Queeste. Tijdschrift over middeleeuwse letterkunde in de Nederlanden. Jaargang 1997
(1997)– [tijdschrift] Queeste– Auteursrechtelijk beschermd[p. 27] | |
Die Heilige Familie in einigen Leben-Jesu-Dichtungen des 13. Jahrhunderts
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welchem Stand die Heilige Familie in den drei Dichtungen zugeordnet wird bzw. welche Normen und Werte in bezug auf die Heilige Familie vom Erzäler als positiv hervorgehoben werden. Wenn man von der Annahme ausgehen darf, daß die Autoren die Heilige Familie ihrem Publikum erkennbar und als Vorbild vorführen wollten, dann kann man aus der Darstellung der Heiligen Familie auf das intendierte Publikum schließen. Die Mitteilung des Evangelisten Lukas, daß Joseph und Maria aus dem Hause und dem Geschlechte Davids stammen (Lk. 2,4), hatte schon frühmittelalterliche Dichter wie Otfrid von Weißenburg dazu veranlaßt, Maria als Angehörige des Adels darzustellen.5 Schließlich spielte David im Mittelalter als Herrscherleitbild eine große Rolle.6 Bei der Beschreibung der Verkündigung heißt es bei Otfrid denn auch ausdrücklich, der Engel Gabriel komme Zi édiles fróuun,
thie fórdoron bi bárne
sélbun sancta Máriun,
warun chúminga alle. (1,5, 7-8)
[zu der edlen Frau, zu Maria der geheiligten. Alle ihre Vorfahren waren Könige, von Generation zu Generation.] Deswegen wird auch erzählt, daß der Engel sie in der pálinza, dem adeligen Wohngebäude, antrifft, wo sie den Psalter zu lesen und aus kostbaren Garnen schöne Stoffe herzustellen pflegte, wo sie sich also der normalen Beschäftigung adeliger Damen widmete.7 Ich gehe davon aus, daß man aus solchen Details auf das intendierte Publikum einer Dichtung schließen darf und ich habe denn auch die drei von mir ausgewählten Dichtungen auf solche Indizien hin untersucht. | |
2 Die Heilige Familie in den drei Dichtungen2.1 Konrad von Fussesbrunnen: ‘Die Kindheit Jesu’In der ‘Kindheit Jesu’ Konrads von Fussesbrunnen, eines niederösterreichischen Ministerialen, der sein Werk vor 1210 verfaßt hat,8 wird mit allen Mitteln versucht, die Heilige Familie als Angehörige des Adels darzustellen: er9 bescheidet uns mêre
von der meide hêre,
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wie si zuo dem templô wart gezogen,
dâ chunige unde herzogen
unt ander edele herren
nâhen unde verren
ir tohter bâten lêren,
swaz ze zuhten unt ze êren
unt ze wîbes tugende gezôch. (V. 111-119)
[er berichtet uns weiter von der edlen Jungfrau, wie sie in dem Tempel erzogen wurde, wo Könige und Herzöge und andere adelige Herren von überall her ihre Töchter unterrichten ließen in allem, was höfisches Benehmen, Ansehen und weibliche Qualitäten föderte.] Maria wird also zusammen mit den Töchtern des Hochadels im Tempel erzogen. Darunter wird sich der mittelalterliche Rezipient wohl ein Kloster vorgestellt haben. Joseph hat schon zwei Söhne aus einer früheren Ehe und sagt darüber: die sint beide mîniu chint,
unt weiz wol, daz si edel sint. (V. 163-164)
[die sind beide meine Kinder, und ich bin sicher, daß sie von Adel sind.] Als Maria zu Joseph ins Haus zieht, wird sie von drei Mädchen aus dem Tempel begleitet. Dann erscheint der Engel des Herrn in ihrem Zimmer, wo sie sich, ebenso wie in Otfrids ‘Evangelienbuch’, mit der typischen Aktivität adeliger Damen beschäftigt: unt hêt ir ein werc genomen
von sîden unt von golde,
als si bereiten wolde
einen phelle zuo dem templô. (V. 214-217)
[und sie war damit beschäftigt, aus Seide und Gold ein Gewand für den Tempel herzustellen.] Nachdem der Engel ihn vor Herodes gewarnt hat, nimmt Joseph Frau und Kind unt ander sîn gesinde;
des was niht mêre, als man uns saget,
wan drî chneht unt ein maget. (V. 1328-1330)
[und sein weiteres Personal; das bestand, wie man uns berichtet, aus nur drei Knechten und einer Magd.] Vier Mann Personal gilt somit als sehr wenig. Unterwegs werden sie von einem Räuber überfallen, der aber bald entdeckt daz si arme liute wâren (V. 1611). Viel Besitz haben sie also nicht dabei, aber der Räuber, der erst noch erwägt, Jesus zum eigenchneht (V. 1654) für seinen Sohn zu erziehen oder die ganze Heilige Familie mitsamt ihrem Gesinde zu eigen schalche (V. 1709) zu machen, spürt schließlich doch, daß es sich nicht um gewöhnliche Leute handelt: ez mugen wol edel liute sîn (V. 1759), sagt er zu seiner Frau und bittet sie, sich angemessen für den Empfang zu kleiden. Während des nun folgenden Empfangs bei dem Räuber heißt es, daß die Heilige Familie von Truchseßen und Schenken (V. 1854) bedient wird, während Köche und Küchenpersonal dafür sorgen, daß es ihnen an nichts fehlt. Nur, so fügt der | |
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Erzähler voller Ironie hinzu, mußten der Wirt und seine Frau all diese Ämter persönlich versehen, da sie nicht über Personal verfügen konnten. Damit ordnet er den Räuber einer niedrigeren sozialen Schicht zu. Bei der zweiten Einkehr beim Räuber begrüßt dieser, der inzwischen durch das heilkräftige Badewasser Jesu reich geworden ist, die Heilige Familie folgendermaßen: er sprach: ‘herre unt liebiu frouwe mîn
unt du vil saeligez chint
unt alle die mit iu hie sint,
nu sît ir got willechomen (V. 2334-2337)
[...]
unt gebietet uber mînen lîp.
darzuo chint unde wîp,
die suln iu wesen undertân.
daz wir nu guot unt êre hân,
iuwer eigenchneht wit iuwer diu,
des enjehe wir nieman wan iu. (V. 2341-2346)
[er sagte: ‘Lieber Herr und liebe Herrin und du, gesegnetes Kind, und ihr alle, die zusammen mit euch hier sind, seid alle willkommen ... und verfügt über mich. Obendrein sollen meine Frau und mein Kind euch untertan sein. Daß wir, euer Leibeigener und euere Dienstmagd, jetzt Besitz und Ansehen haben, das verdanken wir nur euch.’] Es ist deutlich, daß der Autor die ganze Geschichte in Adelskreisen situiert hat. Sprache, etwa die Anredepronomina, und Verhaltensweisen sind die der höfischritterlichen Gesellschaftsschicht. Die in den apokryphen Evangelien genannten Begleiter der heiligen Familie, etwa die Söhne Josephs oder die geheilte Aussätzige,10 werden zu Dienern und Knechten. Auch an vielen Einzelheiten ist die Anpassung an höfische Sitten erkennbar. Als Beispiele seien hier nur die Darstellung des Festmahls im Hause des guten Schächers genannt, wo die Speisen aus silbernem und goldenem Geschirr serviert und die Sitze nach franzeiser sit bereitet werden, sowie die Begrüßung in altfranzösischer Sprache sire, dex vo comdiu [Herr, Gott möge euch behüten], die im Gegensatz zu den vielen lateinischen Zitaten nicht ins Deutsche übersetzt wird.11 Man fragt sich, wie der Autor die Tatsache, daß Joseph aufgrund der Überlieferung Zimmermann war und also Handarbeit verrichtete, für sein Publikum akzeptabel macht. Das war tatsächlich ein Problem, wie aus folgendem Passus hervorgeht. Als die Heilige Familie nach Nazareth zurückgekehrt war, und Joseph wieder an die Arbeit mußte, heißt es nämlich: Ze sînem werche er dô greif.
sîniu wâfen er dô sleif,
wan er chunde snitzen.
mit sô reinen witzen
warp er sînen genist,
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durch daz man an den buochen list,
als uns Dâvît fur leit,
swer sîner hande arbeit
ezze, daz der vil saelic s^i. (V. 2543-2551)
[Er ging an die Arbeit. Er schliff seine Waffen, denn er konnte gut Holz bearbeiten. In so vernünftiger Weise verdiente er sich seinen Lebensunterhalt, denn in der Heiligen Schrift liest man, wie David uns erklärt: selig ist, wer ißt, was er mit der Arbeit seiner Hände erworben hat.] Joseph greift also zu seinem Messer, was mit einem Hinweis auf den 128. Psalm legitimiert wird. Der Erzähler zitiert anschließend noch den heiligen Benedikt, um jeden Zweifel, der aufkommen könnte, zu unterdrücken. Das Messer wird übrigens als Waffe bezeichnet. Dann geht Joseph an die Arbeit: einem chnehte rief er dar.
er sprach: ‘nu nim vil rehte war
unt merche, waz ich dir sage.
ziuch mir daz abe mit der sage,
tuo dem sus unt disem sô!’ (V. 2575-2579)
[er rief einen Knecht zu sich. Er sagte: ‘Jetzt paß' mal auf und merke dir, was ich dir sage. Säge dieses da ab, jenes so und jenes so!’] Mit anderen Worten: Josephs ‘Handarbeit’ besteht aus dem Erteilen eines Auftrags. Er ist also gar kein Zimmermann, sondern eher der Leiter eines Unternehmens. Daß der Knecht dann die Bretter zu kurz sägt, ist bei den summarischen Anweisungen, die Joseph ihm gegeben hatte, kein Wunder. | |
2.2 Konrad von Heimesfurt: ‘Diu Urstende’Man könnte die Verritterlichung des Lebens Jesu bei Konrad von Fussesbrunnen natürlich darauf zurückführen, daß der Dichter nachweislich einem niederösterreichischen edelfreien Geschlecht angehörte und daß er die Geschichte eben für ein Publikum von Standesgenossen bearbeitet habe. Deswegen wird als zweiter Text eine Dichtung untersucht, deren Verfasser sich, wenn auch in einem früheren Werk, ausdrücklich als armer phaffe Chuonrat (‘Hinvare’, V. 20) bezeichnet hat: ‘Diu Urstende’ Konrads von Heimesfurt. Der Dichter, der wohl einem Ministerialengeschlecht entstammt und im Dienst des Bischofs von Eichstätt stand, hat sein Werk ebenfalls im ersten Jahrzehnt des dreizehnten Jahrhunderts gedichtet.12 In der ‘Urstende’, einer Bearbeitung des Nikodemus-Evangeliums,13 also einer ausführlichen Darstellung des Prozesses Christi sowie der Ereignisse nach seiner Auferstehung, sind die Hinweise auf adelige Normen und Werte bzw. auf höfische Verhaltensweisen weniger häufig als in der ‘Kindheit Jesu’. Dennoch finden sich auch hier Stellen, die als Indiz für ein intendiertes höfisches Publikum interpretiert werden können. Der Erzähler spricht sein Publikum zunächst einmal an als Reiniu und liebiu gotes chint (V. 69), eine Anrede, mit der im Mittelalter norma- | |
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lerweise Nonnen angesprochen wurden.14 Auffälliger sind Kleinigkeiten, wie etwa die Unterschiede zwischen der Quelle und dem deutschen Text in der Klagerede der Juden vor Pilatus. Sowohl in der Quelle wie in de ‘Urstende’ lautet der erste Punkt der Anklage, daß Jesus aus Hurerei geboren sei: Primum quod ex fornicatione nasceris [Erstens, weil du aus Hurerei geboren bist] (II, 3) bzw. er ist von huore geborn (V. 400). Der dritte Punkt der Anklage im Nikodemus-Evangelium lautet, daß Jesu Eltern nach Ägypten geflohen seien propter quod non haberent fiduciam in populo [weil sie dem Volke nicht trauten]; in der ‘Urstende’ lautet der dritte Punkt jedoch, daß Jesus nicht standesgemäßer Herkunft sei: em quam von guoter arte nie (V. 407), eine in der höfischen Gesellschaft auf der Hand liegende Schlußfolgerung, wenn man davon ausgeht, daß Joseph nicht der Vater war. Dann war Jesus eben ein Bastard. Merkwürdig ist auch die Argumentation der Wächter am Grabe Christi. Nachdem Jesus auferstanden ist, erscheinen erst armiu wîp (V. 927) und anschließend zwêne man (V. 932), die weder mit einem Schwert noch mit einem Stock bewaffnet sind. Auf die Frage, warum die Wächter sie nicht gefangengenommen haben, antworten diese: ‘wir gedâhten, und taete wir ieman iht
der âne wer gienge,
daz manz uns vervienge
für übel und niht ze guote.’ (V. 942-945)
[‘wir glaubten, daß man es uns übelnehmen würde, wenn wir einem, der ohne Waffen kommt, etwas zuleide täten.’] Hier sprechen offensichtlich höfische Ritter, die es für unstatthaft halten, sich mit Gewalt eines unbewaffneten und somit wehrlosen Gegners zu bemächtigen.15 In der ‘Urstende’ werden die wichtigsten Personen immer wieder als Adelige dargestellt. So übersetzt Konrad von Heimesfurt zum Beispiel Nichodemus autem quidam uir Iudaicus [und Nikodemus, ein gewisser jüdischer Mann] (V, 1) mit der fürste Nychodêmus (V. 1404), von dem es außerdem noch heißt: Uf stuont der tugenthafte man,
zuht und edel schein dar an. (V. 1381-1382)
[Der vortreffliche Mann stand auf, höfische Erziehung und Adel sah man ihm an.] Die Söhne Symêons, Leoncius und Karînus,16 die ein schriftliches Zeugnis von Christi Auferstehung und Höllenfahrt ablegen, werden in der ‘Urstende’ von den Juden empfangen sô man werde geste sol (V. 1572). Und der Erzähler fährt fort: Nû die herren sint gesezzen,
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d^ane wart nihtes vergezzen:
swie man fürsten êret,
des wart an sie gechêret
sô si aller meiste mahten. (V. 1581-1585)
[Als die Herren sich gesetzt hatten, wurde nichts unterlassen: wie man Fürsten nur ehren kann, das alles wurde ihnen gegenüber nach Möglichkeit getan.] In ‘Unser vrouwen hinvart’ wendet sich der Erzähler mit folgendem Exkurs unmittelbar an sein Publikum: Nü wizzet wol daz ein man
der rîch ist und bedenchen chan
gotes êre und dâ mite
der werlde prîs, und den site
als ez danne under den liuten stât
ze rehte haltet unde lât,
der ist gote und der werlde wert. (V. 981-987)
[Nun sollt ihr wissen, daß ein mächtiger Mann, der Gottes Ehre und das Lob der Welt nicht aus den Augen verliert, und der sich so verhält, wie es in der Gesellschaft üblich ist, Gott und der Welt lieb ist.] Es scheint, als ob alle wesentlichen Elemente des sogenannten ritterlichen Tugendsystems17 hier beisammen sind. Solche Exkurse rücken die geistlichen Dichtungen Konrads von Heimesfurt, ebenso wie die ‘Kindheit Jesu’ Konrads von Fussesbrunnen, in die unmittelbare Nähe der weltlichen, höfischen Versromane. Diese Nähe wird noch unterstrichen durch die vielen Stellen, an denen der Einfluß Hartmanns von Aue, und bei Konrad von Heimesfurt auch Gottfrieds und Wolframs, nachweisbar ist.18 Auch die Tatsache, daß sowohl Konrad von Fussesbrunnen wie Konrad von Heimesfurt in den Dichterkatalogen des Rudolf von Ems erwähnt werden zwischen Dichtern wie Gottfried von Straßburg, Wirnt von Grafenberg und Konrad Fleck weist darauf hin, daß sie in höfischen Kreisen rezipiert wurden.19 | |
2.3 ‘Vanden levene ons heren’20Das mittelniederländische Gedicht ‘Vanden levene ons heren’ erzählt in 4937 Versen das Leben Jesu, wobei allerdings der Kindheit Jesu nur sechzig Verse gewidmet sind. Auch die Lehrtätigkeit, die doch einen großen Teil der Evangelien füllt, umfaßt nicht mehr als sechshundert Verse. Die Woche vom Einzug in Jerusalem bis zur Kreuzigung, die Kreuzigung selbst und Auferstehung und Abstieg zur Hölle stehen mit etwa 1500 bzw. zweimal etwa 1000 Versen im Mittelpunkt | |
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des Interesses. Es handelt sich also wie bei der ‘Urstende’ eher um eine Dichtung über die Erlösungstat als über das Leben Jesu. Der Dichter bezeichnet sich im Prolog ebenso wie Konrad von Heimesfurt als Kleriker: Die dit pensde tierst ende screef dit werc,
- God gheve hem raste - hi was clerc. (V. 115-116)
[Derjenige, der dies zuerst dichtete und dieses Werk schrieb - Gott gebe ihm die ewige Ruhe -, war ein Kleriker.] Im übrigen könnte man aus dem Prolog den Eindruck bekommen, daß der Dichter sich - ebenso wie seine beiden deutschen Kollegen - an ein höfisches Publikum wendet, denn er nennt eine Anzahl von Gestalten aus der weltlichen Literatur, die sicherlich in höfischen Kreisen bekannt und beliebt waren: Roeland, Olivier, Alexandre, Ogier, Walewaine und Pyramus (V. 9-15). Der Abschnitt schließt aber mit den Worten: Dire sen an leyt, eest wijf eest man,
Hi es sot, daer es niet vroetheit an (V. 21-22)
[Wer diesen Dingen Aufmerksamkeit widmet, ob Mann oder Frau, der ist ein Tor, es ist nichts Vernünftiges daran.] Mit anderen Worten: der Prolog wendet sich anscheinend an ein Publikum, das mit weltlicher Dichtung vertraut ist. Dieses Publikum soll aber davon überzeugt werden, daß es sich statt dessen besser mit Dichtungen anderer Art befassen könne. Die weltliche Dichtung beruhe auf Phantasie (boerde, V. 24), während seine Dichtung Wahrheit verspreche (V. 28-29), und er fährt fort: Al lesen papen in latine
Sine [= Christi] gheborte ende de passie sine,
Nochtan leec volc ne can niet wale
Verstaen wel die latijnsche tale.
Bedie willicse in dietsche leeren
Den volke, dat wel sal eeren
Onsen here van hemelrike. (V. 39-45)
[Wenn auch Geistliche in lateinischer Sprache von seiner Geburt und seiner Passion lesen, so kann doch das Laienvolk das Lateinische nicht gut verstehen. Deswegen werde ich das Volk, das unseren Herrn des Himmelreiches gewiß verehren wird, in niederländischer Sprache darüber unterrichten.] Damit ist eine Gruppe als intendiertes Publikum von vornherein ausgeschlossen: die lateinkundige Geistlichkeit. Untersucht man nun wieder, in welchen Kreisen der Gesellschaft die Geschichte situiert ist und in welcher Weise die Heilige Familie dargestellt wird, dann läßt sich folgendes beobachten. Der Engel Gabriel wird von Gott zur joncfrouwe Maria (V. 155) gesandt. Das klingt noch nach Adel. Im übrigen aber wird über Marias Lebensumstände nichts ausgesagt. Ausführlich wird sodann das Problem der Schwangerschaft der unverheirateten Maria diskutiert: | |
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Hare lichame wies, het wert sware;
Si was vervaert, het wert mare;
Want wijf die kint sonder man drecht,
Dat mense steende was ghesecht (V. 245-248)
[Ihr Körper wuchs, er wurde schwer; sie hatte Angst, daß es bekannt würde; denn eine unverheiratete Frau, die ein Kind erwartet, die steinigte man, war gesagt worden.21 ] Joseph erwägt dann, Maria im Stich zu lassen, doch der Engel erscheint auch ihm und klärt ihn auf. Die Schilderung der Geburt im Stall wird abgeschlossen mit folgender Bemerkung: Merct hier grote oetmoedichede,
Die onse here in siere gheborten dede,
Dat hi den herden openbaerde wel
Sine gheboerte eer yemen el. (V. 430-433).
[Hieran könnt ihr die große Bescheidenheit erkennnen, die unser Herr bei seiner Geburt an den Tag legte, nämlich daß er den Hirten seine Geburt früher als jemand anderem offenbarte.] Im Gegensatz zu der Stelle bei Lukas (2,24) und im apokryphen Pseudo-Matthäus (cap. xv), wo nur vom Opfer zweier Tauben die Rede ist, wird in ‘Vanden levene ons heren’ die Stelle aus dem 3. Buch Mose (12,8) hinzugezogen, wo ein Schaf als Opfertier für Reiche genannt wird, für Arme dagegen zwei Turteltauben oder junge Tauben als Opfer vorgesehen sind: Dat was recht; dat was die wet,
In dien tide den lande gheset:
Daer een rike vrouwe ter kerken ginc,
Dat sie offerde scaep of also goede dinc.
Dat was gheset den armen alle:
Twee tortelduven sonder galle. (V. 442-447)
[Das war im Einklang mit dem Recht, das war das Gesetz, das damals in dem Lande galt: Wenn eine reiche Dame zur Kirche ging, daß sie dann ein Schaf opferte oder etwas von gleichem Wert. Für alle Armen war bestimmt worden: zwei Turteltauben ohne Galle.] Im folgenden heißt es dann explizit: Maria was oetmoedich, niet rike,
Sie dede na darme een ghelike (V. 450-451)
[Maria war unansehnlich, nicht reich, sie handelte in der Weise der Armen.] Und Joseph überlegt sich, nachdem der Engel des Herrn ihn vor Herodes gewarnt hat: ‘Du en heefs ander ors dan dijn eselinne,
Nem tkint ende sire moeder met.’
Hise beide op deselinne set.
Joseph tote Mariën seide:
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‘Wine hebben breidel no gereyde,
Doen wi dbeste dat wi moghen,
Want hen ne mach niet wel doghen.’ (V. 673-679)
[‘Du hast kein anderes Pferd als deine Eselin, nimm das Kind und auch seine Mutter.’ Er setzte sie beide auf die Eselin. Joseph sprach zu Maria: ‘Wir haben weder Zaum noch Sattel, wir wollen tun, was wir können, denn es (= das Kind) kann noch nicht viel ertragen.’] Der Besitz des einen Esels, auf dem man abwechselnd reitet, wird immer wieder hervorgehoben.22 Man vergleiche dies mit der Darstellung bei Konrad von Fussesbrunnen: im Gegensatz zur ‘Kindheit Jesu’ sind hier arme Leute unterwegs. Nach ihrer Heimkehr führen sie in Nazareth ein einfaches Leben: Sie haetten rijcheit, roem ende prijs,
Die elken verret tparadijs. (V. 856-857)
[Sie verabscheuten Reichtum, Ruhm und Lob, die jeden Menschen vom Paradies entfernen.] Maria erzieht ihr Kind mit großer Sorgfalt, seine Kleider waren immer weiß (V. 868), sein Badewasser nie zu heiß oder zu kalt (V. 870). Als Kind spielte Jesus mit anderen Kindern, aber Einzelheiten teilt der Dichter im Gegensatz zu Konrad von Fussesbrunnen nicht mit. Etwas ausführlicher wird berichtet, daß der Knabe seinen Eltern immer behilflich war: Hí dede dat hem siin moeder hiet:
Hi ginc om borne ende nam den pot
Deten to makene, dit dede god;
Hi diende sire moeder sonder daengier,
Hi haelde hout, hi maecte tvier,
Hi ne was overmoedich no fier. (V. 889-894)
[Er tat alles, was seine Mutter ihn hieß: er holte Wasser und nahm den Topf, um das Essen zu bereiten, das tat Gott; er diente seiner Mutter, ohne zu widersprechen. Er holte Holz, machte Feuer, war weder hochmütig noch stolz.] Nach der Aufzählung weiterer guter Eigenschaften heißt es dann, daß andere Kinder hieraus lernen könnten, wie man Vater und Mutter zu ehren habe. Der Abschnitt schließt mit den Versen: Hi was oemoedich, hi en was niet bout;
Hi hadde onwert selver ende gout;
Binnen hem en was gene overdaet,
Maer mate, trouwe ende raet. (V. 908-911)
[Er war bescheiden, er war nicht frech; er verabscheute Silber and Gold; in ihm war nicht Übermut, sondern Mäßigkeit, Treue und Hilfsbereitschaft.] Merkwürdig ist dann allerdings folgende Mitteilung: Hi conste fransoeys, dietsch ende latijn,
Ende alle talen die nu sijn. (V. 912-913)
[Er konnte Französisch, Niederländisch und Latein sowie alle Sprachen, die es heutzutage gibt.] | |
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Die Bescheidenheit Jesu und seine Abneigung gegen Pracht und Prahl wird noch einmal hervorgehoben bei der Beschreibung des Esels, auf dem er in Jerusalem einziehen will. Hine wilde stegereep, breidel no spore,
No ghereide, no voerboech vore;
Hy ne wilde hernasch no diere gesmide,
Peller, sindael, goutbort no side.
Hi hadde onwert roem ende prijs,
Hi was vader van paradijs. (V. 1540-1545)
[Er wollte weder Steigbügel noch Zaum noch Sporen, weder Sattel noch Brustriemen; er wollte weder Harnisch noch kostbare Rüstung, weder kostbares Gewand noch Taft, weder Goldstickerei noch Seide. Er verabscheute Ruhm und Preis, er war der Vater des Paradieses.] Die überzeugendste Charakterisierung der Heiligen Familie als einfache Leute stammt aus dem Munde eines Gegners. Als Jesus lehrend und Wunder verrichtend im Lande umherzog, versammelten sich die Schriftgelehrten zu einer Beratung. Da sagte einer der Anwesenden über Jesus: Hets min dan niet, ic seg u wie hi es:
Dese Joseph was sijn vader,
Een arm cranc man, si horden algader;
Hi hadden van Mariën sinen wive,
Sie geneerden hem beide met armen live (V. 1105-1109)
[Er ist weniger als nichts, ich sage euch, wer er ist: Joseph war sein Vater, ein armer, unansehnlicher Mann, sie gehörten zusammen; er hatte ihn von Maria, seiner Frau, sie verdienten beide kärglich ihren Lebensunterhalt.] Diese an sich negative Aussage über die Heilige Familie muß als vom Dichter positiv gemeint interpretiert werden, da sie einem Gegner in den Mund gelegt worden ist. Die fortwährende Betonung der Anspruchslosigkeit und Schlichtheit der Heiligen Familie ist völlig im Einklang mit der entschiedenen Ablehnung von Luxus und mit der scharfen Kritik an dem als ungerecht empfundenen Gegensatz zwischen Armen und Reichen im Prolog: Selen wy dragen bont ende grau,
Ende ons sieren als enen pau,
Ende die arme sal siin in selc bedwanc,
Dat hi ne sal hebben spel no sanc?
Sal die rike hebben al dat hi geert,
Ende cume weten wat hem deert,
Ende darme kaytijf ende verract,
Dorstich, hongherich ende nact?
Dat een weent ende dander lacht,
Deen weeldich ende dander onmacht,
Dat es onwet, dat ne sit niet wel,
Dat es een onghedeelt spel (V. 97-108)
[Sollen wir grauen Pelz tragen und uns schmücken wie ein Pfau, und soll der Arme in solcher Bedrängnis sein, daß er weder Freude noch Gesang kennt? Soll der Reiche alles haben, was er | |
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begehrt, und kaum wissen, was ihm fehlt, und soll der arme, elende Schlucker durstig, hungrig und nackt sein? Daß der eine weint und der andere lacht, der eine in Überfluß lebt und der andere Mangel hat, das ist gegen das Gesetz, das ist nicht gut, das ist eine Ungerechtigkeit.] An den seltenen Stellen, wo Jesus oder Maria als König oder Königin bezeichnet werden, heißt es fast immer van hemelrike.23 Bemerkenswert ist schließlich noch, daß Barabbas als Adeliger bezeichnet wird: Hi es hoge man ende wel geboren (V. 2609), ‘Er ist ein ansehnlicher Mann von hoher Geburt.’ Deswegen wird er von Pilatus freigelassen. | |
3 SchlußbetrachtungAus der Darstellung der sozialen Verhältnisse, wie sie für die Heilige Familie angenommen werden, aber auch aus den beim Publikum vorausgesetzten Sprachund Literaturkenntnissen kann auf das intendierte Publikum geschlossen werden. Das müßten im Fall der beiden deutschen Dichtungen höfisch-ritterliche Kreise sein, wozu man auch eine Gemeinschaft adeliger Stiftsdamen zu rechnen hat.24 Ein solcher Rezipientenkreis ist im Fall der niederländischen Dichtung geradezu auszuschließen. Hier wäre man in erster Linie geneigt, an die niederen Schichten in den Städten Flanderns oder Brabants zu denken. Berücksichtigt man aber auch den Prolog, sowie die an anderen Stellen vorausgesetzten Kenntnisse von hösfischritterlichen Verhaltensweisen und Gebrauchgegenständen, so käme eher ein Publikum in Betracht, das zwar aus den höheren Schichten der Bevölkerung stammt, sich aber freiwillig für ein Leben in Armut entschieden hat. In dem Fall bestünde das intendierte Publikum dieser Dichtung aus den Insassen eines flämischen oder brabantischen Klosters oder einer religiösen Laiengemeinschaft, die das Lateinische zwar einigermaßen, aber ungenügend beherrscht. Dazu stimmt die Beobachtung, daß in den deutschen Dichtungen lateinische Zitate immer unmittelbar übersetzt werden, das französische Zitat aber nicht. In der ‘Kindheit Jesu’ heißt es, zum Beispiel, bei Christi Geburt: ‘glôria in excelsis dêô!’
daz bediutet sich alsô:
‘lop in dem himel gote!’ (V. 959-961)
[‘Gloria in excelsis Deo!’ Das bedeutet: ‘Lob sei Gott im Himmel!’] In ‘Vanden levene ons heren’ steht das gleiche lateinische Zitat, jedoch ohne Übersetzung (V. 413). Hier werden lateinische Zitate überhaupt fast nie übersetzt. Es handelt sich allerdings durchweg um Zitate aus Gebeten oder aus der Liturgie. Eine Ausnahme ist folgende Stelle Die witte duve sanc een stemme aldus:
‘Hic est meus dilectus filius’.
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Dat meint: ‘Hier es die sone die ic minne’ (V. 968-970)
[Die weiße Taube sang mit einer Stimme wie folgt: ‘Hic est meus dilectus filius.’ Das heißt: ‘Hier ist der Sohn, den ich liebe.’] Hier hält auch der Dichter von ‘Vanden levene ons heren’ eine Übersetzung für angebracht. Die deutschen Dichter trauen ihrem Publikum also gar keine Lateinkenntnisse zu, der niederländische Dichter, der sich ja schon im Prolog mit dem Problem der volkssprachigen Wiedergabe des Lebens Jesu auseinandergesetzt hatte (V. 39-45), übersetzt nur die schwierigeren Stellen.25 Zum Schluß sei noch auf einige Abschnitte in ‘Vanden levene ons heren’ hingewiesen, die meine Hypothese zu bestätigen scheinen. Während einer Predigt fordert Jesus die Zuhörer auf: Vleiet die papen, eert die clerke,
Vroech ende spade sijt inde kerke;
Ghehoert uwen pape eer yemen el,
Doet dat hi seit, soe doedi wel (V. 1220-1223)
[Erweist den Geistlichen Ehre, ehrt die Kleriker, seid früh und spät in der Kirche; gehorsamt euerem Priester mehr als jemand anderem; tut, was er sagt, dann handelt ihr richtig.] Das ist sicherlich keine Aufforderung, mit der man sich an ein ritterlich-höfisches Publikum wendet. An einer anderen Stelle fordert der Erzähler in einem Exkurs sein Publikum auf, ständig zu beten: Wy souden peisen dach ende nacht
Hem te dienene na onse macht,
Dicke bidden ende waken,
Hoe wi dat mochten geraken,
Dat wi quamen te sinen rike;
Daer omme souden wi pensen manlike. (V. 2821-2826)
[Wir sollten Tag und Nacht darüber nachdenken, wie wir ihm nach Vermögen dienen können; oft beten und uns darum kümmern, wie wir das erreichen können, daß wir in sein Reich kommen; das sollten wir alle bedenken.] Bei der Darstellung des Jüngsten Gerichts wird dann zu denen, die zur Rechten Gottes stehen, gesagt: Mine kinder gebenedide,
Gi horet gherne al u getide,
Den armen stondi dicke bi,
Dat gi hen daet, dat daeddi mi;
Gi waert oetmoedich ende gemate,
Gi hadt trouwe ende caritate (4864-4869)
[Meine gesegneten Kinder, ihr wohnt bereitwillig den Stundengebeten bei, den Armen habt ihr oft geholfen, was ihr denen tatet, das habt ihr mir getan; ihr wart demütig und mäßig, ihr wart treu und voller Nächstenliebe.] | |
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Die beiden letzten Zitate scheinen wiederum auf eine fromme Laiengemeinschaft als intendiertes Publikum hinzuweisen. Demgegenüber läßit eine Bemerkung im Epilog die Möglichkeit offen, daß der Autor auch an den Gebrauch in der Privatsphäre gedacht hat: Soe waer vrouwe in arbeite geet,
Ende sie desen boec int huus weet,
Heefsijs geloeve, sonder waen,
Si sal saechte hebben saen (V. 4906-4909)
[Wo immer eine Frau niederkommt und dieses Buch im Hause hat, glaubt sie wirklich fest daran, so wird es ihr bald gut genen.] In diesem Fall könnte es sich allerdings um einen späteren Zusatz handeln.26 ‘Vanden levene ons heren’ unterscheidet sich also grundsätzlich von den beiden deutschen Dichtungen, die das gleiche Thema behandeln und auf den gleichen Quellen beruhen, indem es im Gegensatz zu diesen die höfisch-ritterlichen Ideale nicht nur negiert, sondern sie geradezu ablehnt und im Gegensatz dazu ein Leben in Armut propagiert. Das mag eine Folge der Tatsache sein, daß die christliche Armutsbewegung besonders früh in den Städten im Nordwesten Europas in Erscheinung trat und daß in Flandern die Urbanisierung um 1200 schon weit fortgeschritten war.27 Daß es sich bei den religiösen Laiengemeinschaften kaum um Angehörige des städtischen Proletariats, sondern eher um vermögende Leute handelte, die ihren Reichtum freiwillig unter den Armen verteilt und sich für ein Leben in Armut entschieden hatten, hat Herbert Grundmann überzeugend nachgewiesen.28 In diesen Kreisen haben wir das intendierte Publikum von ‘Vanden levene ons heren’ denn auch zu suchen. | |
SamenvattingVergelijkt men het Middelnederlandse gedicht ‘Vanden levene ons heren’ met twee vrijwel gelijktijdig ontstane Middelhoogduitse berijmde bewerkingen van het leven van Jezus, dan blijken de verschillen tussen de Duitse en de Nederlandse teksten opvallend groot te zijn. Een aspect, de sociale status van de Heilige Familie, wordt in dit artikel nader onderzocht. Daarbij komt aan het licht dat de verteller in de Middelnederlandse tekst voortdurend de eenvoudige komaf van de Heilige Familie onderstreept, terwijl in de Duitse teksten juist hun adellijke afkomst (als nazaten van koning David) wordt beklemtoond. Hieruit zou men kunnen afleiden dat deze teksten in de beide taalgebieden niet voor een vergelijkbaar | |
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publiek bestemd waren, hetgeen waarschijnlijk een gevolg was van de verschillen in economische en sociale ontwikkeling tussen de Nederlanden en Zuid-Duitsland in de dertiende eeuw.
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