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ein niederländischer roman in deutschland:
‘ein faun mit kalten hörnchen’ von hugo raes
jürgen hillner
Geb. 1937 te Tdj. Morawa, Sumatra (Indonesië). Studeerde geologie en mineralogie aan de universiteiten van Gieszen, Kiel en Frankfurt/M. Vertaler van literair en wetenschappelijk werk uit het Nederlands. Vertalingen: Ein Faun nit kalten Hörnchen van Hugo Raes Joseph Melzer Verlag - Darmstadt, 1968), Horror Vacui van J. Hamelink, Die Tränen der Akazien van W.F. Hermans, Eine Rose von Fleisch van J. Wolkers, Der Tag am Strand en Der Fisch van H. Heeresma, e.a. Stelde de bloemlezing Niederländer erzählen (1969) samen.
Adres: Koselstrasse 17, Frankfurt/Main.
Die wichtigste Publikation der modernen niederländischen Literatur war für das Jahr 1966 der Roman ‘Een faun mit kille horentjes’ van Hugo Raes (geb. 1929), Belgier, dessen gesamtes Werk in Amsterdam verlegt ist.
Ein halbes Jahr später lag eine Teilübersetzung vor, die mit ihrem Umfang von 100 Seiten eine gründliche Prüfung durch deutsche Verlage ermöglichte.
Eine Anbietung bei Verlagen wie Suhrkamp/Frankfurt, Klaus Wagenbach/Berlin, Carl Hanser/München blieben, oft nach monatelangem Warten auf die Entschiedung, erfolglos.
Mitte 1967 lag die deutsche Teilübersetzung dem Joseph Metzer Verlag/Darmstadt vor, dessen literarisches Ziel, auch einer unbequem politischen und kompromißlos erotischen Avantgarde zum Durchbruch zu verhelfen, in Deutschland erhebliches Aufsehen erregte. In wenigen Tagen hatte sich der Verlag für den angebotenen Titel und für den Autor entschieden.
Im Frühjahr 1967 erschien ‘Ein Faun mit kalten Hörnchen’ von Hugo Raes auf dem deutschen Buchmarkt, was für den Autor der erste Schritt in ein wichtiges Ausland und die erste Konfrontation mit den Maßstäben einer großen Literatur bedeutete.
Der ununterbrochene Strom vieler Publikationen in Deutschland macht es fraglich, ob der Titel eines bislang unbekannten Autors überhaupt besprochen wird. ‘Ein Faun mit kalten Hörnchen’ erregte schon bald Aufmerksamkeit: am 7.Mai besprach der Westdeutsche Rundfunk den Roman, in einer Rezension, die einer Lobrede auf Hugo Raes nahezu gleichkam. Sie war eine der wenigen Besprechungen moderner niederländischer Literatur, die versuchte, den Titel in seiner Stellung zur gesamten niederländischen Literatur zu sehen. Werte, die infrage gestellt werden, darum geht es nach Ansicht des Rezensenten Jürgen Manthey. ‘Bei Raes wird es mehr als deutlich: Er unterläuft das ganze emotionale Auf und Ab des bürgerlichen Bewußtseins mit einem burschikos zur Schau getragenen non-commitment. Es ist ein subjektives, ironisches, ja, oft komisches Nichtbeteiligtssein-Wollen an einer Aufregung, die künstlich, neurotisch und nicht ernst zu nehmen ist.’ Dieser Rundfunkbesprechung war eine Lesung mehrerer Kapitel aus dem Roman im Hessischen Rundfunk (16.2.1968) vorausgegangen.
Unter der Überschrift ‘Faun schon fast tot, Prosatexte wie Filme - | |
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Ein Provo sieht die Gesellschaft’, stellt auch Kay Wuttke-Franz in seiner Rezension vom 8. Juni 1968 im Kölner Stadt-Anzeiger die Infragestellung von Werten durch Hugo Raes in die Mitte seiner Wertung. Wie wenige Kulturnachrichten aus den Niederlanden Deutschland nur erreichen, beweist diese Besprechung, die den Autor einem Provo gleichstellt und auf ein weiteres Aufzeigen von wichtigen Hintergründen zu Raes' Unruhe verzichtet. Die Besprechung
Bladzijde handschrift uit de vertaling van Jürgen Hillner.
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stellt überdies fest: ‘das Denk- und Wahrnehmungsschema von Autor und Romanfigur ist weitgehend identisch. Raes verzichtet auf weiten Strecken auf Distanz: die Situation des Autors des Nouveau roman.’
Als erster niederländischer Titel wurde ‘Ein Faun mit kalten Hörnchen’ am 8. Juli 1968 in Der Spiegel besprochen: ‘Praller Traum’, Mal redet ein Ich, mal erzählt ein Er, und für die gröberen Unappetitlichkeiten kommt zwischendurch der Titel-Faun zu Wort. Er petzt dem Helden, wie der Direktor nachts am Kleiderschrank das Bein zur Notdurft hebt, und wie eine junge Lehrerin sich mittels mechanischem Spielzeugmännchen erquickt.
Im Gestrüpp wuchernder Arabesken und praller Pubertätsträume steckt eine karge Story vom Pädagogen Michael, dem meistens mies zumute ist - auf gut Klappentext-Deutsch also ein Roman über ‘die Aufekehnung... gegen die desintegrierenden Kräfte einer gesellschaftlichen Politik, die auf die Erhaltung jedes Mittelmaßes gerichtet ist’.
Gesellschaftsmuffel Michael betrebt die Auflehnung dezent: etwas Libertinage mit Kollegenfrauen, etwas verbale Krafthuberei.
Der Flame Hugo Raes, 39, der wie sein Held an einer Mittelschule unterrichtet, verlängert Melzers Galerie der jungen Niederländer (Cremer, Lopez, Tuynman) um ein forsches Fabulier-Talent und das Erotik-Repertoire der Porno-Provos um einige Tête-à-Tätlichkeiten neuen Stils.’
Diese Besprechung hat Aufsehen erregt. Bei dem Joseph Melzer Verlag ging von der Staatsanwaltschaft in Frankfurt Anzeigen wegen Pornografie und Jugendbefährdung ein, die jedoch bald niedergeschlagen wurden. In diese Zeit fällt auch ein deutliches Ansteigen des für ein Debüt erfreulichen Verkaufs, womit die Spiegel-Rezension ihre offensichtliche Absicht, das Publikum für den Titel zu interessieren, erfüllte.
Die Fachzeitschrift ‘Bücherei und Bildung’ entscheidet mit ihren Rezensionen oft über Aufnahme oder Nichtaufnahme von Titeln in die deutschen Bibliotheken. Am 7.8.1968 veröffentlichte diese Zeitschrift von Helmut Rösner folgende Besprechung: ‘Mit diesem Roman tritt die nederländische Literatur aus ihrem Mauerblümchendasein heraus. - Der ironische Titel trifft den hoffnungslosen Pessimismus dieses Zustandsberichtes: die zeitlichen Grenzen umfassen ein Schuljahr, die Personen sind Lehrkräfte an der Schule einer mittleren holländischen Stadt. Was in diesem einen Schuljahr geschieht - seien es banale Alltagsereignisse, sei es Unwiderrufbares -, ist auswechselbar, bedeutungslos. Schicksale leuchten auf und verschwinden wieder. Durchschnittsmenschen leben ein Durchschnittsleben, bis sie einen Durchschnittstod sterben.
Als Kronzeugen, Chronisten, Kommentators bedient sich der Erzähler einer phantastischen Figur, des Fauns: ein anachronistischer, heidnischer, augeklärter Gott, der die Menschen bei ihrem erbärmlichen Tun beobachtet, der registriert, kommentiert, vergleicht. Er lacht über Katastrophen, er belustigt sich über persönliche Schicksale, er kennt alle Statistiken über Todesursachen,
Hugo Raes
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Ehebrüche, die Verschmutzung der Erde, die Kapazität des menschlichen Verstandes. Der “kalte”, illusionslose Gott, der nur in der Fiktion, dort aber unausrottbar existiert, wird auch den Weltenuntergang überleben. Wie ein mittelalterlicher Hexenmeister oder auch wie ein profanierter Chor der antiken Tragödie gibt er seine respektlosen Erklärungen zu der ernsten, bösen Satire ab und verschwindet dann plötzlich mit häßlichem, hämischen Lachen ins Unsichtbare.
Mit packender sprachlicher und geistiger Konzentration und mit stilistischer Könnerschaft gelingt es Hugo Raes, den herben Mollton seines Romans durchzuhalten, die enzyklopädische Perspektive, aus der er die einzelnen Vorgänge betrachtet, mit eindringlicher, plastischer Beschreibung zu verbinden. Die psychologische Treffsicherheit seiner Beobachtung wirkt paradigmatisch. - Der anspruchsvolle, aber für Jugendliche nicht geeignete Roman sollte in vielen Büchereien vorhanden sein.’
Die wichtigste Besprechung jedoch hat Hugo Raes wieder Jürgen Manthey zu verdanken, der am 11.10.1968 ‘Ein Faun mit kalten Hörnchen’ in Die Zeit besprach: ‘Zynismus als Maske und Waffe - Der Niederländer Hugo Raes - Es ist noch nicht lange her, da hätten Verlage jeden zweiten Tag einen neuen Hemingway entdecken sollen. Es ist an der Zeit, festzustellen, daß die Suggestivkraft dieses Vorbildes nachgelassen hat: seiner Minimal-Syntax, seines Heroismus der Wortkargheit, seiner so spezifischen Exhibition des Exhibitionsverzichts.
Neuerdings werden in den Büchern der Jüngeren und Jüngsten wieder auffällig viele Worte gemacht um das ‘Ende von etwas’, es ist wie eine neuentdeckte Gabe, die Gabe, das Ganze über 300, 400 Seiten nicht abreißen zu lassen. Sprache ist auf einmal kein Reduktionsprozess mehr, vielmehr der Gesellschaft gemaß: eine rhetorische Dokumentation des Überflusses.
Insofern ist ein Buch des niederländischen Autors Hugo Raes: Ein Faun mit kalten Hörnchen, aus dem Niederländischen von Jürgen Hillner; Joseph Melzer Verlag, Darmstadt, literarisch auf der Höhe des Augenblicks. Raes ist 1929 in Antwerpen geboren, als Autor aber (wie die meisten jüngeren Belgier, sofern sie nicht Französisch schrieben) in Holland verlegt und zu Ansehen gekommen. In Holland gibt es die aufgeschlossenen Verleger und Leser, überhaupt eine progressivere Öffentlichkeit für alles Literarische. Es publizieren in diesem Sprachraum mittlerweile Autoren, die von den uneingeschränkten Möglichkeiten zur Extroversion einen radikalen Gebrauch machen (Gerard Kornelis van het Reve zum Beispiel); auch solche, die auf eine stärker imaginative Literatur aus sind (wie etwa Jacques Hamelink). Raes ist Vertreter einer neuen Spontanität, eines burschikos zur Schau getragenen moralischen noncommitment, das sich dem emotionalen Auf und Ab des bürgerlichen Krisenbewußtseins mit vorsätzlicher Komik, mit provokativer Anti-Ernsthaftigkeit entzieht.
Das umfangreiche Buch - das siebente von Hugo Raes, einschließlich seiner Lyrikbände - ist aufgelöst in lauter Einzelpartikel, die aber doch mit einer Art Heftfaden lose verknüpft sind. Es gibt Figuren,
Omslag Nederlandse uitgave.
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die immer wieder auftreten, am häufigsten ein gewisser Michael Houtdrager, der wie der Autor Lehrer ist.
In diesem Genre-Bilderbuch des modernen Alltags gibt es keine Moral der einzelnen Geschichte, keine Höhepunkte, keine Aktschlüsse. Man kann das Ganze, wenn man will, als drastischen, vergnüglichen, farbenfrohen Breughelismus betrachten; der Autor hat sein Sensorium darauf abgerichtet, möglichst viele Pointen und Sinnenreize zu bieten. Er arbeitet dabei mit allen Mitteln, realistischen und surrealistischen, erotischen und sozial-kritischen. Das Buch erweckt auch in dieser Hinsicht den Eindruck von Fülle.
Und doch ist solcher Überfluß, im Einklang mit der Umwelt, in der auch dieser Autor schreibt, eine Sinnestäuschung. Michael Houtdrager ist von dem mittelmäßigen Dasein, dem er dauernd entrinnen möchte, bereits bis zur Fatalität geprägt. Seine Bewegungen sind Ausdruck einer auswegslos neurotischen Unruhe, nicht aber die Unabwendbarkeit imponierender Vitalität. Früher, in den typischen englischen Romanen, die die Gattung ja begründeten, erhob sich der Held bekanntlich moralisch über seine von Konventionen planierte Umwelt. Hier nun überhebt dieser sich durch die größere Unmoral oder durch den Mangel an Verpflichtung an irgendein Moralgesetz überhaupt. Es ist die Art von negatievem Helden, von dem Henry Miller in kaum einem seiner Bücher loskommt. Daß der Lehrer Houtdrager seinen Freund und Kollegen mit dessen Frau betrügt, kopiert bis ins Detail ein Modell, das sich bei Miller so schon vorgeprägt findet: als Anschauungsmuster für einen demonstrativen Zynismus, der einem in die Enge getriebenen einzelnen als Maske und Waffe dient. Unter der Fülle der Reize ist das Individuum weiter dabei, zu verkümmern.
Unter anderen läßt dies Raes' neue Beweglichkeit im Sprachlichen zum Vorschein kommen. Die (im Deutschen auffallend gut wiedergegebene) Sprachoberfläche ist grellbunt und, wie man im Englischen sagt, nur hauttief.’
Inzwischen hatten Verlag und Übersetzer begonnen, die großen deutschen Taschenbuchverlage für eine Lizenzausgabe mit hoher Auflage zu interessieren. Diese wäre für Hugo Raes' weite Verbreitung und Bekanntheit in Deutschland ein unerläßlicher Schritt gewesen. Verlage wie Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) / München, Fischer Bücherei / Frankfurt oder Rowohlt / Hamburg lehnten eine solche Ausgabe ab. Sie waren der Meinung, daß die vorliegende Buchausgabe nicht das Optimum aus dem literarischen Können von Hugo Raes mache, während nur kleine Retuschen und Umstellungen viele Mängel in Detail und Gesamtkonzeption ausmerzen würden. Nachträglich könnten Eingriffe solcher Art nicht mehr vorgenommen werden.
Auch die Oberösterreichischen Nachrichten zeigten sich in einer Rezension am 4.5.1968 von Hans Pühringer wenig begeistert: ‘Der zottelige Faun erzählt Zoten - Hugo Raes' Roman ‘Ein Faun mit kalten Hörnchen’ ist keine große literarische Offenbarung -
Man weiß nicht, was soll es bedeuten: dies könnte der Refrain beim ersten Lesenr von Hugo Raes' ‘Ein Faun mit kalten Hörnchen’ sein. 1st es Pornographie, ist es ein Lächerlichmachen über den Buchkonsumenten?
Omslag Duitse uitgave.
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Man weiß eben nicht, was es bedeuten soll. Oder doch?
Jedenfalls: Hauptfigur ist der Lehrer Michael Houtdrager, seines Zeichens noch Junggeselle, der mit dem Leben im allgemeinen und im speziellen überhaupt nicht zufrieden ist. Sein Beruf ödet ihn an, die Liebe ödet ihn an, die Politik ödet ihn an, bis den Leser das Buch anödet. Aber nur vom Thematischen her gesehen.
Betrachtet man die Sprache Hugo Raes', beziehungsweise die originelle und hoffentlich werktreue Übersetzung Jürgen Hillners, so findet man einen Autor, der sich einen neuen Stil zurechtgelegt hat. Er verwendet lapidarste Satzeinheiten, benützt keine hochtrabenden schmückenden Beiwörter; die Ausnahme bestätigt nur die Regel: sein Wortschatz auf dem Gebiet des Sexuellen ist schier unerschöpflich, er geht konform mit der Phantasie, die die Grenzen eines Buches deutlich überschreitet; da kann keine Entschuldigung helfen.
Bladzijde handschrift uit Een faun... van Hugo Raes.
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Der Faun, der dem negativen Werk den Titel gab, ist ein Beobachter, eine verbindende Figur zwischen den Dutzenden heftig aufeinanderprallenden menschlichen Wesen, die um ein Stückchen Lebensfreiheit kämpfen, er ist der Berichterstatter, der Märchenerzähler, oder - wie Houtdrager sagt - ‘mein Herold’. Er ist ein kaltgewordener Waldgott, der mit einer bitteren Ironie und mit beißendem Sarkasmus über den Dingen steht, er ist der boshafte Satiriker menschlicher und erotischer Zustände. Er zieht das Resümee einzelner Kapitel, er macht immer wieder deutlich, daß man im Leben eine dicke Haut und ein gepanzertes Herz haben muß, um überhaupt eine Überlebenschance zu bekommen.
Doch wir schweifen vom Stilistischen ab. Raes bedient sich aller möglichen Formen, seine Gedanken an den Mann zu bringen. Reine Erzählung, dann wieder Briefform, dann Dialog. Etwas schwierig ist das Lesen, da - gewollt oder ungewollt - auf die gewohnte Beistrichsetzung teilweise verzichtet wurde.
Schließen wir den Kompromisz, und einigen wir uns darauf, dasz das Buch eine Niete ist; dann braucht man sich den Anstrengungen des Lesens überhaupt nicht zu unterziehen.’
‘Ein Faun mit kalten Hörnchen’ von Hugo Raes hatte den Vorteil im Rahmen seines deutschen Verlages ein umstrittener Roman zu bleiben, dessen literarische Kraft jedoch überzeugte. In einer Besprechung der Anthologie ‘Niederländer erzählen’ in der Fischer Bücherei, in der eine Erzählung von Hugo Raes aufgenommen wurde, gehört dieser Autor zusammen mit Paul van Ostaijen, Ivo Michiels, Jacques Hamelink und Willem Frederik Hermans zu denen, ‘die auch bei uns in Deutschland in den letzten Jahren mit Romanen und Erzählungen bekanntgeworden sind und die demonstriert haben, daß der niederländischen Literatur der Anschlusz an die moderne europaïsche nicht nur seit langem gelungen ist, sondern sie auch innerhalb der jüngsten Entwicklungen wichtige Akzente setzt’.
Dies Bewußtsein und der günstige Verkauf haben den Verleger Joseph Melzer bewogen, noch im Herbst dieses Jahres einen zweiten Titel von Hugo Raes, ‘De lotgevallen’, herauszugeben. |
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