Queeste. Tijdschrift over middeleeuwse letterkunde in de Nederlanden. Jaargang 1999
(1999)– [tijdschrift] Queeste– Auteursrechtelijk beschermdMittelalterliche Verständigungslandschaften
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derländischer und deutscher Mundarten mit dietsch oder duutsch - als Abgrenzung etwa vom welsch der Romania. Im späteren Mittelalter beginnt sich eine Differenzierung zwischen nederduitsch, niderlendisch oder flemsch gegenüber oberlendisch oder hochteutsch herauszubilden. Erst mit dem 15. Jh. entstehe ein ‘Bewußtsein für die Existenz grundsätzlich verschiedener Sprachsysteme’ (S. 2). Gleichwohl gibt es in den Beiträgen Hinweise auf das Weiterleben eines Bewußtseins, daß man in einem Haus einer verwandten - wenn auch binnengegliederten - Sprachgemeinschaft lebe: 1604 zeigt der Kölner Drucker Peter von Brachel auf dem Titelblatt an, daß die Prosahistorie vom heiligen Reinolt übersetzt sei auß dem Nider Teutschs in unser gemein Teutschs (S. 60). Im Zentrum der Tagungsdiskussion über Rezeptionsgenres, Bearbeitungsmethoden, über Wege und Zentren der Aufnahme stand daher die Vielfalt von Adaptionsstrategien, von sogenannten ‘Umschriften’ und ‘Umsetzungen’ - Begriffe, die das Eigentümliche niederländisch-deutscher Literaturrezeption befriedigender fassen sollen, als es der landläufige Terminus ‘Übersetzung’ hier leisten würde. Die Terminologie signalisiert zugleich eine Tendenz innerhalb der historischen Übersetzungswissenschaft, die ihr Interesse vom Übertragungsresultat auf den Prozeß und auf alle an ihm beteiligten Variablen verlagert. Da eben solche veränderlichen Größen den Gegenstand der einzelnen Vorträge bestimmten, bietet der Band eine entsprechend uneinheitliche Sammlung von Artikeln, deren gemeinsamer Schwerpunkt zuerst ein philologischer ist. Die in Rede stehenden Rezeptionsregionen erstrecken sich von den Dialektgebieten zwischen IJsel, Rhein, Maas und Mosel bis ins südliche Rheinfranken, von der Blankenheimer Bibliothek in der Eifel bis zum pfalzgräflichen Hof in Heidelberg. Rechts des Rheins reichen die Kontakte bis weit über die Grenzterritorien hinaus: in den Norden Niedersachsens, ins ostfälische Magdeburg und ins holsteinische Lübeck. Im Süden springen die Beziehungen bis nach Straßburg. Schließlich sucht ein Beitrag sogar ein großes Kreisdreieck zwischen Burgund, Österreich und den Niederlanden zu schlagen. Unter welchem Aspekt man die ausgewählten Rezeptionsbeispiele auch betrachtet, beinah allen eignet das Phänomen der Mischung von Ausgangs- und Zielsprache. Doch dies bietet die Überlieferung allenthalben dort, wo enge familiäre, politische, ideologische oder religiöse Beziehungen gepflegt wurden, wo es gemeinsame wirtschaftliche Interessen gab, wo Verständigung funktionieren sollte. Dieses gilt so gut für den normannisch-picardischen Raum oder das Elsaß, Burgund und Oberitalien wie für die niederländisch-deutschen Verständigungslandschaften. Das Ansehen der Herkunftssprache bestimme die Dosierung der Mischung, wurde von W.P. Gerritsen angenommen.Ga naar voetnoot4 Dieses Verhältnis erfährt durch die Forschungsbeiträge des Groninger Workshops aufschlußreiche Modifikationen. Thomas Klein (Die Rezeption mittelniederländischer Versdichtung im Rheinland und Augustijns ‘Herzog von Braunschweig’, S. 79-107) - der methodisch gewichtigste Beitrag des Bandes - weist mit einer vergleichenden Reimuntersuchung sehr genau nach, daß die zentrale rheinische Regio Ripuarien ‘in rezeptiver Hinsicht mit zum Lebensraum der mnl. Literatur gehörte’ (S. 95). Dasselbe gelte vice versa für mittelhochdeutsche Texte aus dem hochdeutschen Süden, die ihrerseits ‘ripuarisiert’ werden. Die mittelfränkischen Rheinlande bilden also ‘ein Gebiet, in dem sich die Geltungs- und Einflußsphären beider Literaturen überlappten’ (S. 95). Klein entwickelt ein reimstatistisches Instrumentarium, mit dem er die graduelle Nähe nicht-niederländischer Redaktionen zur niederländischen Dichtung erstaunlich exakt einschätzen kann. Entscheidendes Kriterium ist die jeweilige Häufigkeit sogenannter Reim-Niederlandismen (nicht ins Hd. umsetzbare mnl. Reime), die in Typ A gegen Null gehen (z.B. Johan ûz dem Vergiere), in Typ C extrem hoch sind (z.B. Buch Sidrach). Typ B sucht Reim-Niederlandismen zu reduzieren (z.B. Karlle inde Eligast). Typ A produziert fast ausschließlich Reim-Germanismen (nicht ins Mnl. umsetzbare hd. Reime). Die besondere sprachliche Nähe des Mittelfränkischen zum Mittelniederländischen determiniert entsprechend die Rezeption: So sind in dieser Region ausschließlich Aneignungen vom Typ C und B nachzuweisen. Die Klärung der Verfasseridentität des Herzog von Braunschweig - ein Text, der nur in einer in Trier geschriebenen Handschrift des 15. Jh. s überliefert ist - mit dem niederländischen Dichter Augustijnken van Dordt gewinnt mit dieser Methode | |
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erheblich an Plausibilität. Ob, wie und was die Redaktoren übertragen, legt der Zweck fest. Typen der Fast-Nicht-Bearbeitung hält Klein schlicht für ‘“kostengünstige” Verfahren der handschriftlichen Aneignung von Dichtungen’ (S. 90). Zum Rezeptionstyp B gehört auch die Trias der mittelniederländischen Karlsromane, Malagis, Ogier von Dänemark und Reinolt von Montelban, die alle am pfalzgräflichen Hof in Heidelberg entstanden. Wie wenig es sich dort um einen homogenen literarischen Musenhof handelte, sondern um ein glänzendes Beispiel heterogener spätmittelalterlicher Adelskultur, hat Martina Backes' Studie zur Gönnerforschung gründlich dargelegt.Ga naar voetnoot5 Die irritierende Tatsache, daß in diesem ‘hochfürstlichen Literatenkreis’, vermittelt durch die bedeutsamen Buch- und Bibliotheksliebhaber Wirich von Daun und Kuno von Manderscheid-Blankenheim, solch grobschlächtige Heldenepik von so kläglich verdeutschter Sprachgestalt kursieren konnte, hat die Erforschung dieser ‘Rezeptionsfälle’ lange verhindert. Um 1450/60 wurden sie in Heidelberg oder am Rottenburger Hof der Pfalzgräfin Mechthild ‘recht unbeholfen Wort für Wort ins Rheinfränkische umgeschrieben’ (H. Beckers). Hans van Dijk (Ogier van Denemarken, S. 39-48) und Bob Duijvestijn (‘Reinholt von Montelban’. Eine niederländische Dichtung in deutschen Landen, S. 49-64) richten ihre Forschungen seit längerem auf diese niederländische Textgruppe, isolieren sie jedoch weitgehend aus fürstlich-höfischen Interessenskontexten, da sich beide um die Rekonstruktion der größtenteils verlorenen mittelniederländischen Dichtungen aus dem französisch-nie-derländisch-deutschen Überlieferungsgeflecht heraus bemühen.Ga naar voetnoot6 Die Ergebnisse werden hier nicht im einzelnen referiert. Einer der wichtigen Befunde zur Frage der Sprachgrenzrelationen ist auch hier der wiederholte Nachweis, daß die einzelnen Redaktionen nicht wild und desorientiert agieren, sondern sehr bewußt Verständigungstechniken handhaben, deren mundartliches Abgrenzungsverständnis bis zur Nivellierung reicht. Der Heidelberger Ogiser-Bearbeiter unterdrückt beispielsweise die Zweiheit von niederländischer Vorlage und südwestdeutscher Ausführung völlig, wenn es wiederholt heißt, die Geschichten des Helden Ogier seien uss dem welsch in tútscher zal wiedergegeben (S. 47). Duijvestijn zeichnet eine Chronologie der östlichen Ausbreitung des chanson de geste-Stoffes von der älteren Versdichtung bis zum jüngeren Prosaroman. Da der Heidelberger Reinolt seiner niederländischen Vorlage auf dem Fuß folgt, besetzt er die Stelle des ‘Kronzeugen der gesamten mittelniederländischen Renouttradition’ (S. 52). Und da er außerdem ausgezeichnete Niederländischkenntnisse besaß, aber glücklicherweise nicht besonders viel Fingerspitzengefühl für eine individuelle Reimversgestaltung entwickelte, hält er Gestalt und Sprache des niederländischen ‘Originals’ durchwegs präsent. Dies mache ihn ‘für die Niederlandistik ungemein interessant’ (S. 53). Mindestens so spannend für Niederlandistik, Germanistik und Mediengeschichte zusammen ist die holländisch-rheinische Druckgeschichte vom ritterlichen Leben des rebellischen Vasallen Reinold und der vita des Heiligen, der in Köln beim Kirchenbau den Märtyrertod starb und auf Bitten der Dortmunder nach Westfalen überführt wurde. Nur drei Jahre nach dem ersten Druck des Prosaromans 1490 in Gouda (Historie van den vier Heemskinderen) erscheint eine deutsche Ausgabe des Kölner Verlegers Johann Koelhoff, der übrigens auch als Händier für den niederländischen Buchexport in engerer Verbindung zu Gouda stand, wie Paul Wackers bezüglich der Ausfuhr von Reynke de vos-Ausgaben nach Lübeck erwähnt (Reynke de vos: lekenethiek tussen verhaal en intellectuele reflectie, S. 197-211). Eine Kölner Papierhandschrift der Historie van sent Reinolt um 1500, die älteste deutsche Prosafassung, greift im zweiten Teil, der vita, auf lateinische Legenden zurück. Die Legenda de Sancto Reynoldi wiederum erscheint in Kölner Drucken der Legenda Aurea - so auch 1490 bei Johann Koelhoff. Den | |
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Schlußstein der deutschen Reinoft-Tradition bildet die Übertragung des Deventer Paul van der Aelst, gedruckt in Köln 1604. Bis ins 19. Jh. wird diese Redaktion, die einen ‘frischen, moderneren Ton’ atme (S. 60), mehrfach wiederaufgelegt. Offenbar sorgt erst die Dynamik der Gegenreformation für eine Breitenwirkung ‘in deutschen Landen’ (S. 62). Doch das ist eine eigene Geschichte, der noch nachzugehen ist. Der Kölner Heilige wurde sehr früh Patron von Dortmunder Kaufmannsgilden, sein Kult gelangte mit Handelsreisenden bis nach Danzig, Thorn und Riga. Die Faszination am Heidelberger Hof für den Reinolt (wie für den Ogier) galt einer ritterlichen Leitfigur des christlichabendländischen Adels, während sich in den Prosaromanen die Neu-Aneignung einer alten europäischen Erzähltradition als Quelle für Stadt- und Regionalgeschichte und schließlich das Umschmieden der Historie zum ideologischen Propagandainstrument abbildet. Auch der höfische Roman Heinric ende Margriete van Limborch, bislang wie die niederländische Heldenepik nicht gerade eines der hofierten Objekte der Forschung, muß die adelige Gesellschaft in Heidelberg und Rottenburg neugierig gemacht haben. Rita Schlusemanns Untersuchungen konzentrieren sich seit einigen Jahren auf die Erforschung des Limborch-Stoffes. Ihr Tagungsbeitrag (Das ir begyr wolt halten reyn. Zur Rezeption des ‘Limborch’-Romans bei Johann van Soest, S. 175-196) sucht die Limborch-Rezeption funktionsgeschichtlich der Hofkultur der Heidelberger Pfalzgrafen einzuschreiben. Der syngermeister Johann von Soest, über dessen wechselnde Lebensstationen von Westfalen, den Niederlanden und Hessen bis an den Mittelrhein wir recht gut informiert sind, schuf in den 1470er Jahren eine neue Fassung des Limborch-Komans für Kurfürst Philipp den Aufrichtigen und seine Gattin Margarethe. Die erweiternden wie kürzenden Eingriffe sind erheblich. Das 12. Buch des Limborch-Romans, der grausame Krieg zwischen Christen und Sarazenen, fällt ganz weg - für Schlusemann ein Beleg der pazifizierenden Tendenz der didaktischen Erzählabsicht des Bearbeiters. Johann betreibe eine konsequente Entschärfung seiner Vorlage, was an der veränderten Wiedergabe des dilemmatischen ‘Königsspiels’ exemplarisch dargelegt wird. Der Deutsche bilde daraus eine Adhortatio für den Fürsten, in der die Liebe - positives Deutungsmuster höfischer Kultur - negativ konnotiert sei. Daß sich zwischen Moralität und höfischer Idealität ‘das Literaturprogramm des Heidelberger Hofes’ und die Interessen des Auftraggebers entfalten, ist mit Bonath und Brunner anzunehmen.Ga naar voetnoot7 Schlusemanns These ist nun, daß Gönnerauftrag und Autorintention nicht identisch seien (S. 186). Auf der einen Seite stehe die ‘eigenmächtige’ Bearbeitung des streitbaren Johann von Soest und sein gespanntes Verhältnis zu Philipp. Auf der anderen Seite der turnier- und jagdliebende Fürst, dessen Interesse an einer Übersetzung durch das reiche höfisch-repräsentative Potential des Limborch-Romans selbst geweckt wurden. Da Philipp nur Übersetzungsaufträge vergeben habe, sei eine Adaption nach Art der Kinder von Limburg die Ausnahme. Unklar bleibt die Verbindung des eigentlichen Schicksals des Heidelberger ‘Limborch moralisé’ und der Unvereinbarkeit von Auftrag (transferyren) und Ausführung. Weder die Spannung zwischen Fürst und Sänger noch die Textfunktion als Teil von Herrschafts- und Bildungsentwürfen haben strikt genommen etwas mit dem Tagungsthema zu tun. Welche Erkenntnis über die Faszination des mittelniederländischen Minne- und Aventiureromans in fürstlichen Literaturzirkeln ist mit diesem Fokus gewonnen? Gerade auf dem Gebiet europäischer Herrschaftskultur und spätmittelalterlicher Wissensforschung droht der Gegenstand ‘spätmittelalterliche Rezeption’ unter der heterogenen Materialfülle zu verschwimmen. Daher einige Bemerkungen zum Beitrag von Catrien Santing (‘I Never Promised You A Rosegarden’. De hofcultuur van Maximiliaan I en de Bougondische Nederlanden, S. 143-174), die ihr Augenmerk auf ‘de specifieke incorporatie van literaire motieven uit de Nederlandse cultuurkring’ (S. 145) in das deutschsprachige Gedechtnus-Projekt Kaiser Maximilians I. richtet. Dieses Thema ist in mehrfachem Sinn grenzübergreifende Kulturrezeption, da die Übergangsfigur Maximilian mehrsprachig imprägnierte Modelle und Gattungsschichtungen der Elitenbildung, politischer Propaganda und Mythenbildung selbst verkörpert. Der sehr informationsdichte Vortrag baut in drei großen Schritten Voraussetzungen, Projektierung und die dreifache Ausführungen der autobiographisch geprägten Herrscher- | |
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imago im Freydal, Teuerdank und Weisskunig auf.Ga naar voetnoot8 Doch was bleibt? In ihren Schlußfolgerungen kann Santing nur die Autorität burgundischen Gedankenguts (S. 168) gekend machen. Burgund gleich ‘Nederlandse cultuurkring’? Santing akzentuiert mit Recht den Rang des modernen wie traditionsverbundenen Fürstenstaats, den die französische Hofkultur der Valois repräsentierte. Der Burgunderhof prägte den jungen Maximilian in einer Zeit, als er die Erblande seiner Gattin Maria gegen den territorialen Partikularismus in den Niederlanden schützen mußte. Die Einflußnahme der Niederlande war kein ‘literarischer’, sondern ein Trauma, das die literarischen Fiktionen mit Feindbildern versorgte. Die prächtigen Abbildungen berühmter Illustrationen aus dem Teuerdank von Künstlern wie Hans Burgkmair oder Dürers Maximilian-Apotheose aus der Ehrenpforte müßten dafür systematischer zum Textprogramm des Gedechtnus-Projekts befragt werden. So erführe das tatsächlich französisch-niederländische Phänomen des heraut, das im Teuerdank-Text wie auch auf den Illustrationen auffällig plaziert erscheint, eine aufschließendere Diskussion. Wenden wir uns der - dagegen geradezu prosaischen - Rezeption geistlicher Literatur zu. Jan Goossens Skizze (Die Reime in den mittelniederdeutschen Übertragungen der mittelniederländischen versifizierten Kreuzholzlegende, S. 65-78) führt in den Nordosten. Goossens stellt drei voneinander unabhängige, eine ostfälische und zwei nordniedersächsische Versionen der Kreuzholzlegende vor. Die quantitative Reimanalyse erweist, daß niederdeutsche Übersetzer im allgemeinen etwa ein Drittel der Reimpaare von ihrer niederländischen Vorlage übernehmen konnten. Wie in den mittelfränkischen Rheinlanden ist offenbar die Akzeptanz des mittelniederländischen Originals auch im niederdeutschen Sprachraum bemerkenswert hoch. Hier wie dort lassen sich erhebliche Abstufungen der Übertragungsqualität aufzeigen. Ausschlaggebendes Indiz ist auch bei Goossens der Reinheitsgrad der Reime, der die Bearbeiter sehr oder z.T. überhaupt nicht interessiert hat. Auch hier strebten ‘Übersetzer mit dichterischen Qualitäten’ (S. 77) nach ästhetisch anspruchsvolleren reinen Reimen und selbständiger Umgestaltung. Doch ist noch nicht ausgemacht - die Frage gilt auch dem Reynke de vos-Bearbeiter -, ob dieses Verhalten freiwillig oder ein Effekt des Reimzwangs war. Ganz anders der Frageansatz Armand Berteloots (Die Legenda Aurea an Rhein, Maas und IJssel, S. 9-38). An 14 Handschriften östlicher Rezeptionsräume hat er Textwanderungen der südniederländischen Prosaübersetzung der Legenda aurea des Jacobus de Voragine beobachtet, die sich im gesamten deutschniederländischen Grenzgebiet verbreitete. Anders als Werner Williams-Krapp, der die Provenienz deutscher und niederländischer Legendare über ihre historische Bibliotheksheimat kartographierte,Ga naar voetnoot9 beschreitet Berteloot den Weg der Sprachmerkmalsanalyse, um den Herstellungsort der Abschriften und Bearbeitungen zu ermitteln und so zu einer aussagekräftigen Rezeptionsgeographie zu gelangen. Auf einem zunächst fast unüberschaubaren Tableau zeichnen sich drei Knotenpunkte (Südniederlande, Utrecht, IJsselregion) ab und ein Wanderungsnetz - so zum Beispiel von Brabant aus in den Nordosten, in die Schreibstuben der Devotio Moderna, die ihre Redaktionsexemplare wiederum in großer Dichte in den niederdeutschen, westfähschen wie den rheinischen Raum exportierte. Berteloot belegt die enorme Wirkung einer ökonomisierten Buchproduktion, die von den ‘broeders van de penne’ ausgegangen sein muß. Sie hielten sich an gemeinsame Regeln der Quellenkritik, verglichen methodisch ihre südniederländische Vorlage mit einer lateinischen Fassung, korrigierten entsprechend, griffen aber systematisch in den volkssprachlichen Wortgebrauch ein. Fremdwörter wurden konsequent durch ‘einheimisches Wortgut’ (S. 35) ersetzt, so daß diese Art der Literatur sich einem breiten, nichtgelehrten Laienpublikum erschließen konnte. Darin spiegelt sich recht anschaulich der Bildungsanspruch wider, der zum Grundkonzept dieser neuen Frömmigkeitsbewegung gehörte. Eine Verknüpfung derartiger rezeptionsgeschichtlicher Ergebnisse mit jüngsten Quellenforschungen und Untersuchungen zur Gründungs- und Filiationsgeschichte der Devotio Moderna-Gemeinschaften gehört zweifellos zu den Desiderata deutsch-niederländischer Kulturraumforschung. Anneke B. Mulder-Bakkers | |
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jüngste Untersuchungen zur bisher kaum erforschten Wirkungsgeschichte der vita der ‘Kreupele Margriet’ (De stichtige punten van Kreupele Margriet, S. 131-142) erweitern noch einmal den Radius dieses Forschungsfeldes, das auf das Verhältnis von Literatur und Frömmigkeitsbewegung trifft. Die lateinische Vita der Margareta contracta, einer um 1200 in Magdeburg geborenen Rekluse (Zeitgenossin Mechthilds), wurde vielleicht noch zu Lebzeiten Margaretas um 1270 von Zisterzienserinnen im brabantischen Villers abgeschrieben. Lateinische und mittelniederländische Versionen der vita, die vermutlich längst noch nicht alle bekannt sind, verbreiteten sich sehr schnell. Mulder-Bakker skizziert einen Rezeptionsverlauf, der von erheblichen Eingriffen in die Lehren und Autorität einer charismatischen Frau zeugt. Er dokumentiert, wie heftig die Spannungen zwischen charismatischer Frömmigkeit und Theologie anwuchsen und im 15. Jh. zur verschärften doktrinären Mißbilligung einer Visionärin als Lebensvorbild führten. Die von Mulder-Bakker angeschnittenen Handschriften- und Überlieferungskontexte sind wie Seismographen weitlaufiger Kommunikationsbewegungen und Veränderungen überregionaler Verständnissicherung, die räumlich und ideologisch wiederum eng verzahnt sind mit Reformbewegungen der Windesheimer Kongregationen, mit der Devotio Moderna. Eine kleine, aber aufschlußreiche Facette der ersten Rezeption niederländischer Spiritualität präsentiert Thom Mertens (Ruusbroec onder de godsvrienden, S. 109-130). Er mustert noch einmal die (vergleichsweise gut erforschten) hochdeutschen Redaktionen des Ruusbroecschen oeuvres, die in den Kreisen der Straßburger Gottesfreunde entstanden: Die geestelike brulocht, Vanden vier becoringhen, Vanden blinkenden steen und das Boecsken der verclaringhe. Auch hier im oberlendischen zeigt der sprachliche Befund, daß das niderlendische des Brabanters zum Teil so umgesetzt wurde, daß man allenfalls von einem hochdeutschen Firnis sprechen kann. Dem profanen Verfahren der Kostengünstigkeit entspricht hier vielleicht der Respekt vor dem verehrten Original. Was war der Anlaß, der Ruusbroec 1350 zur Übersendung seiner Schriften anregte? Die vier Texte Ruusbroecs wurden immer wieder unter dem Namen Taulers verbreitet. Die Diskussionen entzündeten sich meistens an einem Passus am Ende der Vier becoringhen, der die Lebenswende thematisiert. Da dieses Motiv jedoch so eng mit Tauler - dem ‘Prediger der Lebenswende’ - verbunden war, prüft Mertens den Sachverhalt aufs Neue. Umsichtig legt er dar, daß Ruusbroec selbst als eine Art Reverenz vor Tauler dieses Motiv seinem Text einpaßte, sei es, weil Tauler im Jubeljahr 1350 fünfzig Jahre alt wurde, sei es, daß Ruusbroec auf einen bestimmten Einschnitt in Taulers Leben anspielt. Mertens bekräftigt seine Annahme mit der pragmatischen Anlage der Becoringhen. Das Werk sei als Anleitung für eine junge spirituelle Gemeinschaft strukturiert. Zusammen betrachtet wäre die Sendung aus Groenendaal als wohldurchdachte Sympathiebezeugung für die ihm geistesverwandten Gottesfreunde zu deuten - womit auch die Frage nach dem Anlaß für das ‘Literaturpaket’ beantwortet wäre. Mertens Revision führt uns nichts anderes vor als das seltene Zeugnis eines Dialogs unter Freunden im Geiste, ein Stück Primärrezeption weitab von jeder Regionalitätsdebatte. Diesem überregionalen Aspekt gelten die abschließenden Anmerkungen zum Groninger Workshop. Frank Willaert (Geben und Nehmen. Das höfische Lied in den Niederlanden und der deutsche Minnesang, S. 213-227) handelt über längerfristige Einflußbeziehungen deutscher und niederländischer Minnelieder - ein Traditionsthema fast der Medioniederlandistik und der Altgermanistik. Natürlich beginnt er mit Heinrich von Veldeke, dessen Lyrik weder regional isolierbar sei, noch als ‘Einleitung in die neue Gattung der höfischen Minnelyrik’ mißverstanden werden dürfte.Ga naar voetnoot10 Willaert vertritt schon länger und mit Nachdruck die Auffassung, Veldeke gehöre in den Kreis der Dichter um Kaiser Friedrich I. und der intellektuellen Propagandisten eines neuen curialen Herrscherethos. Veldekes Liedkunst sei keine ‘maasländische Angelegenheit’ (S. 217), sondern unverwechselbarer Teil staufischer Minnesang-Kultur.Ga naar voetnoot11 Dagegen setzte kürzlich Helmut Tervooren die Nähe des Maas- und Rheinlands zu Nordfrankreich, zu Brabant, Flandern, dem Artois, der Picardie und Champagne.Ga naar voetnoot12 Mit Blick auf Veldekes Rezeption der originar französischen ‘Unsinnspoesie’ erinnert er an ‘die konsolidierten französischen Literaturzentren’ um 1200 in eben diesen Gebieten, die dem Adel aus dem Klevischen, Geldrischen oder Limburgischen näher lagen als das staufische Schwaben oder der Thüringer Hof. Dort trafen die Sänger auf ‘etablierte Hofkulturen’ mit sozialen Strukturen, die ‘für Rezipient und Produzent günstiger’ als die des reisenden Hofs gewesen seien. | |
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Willaerts Erörterung der Lieder Hadewijchs bestärkt diese Gewichtung der nordwestlichen Kulturlandschaft. Für das 2. Drittel des 13. Jh. s registriert er eine Rezeptionsbewegung von Ost nach Nord-West, bei der sich die einseitig west-östliche Brückenfunktion der Rhein-Maaslande langsam auflöst. Der Einfluß der Romania auf die Dichtung der brabantischen Mystikerin Hadewijch gelte der Forschung als selbstverständliches Faktum und werde daher traditionell eher zu hoch, Veldekes Wirkung hingegen viel zu gering veranschlagt. Auffällig sei Hadewijchs Verwendung von Formeln des Natureingangs, die in der mittelniederländischen Literatur selten oder gar nicht vorkämen, aber zum typischen Lexikon des deutschen Minnesangs gehörten. Andererseits spreche Hadewijchs Nutzung aller literarischen Genres in und außerhalb der höfischen Gattungen für eine vergleichbar raffinierte ‘Zitiertechnik’, wie sie Veldeke ausbildete.Ga naar voetnoot13 Vom wiederholt postulierten ‘heimischen Lied’ in Brabant ist bei Willaert keine Rede mehr, sondern von der Ausbildung eines eigenständigen Produktionsraums zwischen Schelde, Maas und Rhein, der seinerseits innovativ auf hochmittelalterliche Traditionsformen einwirkt. Willaerts Gewährsmann ist der fürstliche Sänger Herzog Johann I. von Brabant, dem er eine Qualität zumißt, die mit der alten Epigonenbrille nicht zu entdecken war.Ga naar voetnoot14 Johann wandelte französische formes fixes - Ballade, Virelai, Rondeau - zu einem neuen hybriden Formtyp ab, zur ‘Virelai-Ballade’, wie Willaert ihn nennt (S. 220). Das romanische Vorbild setzte er nicht ins Brabantische um, sondern in ein künstliches Gemisch aus östlich gefärbtem Mittelniederländisch und dem Hochdeutsch der Minnesänger, das bereits so klischeehaft geworden war, ‘daß man in diesem Stil dichten konnte, auch wenn dies nicht in der Muttersprache geschah’ (S. 222). Doch wer dichtete im Rheinland schon in der Muttersprache? Die Kunstsprachen der Dichter bezeugen ein Bewußtsein von der höchst variablen Funktionalität der Sprache, nicht von Heimatidentitäten. Die Virelai-Ballade Johanns funktionierte rasch als überregionales höfisches Klischee, wanderte ihrerseits bis in den österreichischen Süden, spielte aber ebenso eine prominente Rolle in niederländischen Liederhandschriften des 14. Jh. s. Also auch im Westen, in Westflandern, wie die vieldiskutierten Sprachmischungen oder ‘rheinischen Tönungen’ der Brügger Gruuthuse- oder der Haager Liederhandschrift vermuten lassen. Insgesamt drängt die Forschungsdiskussion auf einen literaturgeographischen Perspektivenwechsel, denn der rheinisch-maasländische Kulturraum ist kaum noch als deutsche, französische oder brabantisch-flämische Randlandschaft zu betrachten, sondern als produktive Drehscheibe spätmittelalterlicher höfischer Kunstdiskurse. Ergänzend zu Willaerts Artikel sei ein nach dem Tagungsband erschienener Aufsatz von Corrie de Haan erwähnt, der der ‘deutschen Färbung’ in der Gruuthuse-Handschrift auf den Grund zu gehen sucht.Ga naar voetnoot15 De Haan kommt zu einem Ergebnis, das sich direkt an Willaerts Position anschließt: Das Klischee des Minnesangs, der deutsche Ton - von Johann von Brabant ja relativ harmonisch integriert in eine regional lokalisierbare Kunstsprache - ist im 15. Jh. zu einem eigenständigen Stilmittel avanciert, mit dem nicht nur das Brügger Liederbuch spielt. Wir hätten es also - dies ist kein neuer Gedanke - mit dem umgekehrten Fall des mittelhochdeutschen Flämelns zu tun. Wenn Verse zur höfischen Liebe geschmiedet wurden, wurde oberdeutsch getönt. Das Zitat ist kein sprachlicher Vermittler mehr, sondern eine poetische Haltung, ein neues Versatzstück innerhalb einer veränderten Literarästhetik, die einen hohen Grad an Offenheit gewinnt. ‘Festigkeit’ ist kein Krite- | |
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rium. Zur Lösung des Problems besonders wildwüchsiger Sprachmischungen in der Haager Liederhandschrift schlug Gerritsen 1975 die mittelalterliche Stilfigur der Barbarolexis vor.Ga naar voetnoot16 Das Problem der Tonmischungen schneidet auch Tervooren in seinen jüngsten Ausführungen zur Haager Liederhandschrift an.Ga naar voetnoot17 Die völlig gewandelte, internationalsprachliche ‘Zitiertechnik’ führt offenbar nicht nur zu Verschiebungen, sondern bringt die Kompetenz eines Redaktors ins Spiel, der die Texte aus ihrem Traditionskontext herauslöst, zurichtet und umformt oder die ‘Tonorganisation’ derart stört, daß die ursprüngliche Autor-Werk-Einheit gelöscht wird und Namen und Töne zu ‘vagabundierenden Versatzstücken’ der Tradition werden. Der Frage, ob die Liederbuchautoren mit der Figur der Barbarolexis die ‘Atmosphäre des bewunderten hochdeutschen Minnesangs’ (Gerritsen) evozieren wolken, d.h. Traditionsbindung herstellten (Tervooren), stellt sich nun die Frage entgegen, ob überhaupt ein Bewußtsein für ein hochdeutsches Idiom amWerke war, ob die Töne nicht vielmehr den modischen Tönen der maasländisch-rheinischen Liebeslyrik huldigten, wie Willaert und De Haan erwägen. Man fragt sich, ob man angesichts solcher Ergebnisse im Zusammenspiel niederländisch- und deutschsprachiger Regionen wirklich über zwei Literaturen handeln kann, oder ob man - mit Willaert - eher von dynamischen Komplexen vieler, mal aneinandergeschmiedeter, mal weit auseinander liegender ‘Teilsysteme’ ausgehen sollte,Ga naar voetnoot18 von sich abstoßenden oder angleichenden kulturellen Verwandtschaftssystemen. Die Füchse Renard, Reynaerd oder Reynke überschritten völlig mühelos europaische Literatur-, Epochen- und Gattungsgrenzen und paßten sich den Zwecken an. Paul Wackers Beitrag läßt eben ahnen, wie aufschlußreich und möglicherweise repräsentativ der Vergleich zwischen niederländischer Reynaert-Tradition und der niederdeutschen Reynke de vos-Rezeption für die Erforschung des Spätmittelalters ist, wenn er feststellt, daß der Unterschied zwischen Manuskript und Druck größeres Gewicht hatte als der Sprachunterschied. Alle Beiträge des Groninger Tagungsbandes zusammengenommen bieten vielfältigste Anschlußstellen zur Weiterführung eines ‘so oft vermißten Diskurses zwischen Niederlandistik und Germanistik über die Grenze der Nationalphilologie hinweg’, wie Tervooren an genanntem Ort anmahnt. Dieses könnte nicht nur die Haager Liederhandschrift initiieren, sondern viele andere Rezeptionsformen, die der Mediävistik zu bedenken geben, daß die Philologien aus der Herstellung geschlossener Verhältnisse aussteigen und sich den verschränkten, heterogenen Diskursen mittelalterlicher Textgenerierung stellen.
Adres van de auteur: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Lehrstuhl für Ältere Germanistik, Universitätsstr. 1, d-40225 Düsseldorf |
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