitte aus verschiedenen Ausgaben von Der Heiligen Leben abdruckt. Fons van Buuren widmet sich der Legende und dem Kult der in den Niederlanden besonders verehrten heiligen Kunera (Sint Cunera van Rhenen, een legende). Es handelt sich um die außer- | |
[pagina 200]
| |
gewöhnliche Legende von der Königstochter und Begleiterin der heiligen Ursula, die den Märtyrertod wegen der Eifersucht der Königin von Rhenen findet. Van Buuren verfolgt die Spuren ihrer kultischen Verehrung bis 1969, als Rom wissen ließ: ‘Cunera zou alleen nog maar regionale verering mogen genieten’ (S. 124), das heißt, sie gehörte zu jenen Heiligen, deren Kult die Kirche fortan nicht zu unterstützen gedachte. Der Beitrag von Ludo Jongen, Uit het oog, uit het hart? Over twee heilige maagden: Lutgard en Liedewij, befaßt sich mit zwei Mystikerinnen im Rufe der Heiligkeit. Lutgart, deren Leben uns nur aus den Berichten des Thomas von Cantimpré bekannt ist, erreicht keine nennenswerte kultische Verehrung, ihr Vita erscheint auch nie im Zusammenhang von lateinischen oder deutschen Legendarhandschriften. Etwas anders verhält es sich mit Lidwina von Schiedam, deren Kult noch 1890 von Rom bestätigt wird. Übrigens gehört ihre Vita zu den wenigen Leben niederländischer Mystikerinnen, die auch ins Deutsche übersetzt wurden.Ga naar voetnoot4 Jongen weist auf die Förderung der Kulte durch die Jesuiten hin (Heribert Rosweyde, Ludovicus Jacobi), ohne deren Unterstützung eine durch die Kirche sanktionierte Verehrung sich nur schwer hätte halten können. Ria van Loenen stellt in ihrem Beitrag Johannes Gielemans (1427-1487) en de heiligen van de Brabanders einen hochinteressanten Fall von hagiographischer Sammelleidenschaft vor. Gielemans war Augustinerchorherr im berühmten Rooklooster, der zwischen 1476-1487 eine beachtliche Legendensammlung zusammentrug, die vor allem wegen ihrer Zusammenstellung von sämtlichen Heiligen und heiligmäßigen Figuren, die er in irgendeiner Weise mit Brabant in Verbindung zu bringen vermochte, in der Geschichte der Gattung Legendar Seltenheitswert besitzt: ‘In zijn totaliteit bevorderde het Hagiologium Brabantinorum het lokale en “nationale” besef van het hertogdom Brabant’ (S. 148). Vom Verfahren und vom Umfang her wäre das Hagiologium etwa mit Jacob Mennels Heiligenbuch zu vergleichen, in dem alle Heiligengestalten, die mit den Habsburgern verwandt gewesen sein sollen, für Maximilian I. zusammengetragen wurden.Ga naar voetnoot5 Johan Oosterman betritt mit seinem Beitrag Heiligen, gebeden en heiligengebeden eine terra incognita der Spätmittelalterforschung. Gebet- und Stundenbücher sind für die Erforschung der Frömmigkeit von eminenter Bedeutung, sind aber bislang von allen Disziplinen - abgesehen von der Kunstgeschichte - weitgehend ignoriert worden. Oosterman fragt nach der Art des Gebets an Heilige, nach den Quellen der kurzen biographischen Skizzen in den Gebeten und nach den Gründen für das weitgehende Ignorieren von lokalen Heiligen in den Gebet- und Stundenbüchern. Letzteres überrascht dann doch sehr, zumal - wie gesagt - den Lokalheiligen in den Niederlanden eine so herausragende Rolle im Frömmigkeitsleben zukam.Ga naar voetnoot6 Schließlich skizziert Charles M.A. Caspers (‘Een stroom van getuigen’. Heiligenlevens en heiligenverering in katholiek Nederland circa 1500-circa 2000) eine Geschichte der Heiligenverehrung in nachmittelalterlicher Zeit. Aus Platzgründen muß er die komplexe Entwicklung in sehr allgemeiner Form darbieten, was dazu führt, daß die Analyse des Phänomens doch zu kurz kommt. Insgesamt bietet der auch mit vielen beeindruckenden Bildern ausgestattete Band einen guten Überblick über die jetzige Hagiographieforschung in den Niederlanden und Belgien und die dort verwendeten Forschungsänsatze. Zumal auch die relevante Literatur hier verzeichnet ist, vermag der Band auch als guter Einstieg in dieses Gebiet dienen. Den beiden Herausgeberinnen und den Beiträger(inne)n ist für dieses stattliche Buch zu danken.
Adres van de auteur: Phil. Fak. II, Universität Augsburg, Universitätsstrasse 10, d-86159 Augsburg |
|