| |
| |
| |
Nachruf auf Freud und die Psycho-Analyse von Prof. Dr. Otto Forst de Battaglia.
In unsrer raschlebigen, von tragischer Hast gepeitschten Zeit entsinnen sich nur Wenige der Modegrössen von Gestern, denen eine von ihrer eigenen Gültigkeit durchdrungene Kritik Dauer und Wert zugesprochen hatte. Wer denkt noch jener eigenartigen schwülen Luft des wiener Fin de Siècle, in der sich die ‘Hektischen Schlanken’ als narzisshaft sich selbst bewundernte, und von épatierten Bourgeois vielbewunderte Helden bewegten, damals da im Café Griensteidl jene Literatur begründet, gemacht und beweihräuchert wurde, die später von Karl Kraus unter Anführungszeichen gesetzt zum Gegenstand der treffendsten dramatischen Satire erwählt worden ist?
Jene Umwelt, Umhalbwelt, Traumumwelt, deren letzte Zeugen irgendwo im Exil verkümmern, wenn sie nicht ein Versteck in einem Winkel des untergegangenen Oesterreich gesucht haben, ihre Bewohner: Wiener, die nach einer nicht minder treffenden Definition Karl Kraus', Kreuzungen zwischen Wiener und Jude waren, und zum dritten eine Epoche, die zwischen Neuromantik (mit Gansschmalz) und Naturalismus (mit sozialem Oel) hin- und herschwankte, jener Raum un jene Zeit, in der sich die Gestalten Arthur Schnitzlers und Peter Altenbergs bewegten: sie haben ein Erzeugnis hervorgebracht, das den Weg über den Erdkreis angetreten hat, die Psycho-Analyse Siegmund Freuds.
Die Zusammenhänge zwischen Lehre, die ein Art von totaler Weltanschauung geworden ist, und dem Milieu, dem sie entstammt, sie werden von den Ortsunkundigen missachtet, sie sind den Meisten unbekannt und sie sollen dennoch dargetan werden. Denn wenn jemals das Wort des französischen Positivisten Anwendung
| |
| |
verdient, Tugend und Laster seien Produkte, gleich dem Zucker und dem Vitriol, dann stimmt dies für die Psycho-Analyse, für das folgerichtigste und törichteste System, das Tugend und Laster zu gleichwertigen und gleich wertlosen Phänomenen stempelte. Es ist die Summe aus den Erfahrungen, die man in der, grossenteils jüdischen, bürgerlichen Oberschicht Oesterreichs im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts schöpfen konnte, vermehrt um das Bildungserlebnis im Bereich des französischen Materialismus.
Versetzen wir uns in den Kreis, der den jungen Siegmund Freud, Sprossen eines mährischen Ghettos, Schüler der berühmten wiener medizinischen Hochschule, in den Jahren des sieghaften Liberalismus umgab. Die ‘Neue Freie Presse’ gibt den Ton an: man ist freiheitlich, aufgeklärt, jenseits aller Vorurteile, ausser denen der bürgerlichen Wohlanständigkeit, bestaunt aber mit anerkennendem ‘Pfui, wie reizend!’ jede praktische und, noch mehr, jede theoretische Verletzung dieser Wohlanständigkeit, sofern sie nicht gerade das eigene Haus betrifft. Die Moral findet am Gesetz, an der Pflicht zum Alimentenzahlen und am Respekt vor der Tochter aus gutem (das heisst Mitgift gebenden) Haus ihre Grenzen. Jenseits dieser Grenzen sind die ‘süssen Mädeln’, die man in der Stadt liebt und in der Vorstadt heiratet, beziehungsweise gegen Abfindung nach einem sentimentalen Abschiedssouper an einen Mann aus dem Volke verheiratet. Die eine, späte und gerechte, Folge der so betriebenen ‘Freien Liebe’ heisst Adolf Hitlers Rassendoktrin, die im wesentlichen aus der Empörung über die Sitten des fast ganz semitischen Jung-Wien entstanden ist. Die andre Folge haben wir in der Psycho-Analyse.
Die Menschen Schnitzlers und Peter Altenbergs sind wie von einem unreinen Dämon beherrscht. Nichts existiert für sie und in ihnen als die Lust, als der Genuss, als der Trieb, der nach Befriedigung verlangt. Sie selbst aber und das Publikum, an das sich ihre geistigen Väter richten, ist gezwungen, über die nackte Sinnlichkeit einen Schleier, mitunter eine dichte Hülle, zu breiten, bald, um das Verborgene noch lockenden zu machen, bald um es zu verhehlen und es zu verleugnen. Das war ja damals nich nur im alten Oesterreich der Fall. Die polnische Dichterin Gabriela Zapolska schrieb über ‘Dinge, von denen man nicht spricht’ und errang damit, wie mit andern Enthüllungen, Skandalerfolge. In
| |
| |
Frankreich, in Italien, in ganz Deutschland zehrte der Naturalismus von der Neugierde, die hinter die Kulissen der bürgerlichen Konvenienz zu blicken begehrte. Die Kleidung der Achtziger- und der Neunzigerjahre, die naiv-lüsternen Regungen der darstellenden und der bildenden Kunst wirken zusammen, uns den die Zeit durchdringenden Zug nach Verhüllung und Enthüllung zu bestätigen. Nirgends aber war der Gegensatz zwischen einer, nur durch äussere Rücksichten gebotenen, an keinerlei transzendente Vorstellungen geknüpfte Sitte und einer vom ungehemmten Trieb entfesselten Sittenlosigkeit so gross, als in jenem Wien, nach der Gründerzeit, als man noch, verachtend und überheblich, höhnisch und empört auf die Reaktion der Bodenständigen, der Wurzelteppen hinabschaute, die sich in Lueger und Vogelsang, in Schönerer und K.H. Wolff ankündete.
Hier hat Siegmund Freud als Nervenarzt seine Beobachtungen angestellt. An überfeinerten, haltlosen, der Nahrungssorgen enthobenen und dennoch am Golde hangenden Leuten, die mit ängstlischer Scheu um ihre teure Gesundheit bangten, denen sich das Dasein im Nervenkitzel erschöpfte, die vor sich und andern Komödie spielten: ‘wir spielen alle, wer es weiss ist klug’. Diese Treibhauswesen trugen über ihrem wohlbehüteten Körper Unterwäsche, Kleider und Ueberkleider, die sorgsam manche Missgestalt verdeckten; sie versteckten auch ihre seelischen Defekte unter einer mehrfachen Schicht von Schutzhülsen. Durch diese Schicht durchzustossen, das hat sich Freud zunächst angelegen sein lassen. Wenn ein, eingebildeter oder wirklicher, Kranker zu ihm geführt wurde, der von der Norm abweichend, die werte Familie in Angst versetzte, dann forschte der befragte Nervenarzt danach, was sich hinter den Absonderlichkeiten als letzte Ursache zeige.
Warum kann Fräulein Mary, Daisy oder Anny gewisse Speisen nicht essen, warum verträgt Alfred, Moriz oder Siegfried Dies und Jenes nicht, was jedem Karl oder Pepi süsse Gewohnheit des Daseins ist? Warum ist dieser Knabe ein Ekel und warum stört jenes Mädchen Papa den sauer verdienten Schlaf, der ihm zwischen Börse, Kaffeehaus und Oper übrigbleibt? Wir wollen Sie nicht auf die Folter spannen. Patienten haben einen Komplex. Sie haben irgendwann, in vergangener Vorzeit peinliche trauma-
| |
| |
tische Eindrücke empfangen, die in der Erinnerung haften geblieben sind, die aber, aus Gründen der bürgerlichen Wohlanständigkeit zurückgeschoben, verdrängt worden sind, ins Unbewusste. Dort hausen sie, die losen Schelme von Qualgedanken, und zeugen, wie die böse Tat, Böses, nur Böses. Beziehungsweise, was man so nennt. Denn, wie der Nestroysche Holofernes von Hebbel, weiss ja der Gläubige der Psycho-Analyse, dass es keine Sünde und nichts Böses gibt. Es gibt nur die Natur, die schamlos ist, beziehungsweise, das Schamlose ist Natur.
Die Kultur nun überlagert das Natürliche, sie wird den Menschen aufgepappt, so wie man den Pferden ein Gebiss ins Maul zwingt; man wehrt sich, doch umsonst. Die Kultur sitzt fest, die Natur muss sich ducken, sie wird zum Sklaven. Des Sklaven Waffe aber ist Verrat. So rächt sich die Natur. Wenn sie nicht offen auftreten kann, wenn Sie, das ist der Trieb, das ist... und hier halten wir beim Kern der Freudschen Lehre... die Geschlechtlichkeit, sich nicht frei austoben kann, dann listet sie sich durch, als verirrter Tridb: als Perversion, oder als verheuchelter Trieb, den man erst unter tausend Verkleidungen erkennen muss. Der Trieb, die Libido steht am Anfang jedes menschlichen Hervorbringens. Sie ist nicht nur schuld daran, dass die liebenswürdigen Personen und Persönchen, die Dr. Freuds Sprechstunde aufsuchten, absonderlich sind, dass sie der schönsten Gansbrust keinen Geschmack abgewinnen und die besten Partien ausschlagen, dass sie mit einem Worte meschugge sind, sondern auch daran, dass wir, nämlich die Menschheit, Kunst und Literatur, Philosophie und Religion haben.
Wieso? Weil der nichtbefriedigte Trieb irgendwo Befriedigung erstrebt. Wenn nicht durch sein natürliches Ziel, den Akt, so durch einen Ersatz, durch Kompensation. Himmlische tritt an den Platz der irdische Liebe. Spekulationen über den Sinn alles Seins, also Philosophie, ersetzen fleischlichere Gedanken und Erinnerungen. Die Libido wird abreagiert, abgelenkt auf andre Gebiete. Was dem Einen, Ursprünglichen der Akt, das ist dem Andern, Komplizierten der Akt eines Dramas, das sind ihm jederlei Dichtung, Musik, irgendwelches künstlerisches Schaffen. Die Deutung Freuds führt zu einem allwaltenden Gesetz, das wir etwa dem von der Erhaltung der Kraft und von der Umwandlung der
| |
| |
Energie vergleichen dürfen: nichts von unsern Erinnerungen geht verloren. Alles an ihnen ist ursprünglich Geschlechtslust, diese aber wandelt sich, sublimiert sich zu den verschiedenartigsten Vorstellungen und Leistungen, die man in unsrer kulturell verbildeten, den Mut zur Natur vergessenden Gesellschaft als höhere Bekundungen des Seelenlebens betrachtet.
So gelangt Siegmund Freud, von einem Mikrokosmos gottferner, triebverhafteter Menschen, ausgehend, dazu den Makrokosmos nach deren Ebenbild zu formen. Ein furchtbares Pandämonium eröffnet sich vor uns, in dem nichts rein, nichts heilig, nichts überstofflich ist. Jeder seelische Wert wird auf den gemeinsamen grob-physichen Nenner reduziert. Mystische Ekstase ist verkappte Sexuallust; künstlerisches Schaffen ist Ersatz für den Akt; Dichtung ist abreagierte Brunst. Und der Sexus drängt sich in die innigsten, in die erhabensten Beziehungen ein, in das Verhältnis der Eltern zum Kinde, in die Anfänge jeder Gemeinschaft.
Es ist, es wäre, schrecklich, brächte uns nicht ein Schritt vom Grauenhaft-Grossartigen zum Lächerlichen. So wie die übersteigerte Tragik des romantischen Schauderdramas unvermittelt in Komik wider Willen mündet, so löst sich, bei näherem Zusehen, dieses Weltbild der Vertiertheit in ein Zerrbild auf, das in uns schliesslich Heiterkeit weckt. Freud hat Sinn für Witz, freilich nicht für den kosmischen Humor. Er hat sich in seinem Hauptwerk, der Einführung in die Psycho-Analyse, - die ihrerseits eine nachträgliche Reaktion seiner vielberühmten Vorlesungen darstellt - als ausgezeichneter Anekdotenerzähler bewährt, der mit den gefeiertsten Meistern der jüdischen Schnurre, des ‘Lozzele’, oder, wenn man auch das französische Zwischenstadium einbegreiffen will, der ‘Histoire marseillaise’ in Wettbewerb treten kann. Es finden sich in diesem Lehrbuch, dat zugleich Koran, Dogmatik und Kurzgeschichtensammlung ist, sehr lustige Schwänke, wie der von den aufgeweckten theaterfreudigen Kindern (man lese den Rest an Ort und Stelle nach). Am vergnüglichsten aber ist es doch dann, wenn der Verkünder des psycho-analystischen Evangeliums ernst sein, und ernst genommen werden will.
Zum Beispiel beim Deuten der Träume. Vom Phänomen der Verdrängung her ist Freud an die Wesensschau des Traumes geschritten. In jenem Reich, an dessen Pforten das Bewusstsein
| |
| |
erlischt, sind die Sterblichen von allen Bindungen frei, die ihnen Konvention und Scheu vor deren Ueberwindung aufzwingen. Hier bin ich Tier, vermöchte der Mensch mit einer Abänderung des Dichterwortes aufzurufen, hier kann ichs sein. Alle Laster, alle Schandtaten werden ungesühnt im Traume verübt. Dass dies aber geschieht, dadurch wird die Naturgemässheit der Unmoral, der Amoral bewiesen. Mord, Blutschande und andre Kleinigkeiten, die sich im Traume ereignen, werden beim Wachenden nur von der Gewohnheit an die herrschenden Sittengesetze, wenn nicht von der Angst vor der Strafe verhindert. Im Uebrigen dient der Traum, wie das Wachsein, einzig der Befriedigung der Lust, wobei mitunter die hemmenden Moralbegriffe sich als Gendarmen ins Schlummerreich einschleichen und den Schlafenden zur Umdeutung, also auch da zur Verdrängung, zum Symbol nötigen.
Da nun, bei der modernsten Form der Traumdeutung, setzt beim unbefangenen Zuhörer oder Leser die Heiterkeit ein. Kein Traumbüchel kann so kühn im Auslegen der im Schlaf gekommenen Vorstellungen sein, wie die Psycho-Analyse. Einer träumt von der wiener Rotunde, jenem Rundbau, der kurz vor dem Schusschnig Oesterreich von den Flammen der Zeit zerstört wurde. Den unvoreingenommenen Beschauer erinnerte die selige Rotunde an eine Guglhupfform oder an eine Mausefalle. Freud aber weiss es besser: für ihn ist der Traum von der Rotunde einer vom Phallus. Oder dies: Ein andrer träumt, er müsse sich einschränken. Nichts ist klarer, als dass er dabei an einem Schrank dachte; dieser aber ist... Sinnbild des Gegenstücks zur Rotunde.
So kühne Deutung, die an die Texterklärung der Talmudisten gemahnt, kehrt bei Freud später wieder, wenn er vom Einzelmenschen, seinen Komplexen, Abreaktionen, Verdrängungen und Kompensationen, zur Gemeinschaft übergeht. In der bekannten Arbeit über ‘Totem und Tabu’, darin die Anfänge der staatlichstammhaften Organisation auf den Kult gefürchteter verdrängter Vorstellungen zurückgeleitet werden, ist etwa das mosaische Verbot des Schweinefleisches dadurch erklärt, dass die sympathischen Grunztiere einstens das Totemtier des Judenvolkes gewesen seien. Von Dem, so sei erläuternd hinzugesetzt, die Kinder Israels abzustammen meinten, gleichwie manche nordamerikansche Indianer nicht vom Bären essen, weil sie sich für Nachkommen des Grizzly, ihres Totems, ansehen.
| |
| |
Den greulichsten unfreiwilligen Scherz hat sich Freud mit seinem, weltkundigen, Oedipus-Komplex erlaubt. Auch da bildet der Mythos den Anfang, das Ende aber ist lästerlich. Es tut dar, wohin die von keiner Schranke beengten Tüfteleien eines Mannes führen können, der in den Menschen nichts als Versuchskaninchen für seine Theorien sieht, und der kein andres Gesetz anerkennt, als die Erfahrung seines, ach so sehr durch Zeit, Ort und Abkunft bedingten, Geistes. Freud behauptete der Knabe sei schon in den ersten Lebensjahren auf den Vater eifersuchtig, er wünsche ihn als Gatten der Mutter zu ersetzen. Deshalb sei Hass gegen den Vater das natürliche Gefühl - das man sonst als Zwist der Generationen schamhaft verkleide -; und dieser Hass gipfle im Wunsch, den Vater zu töten, um seine Nachfolge anzutreten.
Wir haben so die Tiefen erreicht, bis zu denen, die Psycho-Analyse das Menschliche hinabzustossen sich vermessen hat. Letzte Konsequenz, Ausgang und Methode dieser Wissenschaft, die zur alles umfassenden Weltanschauung geworden ist, werden künftigen Jahrhunderten nur als Zeichen unsrer argen Zeit, als erschreckende oder lächerliche Verirrungen erscheinen. Dennoch wird man an der Psycho-Analyse nicht vorbei können.
Für den Historiker ist sie als eine der stets wiederkehrenden Inkarnationen bemerkenswert, die der kulturleugnende Anarchismus angenommen hat. Von hochbegabten Individuen immer aufs Neue zu Systemen abgewandelt, die zur Anwendung in der Gemeinschaft drängen, ist dieser Anarchismus, der sich auf die Natur gegen die Kultur beruft, gewissermassen Rache der Ausgestossenen, der Niedrigen, der Kastenlosen gegen die in traditionelle Umwelt Hineingebornen. Der Intelligenzprolet Jean Jacques Rousseau und ein neuerer Feind der überlieferten Gesellschaft, der es ausnahmsweise zu deren Herrn gebracht hat, sind in dieser Hinsicht nicht anders zu nehmen, als die Juden Karl Marx und Siegmund Freud. Sie haben zerstört, aus innerem Muss, ihrem Trieb und dem Rachewillen der Namenlosen verhaftet, die in ihnen aufleben. So zieht sich eine Kette von Rousseau, der die Natur als das wahre Gute über die böse Kultur triumphieren lassen wollte, bis zu Freud, der die Natur jenseits von Gut und Böse sah, bis zu Freuds Rassenfeinden, die, wie einer ihrer Dichter meint, den Revolver entsichern, wenn sie nur das Wort Kultur
| |
| |
hören. Auf der andern Seite aber ist, von Vergil bis zu uns her, Kultur als Wille zur Ueberwindung des Dämonischen, Tierhaften, als Bezähmung der Natur, ist jene Kultur, die uns Theodor Haecker in seinem wunderbaren Buch über den ‘Vater des Abendlandes’ definiert hat.
Ohne Zweifel stecken in Freuds grotesk überspitzten Thesen manche Wahrheiten. Viele davon sind, wenn man sie der sensationellen Form beraubt, Wahrheiten, die Gemeinplätzen ähneln. Hat nicht das ganze Prinzip, hinter den schützenden Vorstellungen und hinter der vorgeschobenen Konvention die Natur zu suchen, in einem einzigen lateinischen Sprichwort lapidare Prägung gefunden: ‘naturam expellas furca, tarnen usque recurret’. ‘Verjage die Natur mit der Gabel, sie wird dennoch wieder zum Vorschein kommen’? Ist die Ansicht von der Macht, die das einmal gehabte peinliche ‘verwundende’ traumatische Erlebnis über die Seele des von ihm Betroffenen gewinnt, nicht eine moderne Umdeutung der Lehre von der Besessenheit? (Ueber die man eben erst bei P. Le Tonquédec Ausgezeichnetes zu lesen erhielt). Ja, der gesamte freudsche Pansexualismus hat im Altertum bei manchen epikuräischen oder zynischen Philosophen Vorläufer gehabt.
Neu und befruchtend für die Psychologie waren, abgesehen von der Einbeziehung des Traumes in den Blickkreis der Wissenschaft, jener Begriff von der Kompensation, der in das von uns erwähnte Gesetz der Erhaltung des Vorstellungsstoffes mundet, dann die Lehre von der Libido, von der Begierde als der Quelle alles Vollbringens der Einzelnen und der Gesamtheiten.
Gerade hier aber ist man, von Freud ausgehend, über ihn weit hinausgelangt. Jung und der verstorbene Begründer der Individual-psychologie Adler sind, wie so viele Andre, die als rechtgläubige Psycho-Analytiker begonnen hatten, zu heftigen Widersachern des Meisters geworden. Sie haben die Libido in ihrer Vielfalt erschaut, die hundertfach über das Geschlechtliche hinausreicht, die in Macht und überhaupt in Hingabe an inneres Muss menschliche und nicht nur animalische Ziele anstrebt. Diese Gelehrten haben, den engen Kreis einer Verfallswelt und einer Verfallszeit verlassend, die Forschungen Freuds auf weiterem Feld fortgeführt. Es erwies sich, dass dann nicht mehr der Widerspruch klafft,
| |
| |
der zwischen der orthodoxen Psycho-Analyse und jeder spiritualistischen Weltanschauung besteht.
Zünftige Vorgeschichtforscher, Ethnologen, Religionshistoriker und Soziologen haben die dilettantenhaften Behauptungen über den Ursprung von Glaube, Gesellschaft und Gesittung zerpflückt. Im Licht exakter Untersuchungen hält von den Freudschen Theorien aus diesen Gebieten ebensoviel, oder ebensowenig der Prüfung stand wie bei den artverwandten materialistischen Phantasien der sogenannten ‘französische Schule’ eines Lévy-Bruhl, Durkheim, Salomon Reinach und Mauss. So wird Siegmund Freud in die Geistesgeschichte als einer jener Anreger und Zertrümmerer übergehn, die, in allen Einzelheiten rasch überholt, als Gesamtpersönlichkeit Belang haben. Zeuge wider seine Umwelt, Wegbereiter einer Umwertung aller überlieferten Werte, ist er zuletzt von einer der gewaltigen Wogen der materialistischen Strömung hinweggefegt worden, der er mitgeholfen hat die Bahn zu bereiten. In einer seiner Schriften prahlte er, mit der Hölle kokettierend, ‘flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo’. Die Dämonen haben die Herausforderung vernommen. Der Zauberlehrling hat die Geister, die er mit heraufbeschworen hat, nicht zu bannen vermocht. Sie haben den Geist an dessen unbarmherzigen Feind gerächt.
Fern von der Heimat, fern von dem Bezirk, aus dem er und sein Werk zu erklären sind, ist der österreichische Apostel der Rückkehr zur Natur in London dreiundachtzigjährig gestorben. Geschätzt und, ohne recht verstanden zu sein, von der westlichen, zumal der angelsächsischen Welt, über Gebühr bewundert. Allgekannt wie sonst nur die wiener Operette. Zwischen dem ‘Walzertraum’ aber und den Wunschträumen der Psycho-Analyse gibt es mehr geheimnisvolle Verknüpfungen, als sich die Schulweisheit ahnen liesse. Zusammen haben sie den Siegeszug um den Erdball angetreten, aus einer Ungeistigkeit sind sie erwachsen. Zusammen müssen sie, die den Sinnen und den Herdenmenschen schmeichelnden Kompensationen (oder sollen wir sagen: Fehlleistungen?) dem Echten weichen: die Operette der wahren Tonkunst, der Oper; die Psycho-Analyse der wahren Wissenschaft, der Psychologie.
|
|